Freiheit des Ausdrucks

Lieber XXX,

es lässt mir einfach keine Ruhe; ich kann Deine Kritik, so wie Du sie formulierst, nur schwer gelten lassen. Sie entspricht vermutlich jedoch Deinem kritischen Wesen und wird Ausdruck Deiner Persönlichkeit sein. Sofern meine Annahmen bis hierher nicht bereits Deinen Widerstand finden, reklamieren ich ebenso Recht für MEINEN persönlichen Ausdruck. Und sei es, dass er Dein Gefallen nicht finden wird. 

Allerdings hat sich in unserem bisherigen Austausch ein fundamentaler Unterschied allzu rasch etabliert. Ich versuche, mich Dir offen und ehrlich mitzuteilen. Und halte mich mit Zuschreibungen nach Möglichkeit zurück. Wie schwer uns das doch fällt! Trotzdem will ich mich nach Kräften bemühen, die Wirkung Deiner Kritik auf mein Gefühlsleben in Worte zu kleiden und Dir zugänglich zu machen. In der Sache fordere ich Kritik, über Art und Weise, wie ich argumentieren, welche Stilmittel - und seien sie aus der Sicht des Adressaten noch so hanebüchen - sich mir bewusst und instinktiv aufdrängen, bitte ich um freundschaftliches Entgegenkommen. 

Dieses respektierende Miteinander im Zulassen und Gewähren emotionalen Ausdrucks und streitbare "Schärfe" in der Sache, lustvoll eingefärbt und "eingespeichelt" durch bewusstes "Offenhalten" von Deutungsmöglichkeiten, hier vermessen, dort angemessen in ironisierende Überzeichnung verpackt; dies fände mein Gefallen entspricht meinem Naturell. Früher wie heute. Könnte sich in dieser Haltung der Grund für deine deutlich vorgebracht "Ansage" finden? Was meinst Du? 

Dadurch, dass ich mich selbst kantianisch in kritischer Distanz zur allgemeinen Vernunft bewege, mache ich es leicht damit, mich in die Abhängigkeit von Beziehungen zu begeben. Und finde selbst in diesen großen Freiraum. Vor allem für enge Beziehungen, aus deren Gelingen ich gewissermaßen mein persönliches Lebenselexier "ziehe". Vermute dahinter guten Gewissens ruhig puren Narzissmus. Ganz wie heute fast alles unter Narzissmusverdacht gerät, was anders zu denken, anders zu fühlen, gar anders zu sein und für sich zu beanspruchen wagt, anders als eine diffus rational postulierte Vernunft dies täte. Ergo narzisstischen, also unethischen Antrieben folgt. Ein heute von allen Seiten gerne formulierter Generalverdacht. Statt dem Wohl durch Zerstreuung mittels Drogen und Widerstand der Popkultur weiter zu huldigen, droht plötzlich wieder Biedermann. Links wie rechts. 

Die Kehrseite von Abhängigkeiten folgt auf dem Fuße. Durch mein Bedürfnis, mich in Beziehung zu setzen, in Kontakt zu treten, ergeben sich jede Menge Schwierigkeiten. Denn zum Beziehungsaufbau sind  Angebote vonnöten. Beziehungen formieren sich nicht von selbst. Sie sind wie Pflanzen, die Wasser, Sonne und Nährstoffe benötigen. 

Es waren einst ideale Bedingungen auf der Erde, damit sich Pflanzen auf ihr etablieren konnten. Kohlendioxid bis zum Abwinken, Wasser, Salze, Sonne. Die Pflanzen gediehen prächtig. Und produzieren en passant Sauerstoff. Dieser wäre im Prinzip in Mengen überflüssig, wäre er nicht je nach Lesart zufällig, oder eben genialer Zwischenschritt einer planvollen Schöpfung. 

Nun dauerte es ein paar Jährchen, bis die Pflanzen plötzlich Beinchen bekamen, weil sie klug waren und im Sauerstoff und Grünzeug ideale Bedingungen zur weiteren Entfaltung fanden. Bis zum Affen war es nicht mehr weit. Der Zufall experimentierte und so wurden auch wir Beide :) 

Warum diese Allegorie? Nun, Pflanzen sind dem Hunger von Tieren ausgeliefert. Flüchten können sie nicht. Gift erzeugen sehr wohl, aber Tiere sind, wie alles Leben an sich, innovativ und daher, wie gesagt, irgendwie auch klug. Aristoteles bringt es in seiner Abhandlung de anima auf den Punkt. Alles Leben ist beseelt. Ist inspiriert, wie's beliebt, vom Zufall oder durch Geist. 

So auch wir. Wer ist Pflanze, wer Tier? Sowohl als auch; klaro! Die Allegorie wäre Binsenwarheit, wäre sie nicht alles andere als trivial. Das Beispiel aus der Natur zeigt das Wohl hinter Abhängigkeit durch Beziehung. Allein der Mensch kann sich ihr entziehen. Zur Pflanze werden, wobei sie, will sie fortbestehen, ob als Individuum oder als Gattung, in Abhängigkeit verbleibt. Von Schwester Sonne, Mutter Regen, Vater Kohlendioxid. 

Was ich damit sagen will: Ich suche nach aufrechten Beziehungen, weil nur diese Beziehungen Leben vermitteln können. Geist allein reicht nicht. Ohne Leib ist Geist nichts. Zumindest nicht von dieser Welt.

Es gibt Menschen, die - warum auch immer, vermag ich nicht zu sagen, weil mir wesensfremd - Beziehungen kontrollieren müssen. Nicht aus ihnen heraus leben müssen, wie sie glauben. Das heißt selbstverständlich nicht, dass man sich jeder Beziehung, die sich selbst weiterhin sucht (wie ich), wohlgewogen andienen muss. Vor allem Liebe wissen diese kontrollierenden Menschen gut für sich zu nutzen. Indem sie diese exakt so zu dosieren wissen, dass Liebe nicht zum Gift wird, sondern ein Elexier bleibt. Die Dosis macht das Gift. 

Aber wie ergeht es Jenem, der Beziehungsangebote macht, aber zurückgewiesen wird. Nu...er leidet. Wird krank, weil sich seiner niemand erbarmt. Der Zufall oder der Herr, unser Gott (macht mich diese Setzung der Häresie verdächtig gegenüber gängigen Wissens?), war aber gnädig mit uns und hat uns eine Myriade von Möglichkeiten für Beziehung geschenkt. Schwester Sonne lässt sich gut am Meer anbeten, Bruder Mammon treibt die Welt vor sich her, wird deshalb zum Abgott, Mutter Erde bleibt gewährend, wird ausgebeutet und erkrankt; Naturschutz zur neuen Religion erhoben. Geschwister Tiere suchen Behaglichkeit und Sicherheit, kaufen Versicherungen und trinken Alkohol und schnupfen Koks, Vater Gesundheit gewinnt an Macht und hat die Herrschaft über diese, seine Familie angetreten. Und wie Väter nun einmal so sind: wollen angebetet werden. 

Erneut. Alles Unsinn, was ich und wie ich schreibe. Man kann mir nicht folgen. Du wirst mich aus meiner Not nicht befreien können, "Ich kann Dir nicht helfen", klingt es mir in meinen Ohren nach. Aber was bleibt? 

Nun, es bleibt der Trost. Dass auch Menschen, die nichts als Unsinn verbreiten, sich selbst in diesem Unsinn sinnlich einrichten können. Davon schreibe ich. Eine Zumutung für vernunftbegabte Menschen. Möglicherweise Menschen wie Dich. 

Nichts für ungut, mein Lieber. Ich bin Tier UND Pflanze. Und Phantast. So bleibt die Welt unter allen Umständen ein herrlich buntes Rätsel. Windhauch eben, wie Kohelet fasziniert wieder und wieder und wieder feststellen wird. 

Man fasst es nicht. Auch Unsinn ist Teil der Schöpfung. Oder rein zufällig :) 


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