Deus sive natura - Versuch einer geistigen Bezugnahme

Denken und Befinden über die Welt setzt zweifellos das Denken über den Ursprung von allem voraus. Und wäre etwas noch nicht in der Welt, wie könnte ich es denken? Bereits mit dieser simplen Fragestellung verliert man sich in den Untiefen philosophisch/theologischen Denkens. Bildet sich Denken ab allein in Philosophischem (durch Freude an der Weisheit) oder geht dieser Freude am Denken nicht ursächlich etwas Geoffenbartes (als Wort Gottes) zuvor, das in Folge theologisch ausgedeutet werden will? Und im Falle, das beides einhergehen sollte; bedingt dann nicht eines das andere? Aber selbst dann: war schon etwas davon in der Welt, bevor es "gedacht", jäh in Worte gesetzt wurde? Ist etwa ein Teller Gegenstand des Seins, bevor er jemals gedacht war? Ist gar das erste gesprochene (gedachte) Wort Beginn von Raum und Zeit? Fragen, nichts als Fragen, deren Beantwortung alles andere als selbstverständlich, alles andere als leicht wäre. Und doch kann es zu einer großen Freude werden, solchen Fragen nachzugehen. Andererseits kann scharfes Denken auch zu einer überaus schweren Last werden. Als eine Last des Zweifels, denn Zweifel ist notwendigerweise unbedingte Voraussetzung von (metaphysischem) Denken. Weil, was ist daran wirklich? In der Physik, in der Metaphysik? Und was an beidem wäre lediglich Produkt flüchtiger Vorstellung? Denken wir die Welt vom Menschen her, an ihn gebunden, oder wollen wir sie aus der hinfällig-ewigen Natur erkennen? Vom Menschen her gedacht, müssen wir uns von der Freude, von Zweifel und Last leiten lassen; welche Seelenregung, welche Bestimmung erlebe ich, suche ich? Welche hat mich seit jeher gesucht? Wie gehe ich ihr nach, was liegt meinem Ich zugrunde? («Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist!» Bachkantate BWV 45)

Wir leben in einer Zeit, die dem das Leben, unser Sein (lassen wir diesen Begriff ohne nähere Bestimmung einmal so stehen!) innerhalb naturwissenschaftlich beweisbaren Gesetze zu erschließen ist. Die Tür zum Raum metaphysischer Erkenntnis, die das Geistesleben in der Vernunft gegründet sah, scheint fest verammelt, weil Raum heute allein in physikalisch-mathematischen Koordinaten definiert ist. Aber müsste sich Sprache, in absolute Freiheit gesetzt, nicht über alle beschränkenden Gesetze erheben? Nein, das kann sie nicht, denn auch sie beruht auf Regeln von Verständnis. Aber hat Sprache nicht seit jeher auch ein utopisch-phantastisches Vermögen, jenseits aller gesetzen Grenzen bisherigen Denkens? Denn «Wir alle leben und schreiben im Hallraum unserer Sehnsucht. (Und) mit Sehnsucht verbinde ich etwas ganz Nahes, ganz Fernes, ganz Anderes, etwas unerreichbar Nahes und Fernes, ein Wort, das die Wörter transzendiert, und die Dimensionen von Raum und Zeit. Das ganz Andere.», wie dies der zeitgenössische deutsche Autor Arnold Stadler einmal formuliert hat.

Allein durch Worte lassen sich also Welten erschaffen. Bleiben wir zwar skeptisch, öffnen aber in gegebener Freiheit die verammelte Tür zur Metaphysik ein wenig und betreten diesen Raum mit sprachlicher Logik eines Ludwig Wittgenstein: »Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit. (oder) Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.«


Im Raum metaphysischer Paradoxie

Einen Brieffreund ließ ich kürzlich teilnehmen an meinen Überlegungen zu (geistigen) Übungen, die ich unternommen hatte, um mit meinem leiblichen (und ebenso geistig inspirierten) Vater in die Versöhnung zu kommen. Erfreulicherweise nahm er meine Gedanken dazu wohlwollend auf, indem er mir zunächst die «unterhaltsamen wie scharfsinnigen Zeilen» dankte, um sie anschließend in eigens formulierten Worten wie folgt zu paraphraseren: «Ja, es braucht viel Kraft und Mut zur Versöhnlichkeit in diesen Zeiten,...(denn) Versöhnung, Vergebung, Nächstenliebe sind ja keine "Erfindungen" der Kirche oder des Christentums, sondern gehören zum Menschen seit prähistorischen Vorzeiten. Nicht alle - auch die Neanderthaler - gingen immer gleich mit der Keule aufeinander zu. (...) Rücksicht gegenüber dem Artgenossen ist uns aber in die Gene geschrieben. Denn lange Zeit und immer wieder in den verschiedenen Gesellschaften gilt: dem Individuum kann es nur gut gehen, wenn es der Familie, der Sippe, dem Stamm, den Nachbarn auch gut geht. Große Teile dessen, was die katholische Kirche mittels Katechismus moralin-säuerlich gefordert hat, ist nichts anderes als schon immer vorhandener menschlicher Anstand, den freilich nicht immer alle Artgenossen in gesunder Weise teilten. Aber das änderte sich auch nicht durch die Kirche, denn in ihrer Geschichte gab es verdammt viele doppel-moralische Phasen (bis in die Gegenwart hinein). Das Handeln und Walten der Institution Kirche muss nicht verwechselt werden mit den Wegen einzelner glaubenstreuer Menschen.
Jedoch kennt sogar die nicht-menschliche Natur (wenn es erlaubt ist, es so zu formulieren) Gnade, Rücksicht, Bescheidenheit.»

Und weiter:

«Mich interessieren deine Stellungnahmen zu folgenden Fragen:
Natura naturans oder natura naturata - was meinst du?
Steht der schöpferische Gott außerhalb der Natur oder ist er identisch mit ihr?
Wenn Gott in allen Dingen präsent ist, ist er dann auch in der Cola-Dose oder der Zigarettenkippe präsent?
("Der erkennt Gott recht, der ihn in allen Dingen gleicherweise erkennt." Meister Eckhart)
Ist Gott die prima causa - die nicht geschaffene, aber schaffende Instanz?
Ist Gott zeitlos, schon immer gewesen und in alle Ewigkeit?
Gott = prima causa, raum- und zeitlos???
Urteilt Gott nach mehr oder weniger nachvollziehbaren moralischen Prinzipien?
Wenn nicht (unergründlich seien ja seine Wege), ist es dann nicht egal, wie ich mich verhalte?
Es irrt der Mensch, solang er strebt! Sind wir (Menschen) uns in unserem dunklen Drange doch des rechten Weges wohl bewusst? (Freier Bezug zu Goethes "Faust")
Und kann unsere Seele dem Bösen anheim fallen?
Sind wir - je nach Verhalten - von SEINER Gnade ausgeschlossen und ggf. verbannt, ein ewiges Dasein im Fegefeuer zu fristen?

Hat sich Gott offenbart?
Gibt es die eine "richtige" Religion? Sind dann die anderen falsch, Irrtümer vermeintlicher Propheten?»

Eine Antwort allein auf den Umfang seiner Fragestellungen - mit Verlaub: auch weil provokativ-abgründig formuliert! - scheinen adäquat kaum möglich. Die Vielzahl an möglichen Antworten sind dabei das grundsätzliche Problem. Deshalb will ich versuchen, mich auf nur wenige Fragen zu konzentrieren. Zuvor aber noch Auszüge aus meinem Text, auf den sich seine Worte bezogen:

«Der Gedanke von Versöhnung entspringt unmittelbar christlicher Ethik; in einem Hymnus zur Laudes des Stundengebets hört sich solches so an:

"Das Morgenrot steigt höher schon,
wie Morgenrot geht ER uns auf:
in seinem Vater ganz der Sohn und ganz der Vater in dem Wort."

Lässt man die -  Semantik kurz einmal beiseite, scheint die Botschaft klar: gelingt es uns die Wesensverwandtschaft zum Wort des Vaters (auf einer höheren Ebene der Bedeutung) herzustellen, werden wir selbst Vater des Wortes! Und Vater und Sohn werden auf dieser Ebene eins.

Wir erleben im Heranwachsen dessen Gegenteil. Wir haben das Recht - und vielleicht auch die Pflicht - alles zu hinterfragen, was diese Einheit stört. Geht dabei der Blick nach innen (zum Sohn) bleiben wir in unserer Selbstgewissheit, geht der Blick über uns hinaus (zum Vater), verlassen wir die Sphäre des Ichs und es entsteht ein Wir, etwas Gemeinsames. Solange wir uns sprachlich auf derselben Ebene befinden, sind essentielle Differenzen ausgeschlossen; es liegt im Bereich unserer persönlichen Aneignung von Sprache, auf welcher Ebene wir uns bewegen wollen. In dieser "Aneignung" liegt also das ganze Potential, wie sich das Aussen gegen oder auf das Innen bezieht, und wie es sich harmonisch oder dissonant "stimmen" lässt, wird so zu einer inspirierten Stimme.

Ist die Heranbildung des "Ich" nun (vom Vater her) erzwungen oder entfaltet sich das Ich in einem Akt freier Entscheidung "in seinem Vater ganz Sohn" zu sein?»

Die Sätze dieser Worte entwickelte ich in christlich inspiriertem Gedankengebäude. Ohne Metaphysik kein Raum für christliches Empfinden, christliche Tugend! Vieles ließe sich hinzufügen, weiteres noch zu bedenken, jedoch sollte mit diesen wenigen Worten zum Ausdruck kommen, worum es mir geht: es geht mir um den Wert an sich von einer Rückbindung auf etwas verlässlich Verfügbares. Weniger um die Abklärung großer Worte, Tugenden wie Wahrheit oder gar Gerechtigkeit, als jene Wirkung in den Blick zu bekommen, die Bezüge zu anderen Personen in ihrer Beziehung zu uns, zu notwendigen Begleitern unseres individuellen Lebens werden lassen. Jede dieser Personen setzen mit ihrem Sein, ihrem Denken, ihrem Empfinden markante Wegepunkte - ja ganze Pflöcke scheinen sie für uns einzuhauen! - , je gewichtiger die Erinnerung an sie. Beziehungen machen und gestalten unser Leben, geben ihm Sinn und scheinen daher mindestens ebenso wichtig wie die innere Stimme, mit der wir selbst in die Welt rufen.

Seit Menschengedenken äussert sich Beziehung, etwa in einer Form mytischen Bezugs, in der Beziehung vom Menschen als Geschöpf zu seinem Schöpfergott. Ob - wie aus heiterem Himmel - im offenbarten Wort Gottes oder - genealogisch - als Hervorbringung übergeordneter Kategorien, von Gottheiten, Titanen und Halbgöttern zu sterblichen Menschen. In unserer Bezugnahme auf per definitionem  höheren Wesen, die wir Menschen uns imaginieren, uns herbeisehnen, dem Ruf seiner Stimme folgen. Die Frage unserer Herkunft geht hin zum Vonwoher der Fraglichkeit im Denken (siehe weiter unten Gott der Philosophen).

Aber unabhängig davon, welchen Namen wir dieser geben; der Glaube an eine Gottheit, an einen Gott, wirkt bereits Wunder. So jedenfalls ist es beschrieben im Alten und Neuen Testament und in anderen Heiligen Schriften. Einen endgültigen Beweis für die Existenz einer Gottheit haben wir bis heute nicht gefunden. Letzte Zweifel bleiben immer. Gott ist nicht statisch. Er bleibt unverfügbar, tut, zu unserem Schmerz, höchst selten das, was unserem Willen entspräche. Daher erscheint er nur im Glaubensvollzug als anwesend, wenngleich zeitlos, unverfügbar, unsichtbar. Ein verborgener Gott, der sich allein im Glauben finden lässt, sofern er sich denn tatsächlich offenbart. Und von wem sprechen wir, wenn von Gott personal die Rede ist? Erkennen wir sein Wirken etwa in einer allgemein zugänglichen Vernunft? Von ihrer Begründung her in einem historisch-kulturellen Kontext (Kant) oder als Offenbarung historisch-transzendental?

Ganz konkret: "Menschen sind als endliche Vernunftwesen eingeschränkt, sowohl im Gebrauch der Vernunft als auch im Gebrauch des Willens. Ihnen ist erfahrungsgemäß eine «Anlage» zum Guten wie ein «Hang» zum Bösen eigen, weswegen sie sich die Einsicht in das allgemeine Sittengesetz erst erarbeiten müssen (nicht zuletzt durch das Lernen von Geboten und Verboten). Der Begriff «Gott aber ist uneingeschränkt in seiner Vernunft wie in seinem Willen; «Gott» ist ungehindert, das moralisch Gute zu erkennen und zu wollen. Er selbst ist und will das Sittlich-Gute. Gott als reines Vernunftwesen und als reiner Wille sowie das zur Anerkennung vorliegende Sittengesetz sind in eins zu denken." (Hanna-Barbara-Gerl-Falkovitz - Gibt es doch einen «Gesetzgeber der Vernunft»? - Communio Jan/Feb 2024)


Die Wahrheit des Mythos 

Einen etwas anderen Weg diese Zusammenhänge zu begreifen, bietet der Philosoph Kurt Hübner im Vorwort seines epochalen Werkes Die Wahrheit des Mythos:

«Der Mythos ist unserer wissenschaftlich-technischen Welt weitgehend entrückt und scheint, aus ihrer Sicht, einer längst überwundenen Vergangenheit anzugehören. Das ändert jedoch nichts daran, daß er unverändert ein Gegenstand dumpfer Sehnsucht geblieben ist. So ist das Verhältnis zu ihm heute zwiespältig.

Auf der einen Seite verweist man den Mythos in das Reich der Fabel, des Märchens, auf jeden Fall des Nicht-überprüfbaren. Er entstamme eher der Tiefe des Gefühls, des Unbewußten, der Phantasie, ja, er sei mit Begriffen überhaupt nicht faßbar. Verglichen mit der Wissenschaft, die auf Rationalität, Vernunft, Beweis, Überprüfung, Objektivität, Klarheit und Exaktheit aufgebaut sei, wird er als Überrest aus dunklen, von vermeintlich dämonischer oder göttlicher Willkür, von Furcht und Aberglauben beherrschten Zeiten angesehen. Die immer weiter zunehmende wissenschaftliche Entzauberung« der Welt erweckt jedoch zugleich den beklemmenden Eindruck der Öde und des Mangels. Man sieht sich ferner einer beinahe unaufhaltsamen technologischen Entwicklung ausgesetzt, die am Ende zur Selbstzerstörung der Menschheit führen könnte. (...) Vielleicht sind die heute so beliebten Ersatzreligionen, Heilslehren oder politischen Doktrinen nur Zerrbilder des Mythischen, die wenig über den Mythos selbst aussagen, dagegen eher als Syndrom seiner Verdrängung beurteilt werden müssen. Vielleicht hat er gar nicht jene Irrationalität und Dunkelheit, welche die einen so abstößt, die anderen dagegen gerade anzieht. Ist dann mit dieser anderen, dieser verdrängten Seite unserer heutigen Welt ein Ausgleich möglich, der ihren Zwiespalt lösen und uns ein neues Gleichgewicht schenken könnte? Ich plädiere hier keineswegs, wie manche erwarten mögen, gegen unsere moderne Kultur und für den Mythos. Ich plädiere nur für eine sachliche Auseinandersetzung mit ihm.»

Mehr gibt es darüber nicht zu befinden. Es sei denn, man begeht die tolle Torheit, zu glauben, obschon man zweifelt. Das Erschrecken vieler Philosophen über die Vorstellung von einer Welt ohne Gott zieht sich durch unsere Geschichte. Descartes, Spinoza, Kierkegaard. Ja auch die prophetische Natur Nietzsches erschrickt unmittelbar vor dem Abgrund, der sich auftut im Hintergrund seiner Proklamation Gott ist todt und angesichts seiner Fröhlichen Wissenschaft (unbedingt lesenswert dazu das Büchlein Nietzsche Regenschirm von Thomas Hürlimann!). Die Krise ist groß, seitdem Gottes Tod festzustehen scheint, wie leiblich in den kirchlichen Feiertagen zwischen Kreuzigung und Auferstehung, Karfreitag und Ostersonntag, erfahrbar bleibt.


Die Sehne des Bogens, die verlernt hat zu schwirren

"Mit Gotteskrise ist selbstverständlich nicht gemeint, dass Gott in Krise ist. Wir sind in Krise, weil Gott in den Herzen vieler wie tot ist und keine Relevanz für ihr Leben hat. Das ist nicht einfach die Folge moderner Wissenschaft und Technik. Es ist die Folge einer Emanzipation, die keine andere Autorität als die eigene anerkennen will. Nietzsche hat diesen Tod Gottes proklamiert, er schrieb: «Wir haben ihn getötet — ihr und ich! Wir sind seine Möder!»? 

Für Nietzsche war die Botschaft vom Tod Gottes eine Befreiung. Dabei war er hellsichüg genug, um auch die Problem-Folgen dieser Emanzipation zu erkennen: «Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten. Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns?» «Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?»

Nietzsches Prophetie geht gleichzeitig in die Tiefe und ins Weite, Vergangenheit und Zukunft: 

«Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinauswirft, und die Sehne des Bogens verlernt hat, zu schwirren. (...) Nietzsche geht so weit zu sagen: Es ist der Nihilisten-Glaube, dass es keine Wahrheit gibt. Damit ist Nietzsche der Prophet unserer nachneuzeitlichen Situation, in der es nicht mehr die eine Wahrheit und die eine alles erklärende Großerzählung gibt; es gibt nur noch die vielen Erzählungen, nicht mehr den einen Mythos, sondern viele Mythen. Jürgen Habermas sprach von der neuen Unübersichtlichkeit, Josef Ratzinger/Benedikt XVI. hat von einem Relativismus gesprochen, für den alles «gleich-gültig» und alles revidierbar ist."
(entnommen aus:
Walter Kardinal Kasper/ Barmherzigkeit - Der Name unseres Gottes 
Communio März/April 2024)

Was also lässt sich guten Gewissens auch heute noch denken? Was ist Wahrheit? Wir werden es niemals wissen, mit dem Kopf, der nichts als denkt, werden wir nicht weit kommen! Aber der Mensch hat mehr zu bieten, als nur die schillernde, weil entblößte Intelligenz! Spüren wir also hinein in die Tiefe des Seins, in unseren mythischen Urgrund, in unser Innerstes - im Herzen - , wo unser Gewissen wohnt und wo es an Getier förmlich wimmelt, in einer Welt voller Engel, Götter und Dämonen. Tief unten im Mesenterium, dem häufig so genannten Bauchhirn, dort wo unser tägliches Brot verdaut wird, der Spreu sich vom Weizen trennt und über das zuletzt schließlich alles Übel ausgeschieden wird.

Eine Frage ließe sich, so denkend,  schon beantworten: Cola-Dose und Zigarettenkippen sind gewiss nicht göttlichen Ursprungs. Jedoch mit Sicherheit sind sie Gottes Werk (weil in der Welt!), jedoch vor allem des Menschen Beitrag zu seinem Werk! Und es sei hier hinzugefügt: jede achtlos weggeworfene Kippe, so wie jede Müllkippe, fordert uns Menschen dazu auf, über Gott nachzudenken ... über Sinn und Bedeutung unseres Lebens. Dem ersten Hominiden konnte dieser Gedanke noch kaum aufgegangen sein; und entsprechend auch keine Frage nach einem Gott; war er doch - frei von Erbsünde - noch im Wesen unschuldig! Wie im Terminus  Erbsünde schon enthalten: das Menschengeschlecht stand noch im Werden und war deshalb frei von Sünde, die erst noch zu begehen sein würde. Abgründige Bilder werden später die - zunächst unschuldige Kreatur - mit Gottes Wort schuldig sprechen, weil es sich selbst zur Größe ihres Schöpfers erheben wollte. Und ohne Besinnung auf Ursprung und Wurzeln scheitern wird. Denn ohne Wurzel und Ursprung lassen sich weiter -Ismen züchten, die an sich selbst zerbrechen werden.

Denn angesichts der Werke Gottes, muss alles andere verblassen. Deshalb preisen ihn im Prolog zu Goethes Faust auch die Erzengel:
Der Anblick gibt den Engeln Stärke Da keiner dich ergründen mag,
Und alle deine hohen Werke 
Sind herrlich wie am ersten Tag (Vers 267f)


Gott als Nichtgott

Und Meister Eckhardt, wie alle großen Mystiker des - ach so dunklen! - Mittelalters, wusste bestens um Gottes Werk. Und er hatte gewiss auch des Menschen Beitrag vor Augen. In seine Predigten wies er beständig darauf hin, dass wir Gott nur dann erkennen, wenn wir von ihm lassen, indem wir nämlich unsere Vorstellungen, wie Gott für uns sein sollte, vollkommen freigeben. Uns in aller Abgeschiedenheit selbst so weit entleeren, dass der Gott, so wie ER wirkt, in uns wahr werden kann.

"Ich aber lobe die Abgeschiedenheit mehr als alle Liebe. Zum ersten darum, weil das Gute an der Liebe ist, dass sie mich zwingt, Gott zu loben. Nun ist es viel mehr wert, dass ich Gott zu mir zwinge, als dass ich mich zu Grott zwinge. Und das kommt daher, dass meine ewige Seligkeit daran liegt, dass ich und Gott vereinigt werden; denn Gott kann sich passender mir anpassen und besser mit mir vereinigen, als ich mit ihm." (Meister Eckart - Von der Abgeschiedenheit)

Dazu noch einmal Goethe, der ebenso geistvoll wie selbstverständlich um diese Umstände wusste. In seiner Tragödie spricht Faust im Vers 510ff - kritisch - davon: "Der du die weite Welt umschweifst, Geschäftiger Geist, wie nah fühl ich mich dir!“, worauf der Geist erwidert: "Du gleichst dem Geist den du begreifst, Nicht mir!" Um sich gleich darauf Faust wieder zu entziehen.

Insofern scheint Gott tatsächlich prima causa, unbewegter Bewegter zu sein über "den hinaus größeres nicht gedacht oder gesagt werden kann". Aber hier soll es nicht um Gottesbeweise gehen oder Formen negativer Theologie. Jede Bewegung löst etwas aus. Um was einzulösen? Einen Weg? In - zufälliger? - Opposition stehend, könnte "die Grotte des (menschlichen) Körpers (dazu sein), dass Gott im Verborgenen zur Welt kommt, das Begehren besänftigt, ohne es stillzustellen, den ganzen Menschen ergreift. Ohne ihm jemals zu gehören. Gott ist darüber, darinnen, aber immer noch davor. (...)
Der Betende ist also auf dem Weg zu Gott. Mit dem leichten Gepäck seiner Gesten und Wörter vollzieht er seine demütige Pilgerfahrt. So gesehen impliziert die Abfolge der Stationen und der Schritte auf diesem Weg die Negation jeder einzelnen Station: Nein, Gott ist nicht da, sondern anderswo, immer noch weiter fort, in anderen Worten gesagt, in anderen „Gebärden“ empfangen. Die Geste ist keine Festsetzung des Absoluten. Aber sie ist auch nicht nur schlichter Ausgangsmoment. Sie ist vielmehr Verlangen und Erwartung und zugleich bereits Empfang und Antwort. Sie ergreift schon jetzt, was sie erst noch suchen muss. (...) Der Betende erhebt sich, er bricht auf, er geht, er läuft zu Gott, aber er ist auch in Gott, er nimmt ihn in seine leeren Hände, empfängt ihn auf seinen geöffneten Handflächen, bewahrt ihn in der Zelle seines Körpers. (...)
Die Meditation nimmt ihren Gang (...): Sie ist sich dessen, wovon sie nicht ablässt, ganz gewiss, und doch vermag sie niemals die Mauern seiner Transzendenz zu übersteigen. Sie schreitet voran, von seiner Mitte angezogen, aber nicht sich ihrer bemächtigend." (Michel der Certeau GlaubensSchwachheit). Ist Gott - für uns, die wir unseren Weg beschreiten - anders denkbar als im Menschen selbst?


Deus sive natura

Antworten zu diesen Lebensfragen gab es zu allen Zeiten in Sprache und Schrift. Spinoza war ein großartiger, unbedingt gottesfürchtiger Denker, an dem sich die Geister scheiden mussten; steht er doch mit seinem Denken für den Beginn des Abgrunds, der sich heute in unserer Beziehung zu Gott auftut. Manche fürchteten sein Denken, für manche war es an der Zeit, so zu denken. Deus sive natura? Die Frage scheint obsolet, heutzutage müsste die Frage doch lauten: Deus sive homo? Die Menschheit steht am Scheideweg. Wie so oft. Will sie Gott spielen? Sich mit dem absolut Höchsten, dem Unermesslichen tatsächlich messen? Die Theologie fürchtete, fürchtet zu Recht um ihren Stand. In weiser Voraussicht hat sie Eckhart von Hochheim, Galilei Galileo, Baruch de Spinosa gleich einmal als Häretiker vor das Gericht Gottes - als ein höchst irdisches allerdings! - bestellt. Wie viele Mystiker und Denker mussten für das einstehen, was sie zu denken wagten, sich rechtfertigen vor weltlicher Ohnmacht und Willkür? Ein Gott der Barmherzigkeit kann solches zwar zumuten; ob er aber gleich den Scheiterhaufen oder das Erdbeben in Lissabon 1755 gutheißen würde, um sich unserem Urteil der Theodizee zu unterwerfen? Einer Theodizee, die sein Bild im Innersten erschüttern musste? Könnte zu solch Ambivalenz nicht allein ein allmächtiger Gott fähig sein? Denn ohne Allmacht keine Gottesfurcht! Spinoza hat darum gewusst und deshalb um sein persönliches Bild gerungen, war sich jedoch in seiner Entscheidung sicher: "Amor intellectualis Dei"!

Ob Neanderthaler, diese weit entfernten Ur-Verwandten, von all dem schon etwas wussten? Ich glaube, vielmehr bin mir sicher: Nein! Eine sehr, sehr weit entfernte Ahnung, ein wenig mehr vielleicht schon als purer Instinkt, ein Gefühl von gut und schlecht vielleicht, aber hierfür deshalb den sprachlich-philosophischen präzisen Ausdruck suchend? Ist der Neandertaler vorstellbar, der am wärmenden Feuer sitzend, sich in gesetzten Worten jovial bekennt: natura naturans ... naturatata? : )

Vielmehr kommen mir Worte B. Brechts in den Sinn: "Erst kommt das Fressen, dann die Moral". Ich will unserem lieben Neanderthaler, den ich aus seiner (nicht mehr zu erfüllenden) Zukunft heraus herzlich grüße, um Gottes Willen nicht bloßstellen oder bevormunden und daherkommen wie ein beliebiger moderner, alter, weißer, reicher Mann, der ihn kulturell okkupieren wollte! Möge er Frieden ruhen.


Der Gottesbegriff nach Auschwitz

Ein weiterer Aspekt zu dieser Auseinandersetzung, der mit dem Briefwechsel zwischen dem jüdischen Philosophen Hans Jonas und Hans Blumenberg mit der Bezeichnung "Der Gottesbegriff nach Auschwitz" entstanden ist: Gott würde sich angesichts jener dort verübten Greueltaten, die menschliche Vorstellungen zuvor überstiegen, zunehmend von seiner Schöpfung distanzieren. Mit einem Mal ist er ein ferner Gott, der sich zunehmend in sich zurückziehen würde. Wo er nicht mehr angebetet wird, all seiner selbstauferlegten Ausübung von Macht überdrüssig, ist es auch mit seinem barmherzigen und gütigen Tun und Ton vorbei. Man kann zu diesem Gottesbild stehen wie man möchte, es kann einen nicht unberührt lassen. Andererseits: ist nach Auschwitz nicht der Humanist, ob Christ oder anderer Konfession, in all seiner selbsternannten Größe angesprochen? Wollte er nicht die Verantwortung übernehmen und die Welt zu einer besseren machen? Wer tritt anstelle eines Gottes, der sich zurücknimmt, der es ernst nimmt mit seinem Geschöpf, das er zur Freiheit und zum Herrscher an seiner statt eingesetzt hat? Nur die Menschheit kann es. Aber will sie es? Kann sie es? Bis zum homo Deus ist es noch ein sehr weiter Weg.

Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie!
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor! 
Und bin so klug als wie zuvor
Faust 354f


Theologischer Exkurs

Eine erste Entsprechung des homo Deus findet sich in der Schrift mit dem Bild vom Gottesknecht.

Dieser ist Zentrum der Jesaja-Phrophetie, wobei sich das Messianische jener Zukunftshoffnung eher auf das jüdische Volk als Kollektiv bezieht. Von dort ist es ein relativ kleiner, jedoch kühner Schritt über auf den individuell gefachten Sohn Gottes, dessen Individuation das Bild für jenen Mensch der Zukunft zeichnet, das Bild vom guten Hirten, der zugleich, gottgleich nämlich, eines Wesens mit dem Vater ist. Damals eine großartige Leistung der Theologie: das Individuum löst sich aus seiner Unscheinbarkeit innerhalb des Kollektivs. Dieser wird zunächst zum König eines davidischen Hauses bestellt, der dem jüdischen Volk auf beharrliches Drängen hin, von Gott verheißen und eingesetzt. Der Weg zur Individuation, zeitlich entfaltet, lautet demnach: im jüdischen Kollektiv zunächst gläubig gebunden an seinen ersten Propheten Mose und seiner Priesterschar, später gebunden an Richter und schließlich an seinen König David, den Gesalbten, der gleichzeitig zum Mittler und erstem Diener des Volkes von Gott bestellt ist. Ganz so wie es im Heiligen römischen Reich deutscher Nation der Kaiser, aber später auch die Könige als Vorsteher englischen Monarchie und in personaler Union der anglikanischen Kirche waren und es heute immer noch sind (beziehungsweise sein sollten).

Der nächste notwendige Schritt war die Erhöhung des Gottesknechtes in den Himmel. Aus dem einfach ersichtlichen Grund, dass ein Mensch aus Fleisch und Blut, als König (mit seinem Hofstaat) über andere gestellt, Macht nicht nur iustifizieren sondern auch sanktifizieren muss. Das stiftet Unfrieden und wird niemals vollumfänglich als Gerechtigkeit gedeutet. Erst in einem letzten Schritt wird Gerechtigkeit wiederhergestellt. Die Erhöhung des Gottesknechtes als Lamm Gottes (quasi ein Selbstopfer Gottes an die ihn anbetende Welt), entrückt in den Himmel, der als Sohn Gottes, gezeugt im heiligen Geist, mit dem Vater herrscht bis in alle Ewigkeit. Aus dem allzeit immanenten Gott wird nach und nach ein geistiger, transzendenter. Dort ist er versammelt mit seinem englischen Hofstaat in einer unverrückbaren, perfekten Ordnung, die bildhaft beschrieben als Offenbarung am Schluss des Neuen Testaments steht. Der Clou daran: die Trennung von himmlischer Herrlichkeit und weltlicher Herrschaft (¹), die derart gleichzeitig verschränkt und doch getrennt, absolute Gerechtigkeit (vor Gott) nachbilden und garantieren kann. Das wäre - theologisch kurzgeführt - der Stein, den die Bauleute (zunächst) verwerfen mussten, damit er zum Schlussstein werde (²) (frei nach Psalm 118.22)

Man muss das Wesen des christlichen Glaubens einmal versuchen in seiner tiefsten Bedeutung zu verstehen: was kann uns das Wort von der Erlösung vom Tod und der Auferstehung Christi bedeuten? Man kann dieses Wort theologisch als einen (vermutlich) letzten radikalen Versuch deuten, dass Gott seinem Ebenbild auf Erden huldigt, indem er aus unendlicher Liebe seinen einzigen Sohn opfert, der sich seinem Schöpfer und damit  seiner Schöpfung in bedingungsloser Liebe ausgeliefert hat. Hier wird die Beziehung von Schöpfer zu seinem Geschöpf ins Absolute radikalisiert: wie der angesichts seines Todes gläubig gewordene Mensch vor Gott Opfer seines Glaubens darbringt, so tut das Gott aus Liebe vor seiner Schöpfung! Oder wie ich es kürzlich bei der festlichen Feier zum 5. Sonntags nach Ostern in der Wiener Jesuitenkirche in einer Predigt des dortigen Priors Gustav Schörghofer hören dürfte: «Nicht der Mensch braucht Gott; Gott braucht uns! Er braucht uns, damit etwas zum Vorschein kommt. Dass im Einfachen, Ursprünglichen, manchmal auch Widerspenstigen, etwas zum Vorschein kommt, zum Leben erweckt wird, zum Leuchten kommt; dazu braucht uns Gott.» (vgl. auch Meister Eckhard weiter oben).

Welch herrlich paradoxer Zirkelschluss, der den vorgenannten Schlussstein für das Sein gebiert und darüberhinaus ewiges Bestehen seiner Existenz verspricht!

Der moderne Physiker mag darüber verzweifeln, weil Geistiges, etwas ohne materielle Entsprechung, nicht sein darf. Vielleicht deshalb sprengt der christliche Glaube selbst auch noch diese Grenze auf, indem er folgert, dass wenn es so etwas wie Auferstehung gibt, diese nicht allein geistig, sondern vielmehr leiblich verklärt - wie immer diese Verklärung zu deuten ist - vollzogen werden muss! Lässt sich Größeres denken? Nichts jedenfalls, über das Größeres nicht gedacht werden kann! So übergroß, dass es sich jeder Wirklichkeit und Logik entzieht, sich allenfalls noch in einem Oxymoron wie Dietrich Bonhoeffers darstellen lässt: «Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht!»

¹ siehe Giorgio Agambem "Herrschaft und Herrlichkeit"

² der Schlussstein steht metaphorisch, vor allem in der Gotik, als der in Stein erbauten Bögen zuletzt gesetzte, unbedingt notwendige Stein, der allein einem System Statik verleihen kann. In der Gotik bis weit in unsere Zeit hinein hatte die himmlische Herrlichkeit seine architektonische Entsprechung, bevor sie mit modisch-moderner Baukunst, z. B. des Bauhaus-Stils etwa, die ewige Ordnung - auch förmlich - ins Wanken gebracht wurde

- Ende Exkurs -


Der Gott der Philosophen

Die These in meiner Selbstmitteilung an den Freund sollte die gewinnbringende Botschaft der Versöhnung vermitteln, in der wir selbst, als die mit der Gnade des Spätgeborenseins Ausgestattete, den Lebensweg umdeuten lernen. Zwar ein paradox anmutender Gedanke, der allerdings die Möglichkeit mit sich führt, das so etwas Licht ins Dunkel gebracht werden kann: nicht unsere Väter (vor allem) sind uns etwas schuldig geblieben. Nein, wir schulden ihnen unseren größten Respekt! Denn sie hatten den schwierigeren Weg. Mit ihrem Tun aber gingen sie uns voraus. Als Nachgeborene haben wir -zumindestens theoretisch - mindestens eine Option mehr als sie. Wir dürfen einen Weg wagen, den sie zu ihrer Zeit noch nicht bewerkstelligen konnten, da sie ihn erst noch zu gehen hatten. Andererseits blieben sie noch jungfräulich angesichts der Verführungen unserer Zeit, wie fairer Weise mitzudenken ist.

Der Stachel unseres Seins wird erst im paradoxen Denken offensichtlich. Weil uns tabula rasa leichter fällt, rasieren wir mit Ockham's Messer gegen den Strich! Unser Versuch, die Altvorderen des Irrtums zu bezichtigen, ist Irrtum unseres Denkens. Wir müssten es doch besser wissen, und wissen es weniger gut; weil wir den Ausgleich im Denken nicht in uns suchen, sondern bequem unserem Nächsten umhängen, versündigen wir uns gegen jede höhere Ordnung.
Diesen Frevel auszugleichen ist nur möglich durch ein archetypisches Opfer. Durch die Selbsthingabe des Sohnes an den Vater!

Dem Philosophen Wilhelm Weischedel verdanken wir die (spekulative) Möglichkeit, hinter dem philosophischen Befinden die Gedanken an etwas wesenhaft Göttliches nicht apriori ausschließen zu müssen. Da vor allem der Zweifel an unserer Wahrnehmung nihilistisch sein muss, wäre sie sonst zum Zweifel nicht fähig - ist zwar einen Zirkelschluss, gibt uns aber zumindest die Möglichkeit zum Trotzdem im Denken, jenem Vonwoher der Fraglichkeit nicht ausweichen zu müssen (³).

Seit jeher ist Denken auch ein Weg des Pilgers (ethymologisch von lat. peregrinus fremd bzw. peregrinari in der Fremde schweifen). Auf dem Pilgerweg, und nur auf diesem, wartet die Erleuchtung. Diese bleibt paradoxerweise stets im Widerspruch verfangen. Der Pilger, auf seinem geistigen Weg, wird dennoch einer Wahrheit gegenwärtig, die allerdings weiterhin niemals verfügbar wird, weil ein letzter Zweifel bleiben muss. Zur besseren Bewältigung des immerwährenden Zweifels lässt sich ein schwieriger Begriff aus dem Psalter bemühen: den Begriff "lauter". So heißt es in Psalm 19,10: 

Die Furcht des Herrn ist lauter,* sie besteht für immer.

Der Pilgerweg des philosophischen Denkers ohne Bezugspunkt eines notwendigen Gottes, ebenso wie des Gläubigen mit der Verheißung eines lebendigen Gottes, bleibt ein Weg der Läuterung. Vom Beginn bis hierher und für allezeit, bis der Mensch auf seinem Weg einst an sein Ende kommen wird. Ist Läuterung dazu Voraussetzung? Ein erster zarter Impuls für den Weg des Pilgers?

Wie immer sich auch der künftige Weg der Menschheit ausgestalten wird; ob sie sich ins unvergängliche Licht gezogen weiß, oder auch nicht, wird sie sich doch ihrer vergängliche Natur gewahr bleiben müssen. Moderne Prophetien künden zwar von einem persönlichen Geist, der in Klonen seiner selbst fortzuleben lernen könnte. Was aber, wenn der Mensch seiner Körperlichkeit ledig, nur noch als Geist existiert? Ist er dann noch Mensch oder nicht schon ein hybrider Gott? Ein Gott des reinen Geistes, der aus dem Off digitaler Welten schöpferisch tätig bleibt? Mir scheint all dies im wahrsten Sinne des Wortes unsäglich und vor allem unnützt, nicht mehr als eine technoide Perversion menschlichen Allmachtstrebens.

Eine heile Welt aus Bits und Bytes? Die Menschheit emigriert auf ferne Planeten oder nahe Raumstationen, nachdem sie die göttliche Schöpfung auf der Erde zugerichtet und ihre menschliche Natur abzuwerfen gelernt hat? Welch dystopische Vorstellung, genährt von der Unfähigkeit, das im Verhältnis eher leichte Joch des nackten und sterblichen Menschseins ertragen zu wollen!

Gedanken über Gott und die Theodizee mit dem Philosophen Hans Blumenberg und dem Kulturhistoriker Jacob Burckhardt 

Hans Blumenberg war bekennender Atheist. Er konnte dem Glauben an einen lebendigen Gott nichts abgewinnen. Die Sehnsucht an den Glauben an sich hat er dennoch nie verloren; er war als Philosoph konsequent auf der Suche nach Wahrheit. Die Suche nach der Wahrheit in der Rechtfertigung Gottes findet in seinem Büchlein Matthäuspassion einen sprachlichen Ausdruck. Im Kapitel Die Weltverstrickung Gottes sinniert Blumenberg über die Vertreibung aus dem Paradies und den Absichten Gottes dazu: "Gott trennte die Menschen von der Lebensquelle, weil sie dort seine Rivalen werden mußten. Durch den Tod machte er sie zu ihren Rivalen auf Leben und Tod. Denn wenn den zweien der Garten gereicht hatte, reichte die ganze Erde den vielen niemals, weil jeder nur ein Leben hatte, um alles an allem zu haben. So kam mit dem Tod die »Sünde« in die Welt, nicht umgekehrt. War das beabsichtigt? Wie konnte es unbeabsichtigt sein, wenn Gottes Allwissenheit wissen mußte, was bevorstand? Mit der Paradiesaustreibung beginnt das Bohren der Theodizee. Es gibt nur eine plausible Lösung: Gott wußte nicht, was bevorstand, weil er es nicht wissen konnte. Wie sollte er wissen können, was der Tod auf das Leben zurückbewirkt, da er doch selbst keines Todes gewärtig sein konnte? Es ist nur vergleichbar damit, daß keiner wissen kann, was »Schmerz« ist, der nicht einen gehabt hat; und selbst dann kennt er nur mit Vorbehalten, was es anderen bedeutet, einen zu haben. Nicht anders konnte es sein mit allem, was der Lebensbaumausschluß für den Menschen zur Folge hatte: das Leben war zur »Sorge« geworden, extrem sogleich zum Motiv des ersten Mordes. 
Die Menschwerdung war nicht die Hyperbel einer göttlichen Liebe, sondern die Kompensation eines göttlichen Evidenzmangels. 
Gott war das reine Gegenteil eines »Mängelwesens« gewesen. Das brachte ihn in eine schuldhafte Lage gegenüber einer Kreatur, die er durch einen Privilegentzug ihrer Mängelnatur ausgeliefert hatte. Die »Welt« als Natur war eine Sache des Wissens; von ihr konnte der Urheber alles erkennen, im Griff und Begriff haben, und so gab es keinen Theodizeebedarf für sein Weltverhältnis. 

Daß es dieses überhaupt gab, ist weniger schwer einzusehen als die ganze Verstrickung mit dem Ungewußten und Unwißbaren, wie es am Menschen sich exponierte. Denn sollte Gott das absolute Subjekt sein, als das allein ihn die Philosophie zu denken vermag, so war das ihm von Aristoteles zugedachte Sich-selbst-denkende-Denken die pure Unbefriedigung einer sinnvoll so zu nennenden Subjektivität: Sie fordert sich ein Anderes ihrer selbst zum Objekt. Weniger abstrakt ausgedrückt: Das absolute Subjekt kann seine Sorglosigkeit nicht ertragen; es belädt sich mit der Last der Welt und den Menschen, sein Bild und Gleichnis, mit der Sorge um sein Dasein. Was aber Sorge ist, kann auch ein Allwissender nicht a prioris wissen, nur und erst als Todgeweihter, Schmerzgezeichneter, von Untreue der Seinen Betrogener. Ob der Schöpfer sein Geschöpf lieben muß, um dem gleich zu werden, was er sich gleich machen wollte, bleibt offen; jeden Falls muß er aus Selbstliebe seine intentionale Erfüllung suchen. Er muß den Konjunktiv seiner Vorweltlichkeit und seines Paradiesselbstschutzes, der im Was wäre, wenn . . . steckenbliebe, aufgeben und die Schwelle zum Indikativ überschreiten: So also ist es, was ich getan habe! 

Es ist nichts Verächtliches, die Ausstattung solcher Verheißung eine Sache des »Geschmacks« zu nennen — Glück bliebe, was es seinem Wesen nach ist und nicht anders sein kann, ein subjektiver Inbegriff von Erfüllungen. Man mag lächeln, wenn der Dichter und seine Freunde an eine basileia, ein Königreich der Poiesis denken, unter der endgültigen Herrschaft des Konjunktivs. Aber in dieser Distanz vom Leben zu erzählen und sich erzählen zu lassen, setzt voraus, es reell und ohne Distanz gehabt zu haben. Wie es voraussetzt, es nicht mehr als todgeweihte Daseinsverfassung zu haben - nicht mehr zu sein, was man gewesen wat. 

Gott und seine Geschöpfe wären Konsorten des Konjunktivs geworden, der trotz seiner Abhebung vom Indikativ »Anschauung« voraussetzt, ohne die niemand wissen kann, wovon die Rede ist. Daß von etwas »die Rede sein« muß, ist das Korrelat des christlichen Dogmas von der leiblichen Auferstehung der Toten - wozu sonst sollte sie gut sein, wenn sie gut wäre? Daß sie einen ästhetischen Aspekt der theologischen Eschatologie bedingt, ist schon in der mittelalterlichen Scholastik bemerkt worden. Seither ist »Aspekt« ein bißchen zu wenig geworden: Wer dies noch wollen könnte, wollte mehr. 

Soweit der skeptische Atheist Blumenberg. Bei Jacob Burckhardt, der ein Jahrhundert früher lebte und arbeitete, kann man sich einigermaßen sicher sein, dass er weder überzeugter Atheist wie Blumenberg war noch die nihilistischen Prophetien seines Zeitgenossen Friedrich Nietzsche (die zeitgleich Professuren auf der Universität Basel innehatten) besonders schätze. Er wusste, «was wir Menschen für Bettler sind vor den Pforten des Glücks», und in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen schreibt er: «Unter der Objektivität wahrer Kontemplation versteht er (Burckhardt) vielmehr die Überwindung des Eigenwillens, die philosophische Tätigkeit schlechthin. Ihr Ziel ist nicht die Vermeidung des Urteils, sei es des ästhetischen oder sittlichen, sondern dessen Läuterung.(Ein leidenschaftliches Urteil nämlich darüber, wie) tief die zunehmende Hast der Zeit (...) die echte große Stimmung vernichtet, (und von der) furchtbaren geistigen Nullität des Radikalismus, einem bevorstehenden Barbarenzeitalter (...), stinkend von Fortschritt und Kulturkampf». 
Buckhardt sinniert weiter über die allzu gern überlieferte Größe geschichtlicher Zeiten und seiner Protagonisten. Als Historiker stellt er jegliche Überliefung in Frage, die sich nicht zuvor selbst in Frage gestellt hat. In seinen Betrachtungen untersucht er Auswirkungen geschichtlicher Überlieferung für das Individuelle und das Allgemeine. Er bleibt skeptisch, ob das, was überliefert ist, einer Prüfung standhielte, und stellt dieser Prüfung seinen persönlichen Glauben gegenüber. Im Essay Burckhardt und Nietzsche von Erich Heller heißt es:
«scheinbar rein ästhetischer Glaube war jedoch nicht die einzige Quelle, aus welcher seine Seele (Burchhards) sich nährte. Obwohl es unausgesprochen blieb, war dennoch viel in ihm von einem Glauben, der tiefer reicht. An einer Stelle seiner Weltgeschichtlichen Betrachtungen, wo er über die Macht und den Erfolg des Bösen nachsinnt (und in der Macht erkannte er vor allem die Möglichkeiten zum Bösen, und Napoleon nannte er eine personifizierte Absurdität), lehnt er den Trost ab, den manche in der Annahme eines Hegelschen Meisterplans für die Welt zu finden scheinen. „Jede erfolgreiche Gewalttat“, sagt er da, „ist allermindestens ein Skandal...; die einzige Lehre aus gelungener Missetat des Stärkeren ist die, daß man das Erdenleben überhaupt nicht höher schätze, als es verdient“. Und am Ende einer Vorlesung über die griechische Kunst ließ er einmal eine Hermes-Statue selbst dem Betrachter antworten, der verwundert fragt, woher denn der Schein der Traurigkeit rühre, der auf so vielen Götterbildern liegt, auf dem Antlitz der Olympier, die doch in immerwährendem Glück und unsterblicher Freude lebten, im heiteren Besitz von Ruhm und himmlicher Schönheit, von ewiger Jugend und nie endendem Vergnügen. Waren sie dennoch nicht glücklich? Und Hermes verneint: „Wir haben nur uns selbst gelebt und allen anderen Schmerz bereitet, wir waren nicht gut, und darum mußten wir untergehen.»

Leben oder Denken ohne Gott scheint in die Irre zu laufen, denn ohne ihn steht zu befürchten, dass bald wieder Götzen die Leere im Himmel (unserer Vorstellungskraft) bevölkern. Es bleiben daher zwei Auswege. Die vollkommen Kenosis des Menschen oder die Hinwendung zur Fülle der Offenbarung: "Je größer die Welt wird, je mächtiger der menschliche Geist, desto größer können wir auch Gott denken" (L. Boros)


³ Das Vonwoher der Fraglichkeit

Unabhängig davon, ob das Weltgeschehen philosophisch-historisch oder theologisch-mataphysisch befragt wird: genauer: sobald die Sein- oder die Sinnfrage gestellt wird, dann geht die Betrachtung zum Menschsein hin und vom Menschsein aus, wie immer dies sich auch auswirke. Und zu guter Letzt war, ist und bleibt dies stets ein Ringen um Wahrheit, nicht Wahrhaftigkeit, Wahrheit absolut gesetzt. Im Rechtwesen gibt es - auch deshalb - die Unterscheidung von Positivem Recht und Überpositivem Recht. Positives Recht gründet in dieser Definition auf Werte und Grundsätze, die sich z.B. staatliche Rechtsysteme auferlegen. Überpositives Recht dagegen ist seit jeher dem Logos verpflichtetes Gewissen, dabei überparteilich, überstaatlich, universell.

Im Zuge der Aufklärung hat sich Denken an sich über ca. 500 Jahr emanzipiert. Was vordem stets als Nachdenken über Gott an das biblisch überlieferte Wort Gott gebunden war, hat sich nach Nietzsche radikal entfesselt. Bei genauerem Hinschauen jedoch, hat sich diese Entfesselung bereits zur Zeitenwende mit der Kreuzigung Jesus von Nazareth zugetragen. Als gläubiger Christ erfährt man das Abgründige hinter diesem Geschehen jedes Jahr neuerlich zur Feier der Dramatik jener österlichen Tage. Mit dem Tod und der Auferstehung des Gekreuzigten ist die Universalgeschichte radikal geschieden. Sie steht seitdem im Licht eines radikalenVonwoher aller Fraglichkeit, weil sich mit der Möglichkeit vom Tod Gottes, das vormals absolut Transzendente endgültig in die Gegenwart menschlichen Befindens herabgestiegen ist. Aber dieses Geschehen hatte sich bereits im Exil des jüdischen Volkes und seiner phrophetisch-messianischen Schriften angedeutet und sich mit dem Bild der Kreuzigung radikal und endültig festgesetzt; und changiert seitdem je in Anwesenheit und Abwesenheit eines Schöpfergottes.

Der Begriff des Vonwoher der Fraglichkeit entnehme ich der umfangreichen Arbeit von Wilhelm Weischedel in seinem Buch Der Gott der Philosophen, das im Untertitel mit Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus benannt ist. Darin unternimmt der Autor einen Streifzug durch die abendländische Philosophiegeschichte unter dem besonderen Aspekt einer philosophischen Theologie. Deren Grundfrage muss laut Weischedel stets auf das radikale Fragen ohne jegliche Vorbedeutung. Selbst der Begriff Gott steht so gesehen zunächst unbedingt in Schwebe, gewissemaßen unter dem Vorbehalt des Vonwoher der Fraglichkeit.

Ganz am Schluss des zweiten Bandes im § 146 Die philosophisch-theologische Haltung postuliert Weischedel deren zwei, die für "freies" Denken unabdingbar seien:

1. Offenheit
«Zum Fragen gehört als Voraussetzung die Offenheit. Daß einem etwas fraglich werde, dazu ist erforderlich, daß man sich dem öffne. Nun ist der Mensch zum Fragen und zum radikalen Fragen vom Vonwoher aufgerufen. So erhält die Offenheit unter dem philosophisch-theologischen Aspekt eine unbedingte Begründung. Sie wird zu einem unabdingbaren Postulat für den, der sich vor dem Vonwoher verantwortlich weiß. 

Das führt zu mancherlei Konsequenzen für das konkrete Dasein. Die wichtigste ist, daß in der Offenheit dıe Bereitschaft zum Gespräch wurzelt. Wer sich in sich selber verschließt, handelt wider seine philosophischtheologische Verpflichtung. Ein Gespräch aber ist nicht ohne die Respektierung des Partners möglich. So wırd auch die Achtung vor dem andern unter dem leitenden Gesichtspunkt zu einem Postulat. Man darf sich nicht auf die eigene Meinung versteifen, sondern muß stets auch auf den andern hören. Das ist das vornehmlichste Gebor für das Miteinanderleben der Menschen. Es gilt nicht nur für den privaten Bereich, sondern auch für das öffentliche Leben, bis hinein in die politische Sphäre. 

Die Offenheit reicht aber noch in eine tiefere Dimension hinab. Offen zu sein gilt es gerade auch insofern, als man sich für die Fraglichkeit aller Wirklichkeit öffnet, um in ıhr und durch sie hindurch dem darin anwesenden Vonwoher zu begegnen. Darin erfüllt sich die philosophischtheologische Existenz. Offenheit ist zuletzt Offenheit für das Vonwoher.»

2. Abschied
Die vielfältigen Ausprägungen der Haltung, wie sie unter dem philosophisch-theologischen Gesichtspunkt erforderlich werden, lassen sich schließlich in einer Grundhaltung zusammenfassen, die „Abschied“ genannt werden kann. Abschied bedeutet: auf Sicherungen verzichten, es wagen, sich ins Ungewisse zu begeben. Abschied bedeutet: der Welt, in der man existiert, nicht über sich Gewalt einräumen, sondern ihr, der fraglichen, gegenüber Distanz gewinnen. Abschied bedeutet: sich auch von sich selber distanzieren, nicht sich auf sich selbst versteifen, dem Eigensinn absagen, den Mut zur Selbstaufgabe in sich erwecken. Abschied bedeutet so: im ganzen Felde des konkreten Daseins seine Freiheit erringen und bewahren.
( ... )
In letzter Tiefe heißt Abschied schließlich: darauf verzichten, vom Vonwoher mehr wissen zu wollen, als daß es das nur in einigen wenigen Schritten analogisch erhellbare Geheimnis ist. Damit freilich offenbart die hier entwickelte Philosophische Theologie die Armut ihres Wesens, verglichen mit Glanz und Größe Philosophischer Theologien der vergangenen Jahrhunderte. Aber solche Armut ist vermutlich das Schicksal des Denkens, wenn es im Zeitalter des Nihilismus und der radikalen Fraglichkeit sich doch noch dem Gott zuwendet. Das letzte Wort der hier versuchten Philosophischen Theologie lautet daher: Gott, das Vonwoher, ist Geheimnis, und der Mensch hat es abschiedlich als Geheimnis zu wahren.»

Entscheidung gegen den Nihilismus

Dieses letzte Wort Weischedels, dass Gott, das Vonwoher, abschiedlich als Geheimnis zu wahren sei, aufgreifend, lässt sich immerhin eine Entscheidung treffen, die jeder Mensch vor sich selbst zu treffen hat: stehe ich diesem geheimnisvollenVonwoher offen gegenüber oder muss ich es ausschließen? Will ich mich zum Geheimnis des Glaubens (Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit) hin öffnen, das bei jeder christlichen Messe durch das Mysterium der Eucharistie gefeiert wird, oder fühle ich mich freien Willens davon ausgeschlossen?

Argumente wie Begründungen dagegen oder dafür gibt es zuhauf. Ist es nicht vielmehr aber auch eine Frage der Vernunft sich für das Vonwoher Gottes zu entscheiden? Selbst wenn dies als allerletzte Wahrheit in philosophischer Schwebe bliebe? Welche Gründe sprächen, auch in modernen Zeiten  und im Aufleuchten absolut gesetzter individuellen Freiheit, dafür?

Drei Gründe sollen erwogen werden, warum es mehr als sinnvoll erscheint, das Offenbarwerden des Lebens auf einen transzendenten Gott hin zu beziehen:

1.) Als Zeugnis vom lebendigen Gott
2.) Im Bild zur Schrift 
3.) In Form trinitarischer Beziehung


Zeugnis vom lebendigen Gott

Alles, was zuvor gesagt und erwogen wurde, kann geschieden werden - und zwar in zwei aufeinander folgende Schritte - in wiederum zwei sich widersprechende Entitäten. Erster Schritt: beruht das Leben auf Funktionalität? Entfaltet sich das Leben aus einer Funktion heraus, einerseits eingeschriebenen in ein Walten freier atomar-kosmischer Kräfte jenseits jeglicher Seinsbestimmungen, oder andererseits auf den Menschen hin geschaffen, ausgehend von einer Ursache, prima causa, die an sich funktionslos, aber unserer Erkenntnis zugänglich ist? Es gibt nur diese zwei Alternativen, nichts dazwischen. Entweder credo in deum oder Gott ist tot!

Josef Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., entfaltet in seinem Gesamtwerk alle Wahrheit theologisch exklusiv auf Jesus Christus hin. Kritisch kommentiert von Vertretern anderer Denkschulen. Dennoch seien hier einige ungewöhnlich interessante Gedanken Ratzingers aufgeführt (entnommen aus dem Essay Die eine Wahrheit und ihre Erkennbarkeit, verfasst vom emeritierten Dogmatiker Karl-Heinz-Menke und abgedruckt in der Zeitschrift communio März/April 2024 ):

«Ohne den Glauben daran, dass der Schöpfer seinen Logos aller Wirklichkeit eingestiftet und den Menschen auf diesen Logos hingeordnet hat, gibt es - so Ratzinger - gar keine Wahrheit. Wer diesen Glauben nicht teilt, ist aus seiner Sicht zwangsläufig ein Nominalist. Es gibt, so betont er immer wieder, keine dritte Alternative. Entweder hat jedes Seiende ganz unabhängig vom Erkennen und Verstehen des Menschen eine ihm vom Schöpfer gegebene Bedeutung. Oder es ist der Mensch, der durch seine Begriffe (nomina) Sinn bzw. Sinnzusammenhänge konstruiert. Entweder ist Wahrheit der eine vom Schöpfer vorgegebene Sinn; oder es gibt so viele Wahrheiten wie Sprachspiele und Philosophien.»

Und in der Tat: Ratzinger erklärt wiederholt, dass eine vom Glauben an Schöpfung und Inkarnation unabhängige Vernunft eine Gefangene ihrer selbst ist. Er sieht sich von Kant nicht widerlegt, sondern bestätigt. Denn die Vernunft, die Kant in seinen Kritiken beschreibe, sei ja unfähig, die «Wahrheit an sich» zu erreichen. Kants «praktische Vernunft» verlange zwar nach Gottes Existenz, nach einem Leben über den Tod hinaus bzw. nach Unsterblichkeit. Doch was - so fragt Ratzinger - sind Vernunftpostulate im Vergleich zu der im Glauben an Christus erfahrenen Realität?»

«Ratzinger erklärt den Glauben als Licht der Vernunft und Theonomie als Bedingung der Möglichkeit von Autonomie. Wer sich entscheidet, den Logos alles Seienden nicht machen (konstruieren), sondern empfangen zu wollen, ersetzt - so betont er - die Vernunft nicht durch den Glauben, sondern verankert seine Vernunft im Ursprung ihrer selbst. (...) Ratzinger wörtlich: Glauben ist "ein Subjektwechsel. Das Ich hört auf, autonomes, in sich selbst stehendes Subjekt zu sein. Es wird sich selbst entrissen und in ein neues Subjekt eingefügt. Das Ich geht nicht einfach darin unter, aber es muss sich in der Tat einmal ganz fallen lassen, um sich dann in einem größeren Ich [...] neu zu empfangen".»

Mit diesem größeren Ich ist in christlichem Verständnis der Leib Christi gemeint, als den sich die Gemeinschaft aller gläubigen Christen versteht: die römisch-katholische Kirche. Insofern sind die Argumente Ratzingers vom Glauben her nachzuvollziehbar. Und genau darin findet sich der entscheidende Unterschied zum Gott der Philosophen. Hier ist der Gekreuzigte das Zentrum aller Betrachtung, auf den hin laut Ratzinger jegliche christliche Autonomie in einer gnadenhaften Autorität gründet, dort eine voraussetzungslose, jedoch funktionalisierte Freiheit im Denken fern jeglicher Autorität; denn wäre Freiheit als Autorität vorgegeben, würde sie philosophisch gedachte Freiheit einschränken. So sind die Bezugspunkte der jeweiligen Anschauung manifestiert. In der Philosophie muss Wahrheit ohne Ausnahme selbstreferentiell bleiben, mit dem (denkenden) Menschen im Mittelpunkt, während sie theologisch ausschließlich auf Gottes λόγος hin bezogen bleibt, der so unbedingt und stets menschlich gedachter Gerechtigkeit oder Wahrheit vorausgeht, einer übergeordneten, zeichenhaften Vernunft - seit jeher und auf die Zukunft hingeordnet - verpflichtend bleibt; als in der Anschauung Gottes gegründet und aufgehoben.

Ist in dieser unbedingten Verpflichtung jener Stachel zu finden, der ungehemmte Entfaltung geistiger Freiheit zu begrenzen scheint und deshalb nach anderen Bezugspunkten sucht? Das mag sein, und deshalb ist davon auszugehen, dass auch künftige Generationen versuchen werden das theologische Vermächtnis zu sprengen. Denn - noch einmal in den Worten Karl-Heinz Menkes - «der Mensch ist auf Grund seiner Personalität das einzige Geschöpf, das Wahrheit erkennen und bejahen oder verneinen kann. Dabei ist - so erklärt Ratzinger zu beachten: Die Leugnung der Wahrheit ist nicht eine von zwei möglichen Realisierungsweisen der Freiheit. Dann wäre nicht nur das Tun des Guten, sondern auch das Tun des Bösen Realisierung von Freiheit. Doch frei ist der Mensch nur in dem Maße, in dem er sich an den Ursprung seiner Personalität, an den Logos Gottes - christlich gesprochen: an die in Christus erschienene Liebe des trinitarischen Schöpfers - bindet. Wer diese Selbst-Bindung verweigert, wird unfrei. Die von Rousseau als natürlich deklarierte Ungebundenheit oder die marxistische Illusion, man könne Freiheit durch erzwungene Gleichheit herstellen, wurden von der Geschichte als Irrtümer entlarvt. Jesus Christus, so betont Ratzinger immer wieder, war der Mensch, der sich auf unüberbietbare Weise (1 Joh 3,5; Hebr 4,15) an den Willen seines göttlichen Vaters gebunden und gerade deshalb das Höchstmaß geschöpflicher Freiheit realisiert hat.

Eine Freiheit, die sich selbst auf die Anerkennung der Freiheit jeder anderen Person verpflichtet (Kant) und ihre Entscheidungen dem Diskurs aller relevanten Argumente aussetzt (Habermas), ist, wie Ratzinger anerkennt, alles andere als Bindungslosigkeit. Aber warum - so fragt er - sollen sich Menschen, die nicht an den biblisch bezeugten Gott glauben, Freiheit zuschreiben und auch dann dem kategorischen Imperativ ihrer praktischen Vernunft folgen, wenn damit große Opfer und Nachteile verbunden sind? Und wie kann die Würde jedes Menschen, auch die des ungeborenen und sterbenden Menschen, «unbedingt» sein, wenn sie abhängig gemacht wird von den Argumenten, die sich faktisch durchsetzen? Jeder weltanschaulich neutrale Staat, der Gott in der Präambel seiner Verfassung nennt, weiß, dass die Personwürde des Menschen nicht durch Definitionen oder demokratische Mehrheiten begründet wird.»

Wir Menschen folgen unserem Gewissen und nur wo unser Gewissen auf Wahrheit bezogen bleibt, kann etwas Gutes, in Sinne von etwas für uns Heilsames, entstehen. Deshalb erscheint es auch wichtig zu wissen, woran man sich bindet. Aber: «eine irrige Entscheidung wird durch die Gewissenhaftigkeit und Wahrhaftigkeit des Irrenden nicht richtig. Denn das Gewissen ist nicht Ursprung der Wahrheit, die es erkennt; und nicht Ursprung des Guten, das es befolgt. Nicht das Gewissen ist Grund des Unbedingten, sondern das Unbedingte Grund des Gewissens.»

Die Wahrheit besteht aus wesenhaften Bezügen innerhalb gewachsener, transgenerativer Beziehungen, die wir in einer Gewissensprüfung als wahr erkennen können, sofern wir dies anstreben. Und je mehr wir bereit sind, die Wahrheit hinter diesen Beziehungen anzuerkennen, vermögen wir mithilfe unserer Person Zeugnis abzulegen für diese Wahrheit. Exakt dies hat Jesus Christus auf Golgatha getan. Er wurde gleichsam im Gebet eines Wesens mit dem Vater und war bereit sein Leben am Kreuz hinzugeben, damit sein Tod auf den Vater hin in seiner (ewigen) Wiederauferstehung Zeugnis würde, ein über alle Maßen bildhaftes Zeugnis, auf das allein hin die Menschheit vertrauen kann. Weil es dafür keines Beweises bedarf, sondern sich allein auf Vertrauen und Hoffnung gründet.


Vom Bild zur Schrift

Denn der Tod am Kreuz ist das Zeugnis des Menschen Jesus weit über seinen persönlichen Tod hinaus auf den Glauben hin an die Ewigkeit Gottes. Mit diesem Zeugnis wird irdische Realität gesprengt, indem es Raum und Zeit suspendiert. Denn der Urheber - prima causa - alles Geschöpflichen wird nur dann und dort wahr, wo er in der Welt nicht ist! Die Welt dagegen ist in ihm, Teil seiner selbst, aufgehoben in Zeit und Raum, dessen Ursprung und erstes Wort er ist! Das Wort Aufgehoben zeigt dies selbst an, hat es doch (mindestens) eine zweifache Bedeutung. Aufgehoben im Sinne von Bewahrung und Behütung als auch im Sinne von Abschaffung, Auflösung, Außerkraftsetzung, Beseitigung, Rücknahme, Streichung.

Die Ambivalenz einer Bedeutung, die im faktischen Sinn nicht gleichzeitig wahr sein kann, erscheint hier (transfaktisch) sprachlich sehr wohl möglich. Hierin zeigt sich deutlich, dass Bilder (von etwas) stets gegenständlich sind, Sprache sich jedoch immer vom eigentlichen Bild zu lösen vermag. Sie kann zu einem Entwurf einen weiteren Entwurf, ja mehrere Entwürfe mit-meinen. Sie ist schöpferisch, ohne das, was sie erschafft in die endgültige Form zu zwingen; die Form wird frei und kann sich weiter entfalten. Darin findet sich eine höhere Form von Freiheit, die an sich unbegrenzt ist. Jene Freiheit im Wort, Denken und Sein kann gleichzeitig eingrenzen und ausgrenzen, bezeichnen und doch frei von Kontur sein. Sie ist absolut frei!

Und sie suspendiert alle Festschreibungen. Indem sie anwesend und gleichzeitig abwesend zu sein scheint. Abwesend, weil vor der Zeit einmal in der Welt gewesen, anwesend als nichtdinglich-geistiges Vermächtnis. Ohne die Verklärung in der Himmelfahrt, wäre Christus gestorben. Als Mensch musste er sterben, als Gottes Sohn sitzt er zur Rechten seines Vaters im Himmel. Nur geistige Verfasstheit, die solches Denken als wahr gelten lassen kann, lässt dieses Geschehen wirklich wahr werden. Dazu aber man sich erheben, quasi über das Irdische hinaus, damit sich die Anschauung vom dinghaft-gegenständlichen Bild zum zeichenhaft-symbolisch-mystisch Möglichen wandelt, hin zur Anschauung Gottes, «den niemand je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und im Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.» (Joh 1, 18).

Das Wesen dieser Freiheit gründet sich in der Urheberschaft dessen, der anwesend ist und sich auch wieder aus der Anwesenheit entzieht. In einem Geschehen, das der Religionsphilosoph und Theologe, Eckhard Nordhofen, in den Jahren 1997 bis 2001 Leiter der Zentralstelle Bildung der Deutschen Bischofskonferenz, in seinem Buch Corpora unter dem Aspekt einer Mediengeschichte entfaltet hat. Seine Grundthese lautet, dass der Vollzug vom Bild zum Wort den Sprung vom Polytheismus (Idolatrie) zum Monotheismus (Grapholatrie) möglich gemacht hat. Eine einzigartige kulturelle Errungenschaft des jüdischen Schriftums - in seiner Auseinandersetzung mit der Erkenntnis aus griechischer Philosophie -, das sich im babylonisch-alexandrinischen Exil herausbilden konnte und dessen genuines Vermächtnis bis in die Jetztzeit hinein angezweifelt wird. Denn das Bild ist stärker als das Wort, ihm kann man sich kaum entziehen. Während Worte in vielfachen Sinne flüchtig bleiben. Werden sie deshalb seit jeher in Schrift gefasst? Sie sind einerseits - ausgesprochen - präsent, auch dem Sinne nach, und stehen andererseits stets unter dem Vorbehalt einer Vorenthaltung, weil sich ihr Sinn oft nicht unmittelbar erschließt. Man könnte auch sagen, dass sich tieferer Sinn ausschließlich im aktiven Nachsinnen offenbart, als Passivum entlarvt sich sich Sinn funktionalistisch alsbald als bloße Meinung oder Absicht.

Denn es ist ein großer Unterschied, ob mir das von mir Verherrlichte eine Funktion für mich zu erfüllen hat, oder ob sich das Verherrlichte jeglicher Einflussnahme diskret enthält, weil es um etwas weitaus größeres geht, das sich nicht zwingen lässt. Nach Nordhofen erscheint der Polytheismus so als reliöser Funktionalismus: «Wer den Göttern opfert, darf erwarten, das sie ihm geben, was er noch nicht hat, aber gerne hätte». Wobei Nordhofen die Ambivalenz der Kultbilder betont: «Ihre Sichtbarkeit ist ein Vorteil, aber die Bilder und die Statuen können für die Götter selbst gehalten werden. Das ist ihr Nachteil. ( ... ) Der Gott Israels ist anders, er ist nicht selbst gemacht. Seine Transzendenz verbietet es, sich ein Bild von ihm zu machen oder sich seiner zu bemächtigen. Darin liegt seine anarchische Kraft. Er lässt sich nicht in das Pantheon einordnen, ist keine kosmische Macht, sondern steht der Welt gegenüber. Wenn das große Gegenüber nahekommt, bleibt er ungreifbar. Alteritätsmarkierungen zeigen seine Nähe an: der brennende Dornbusch, der nicht verbrennt, die Spur des Vorübergangs, die sich entzieht. Um jede Verwechslung mit der Welt der Geschöpfe auszuschließen, kommt es im exklusiven Monotheismus, der im babylonischen Exil durchbricht, zum Medienwechsel vom Kultbild zur Schrift. Die Schrift ist ein Medium der Differenz. Das ist ihr Vorzug gegenüber dem Bild. Gott ist in der Schrift nicht gegenwärtig, er kann mit ihr nicht identifiziert werden. Allerdings ist er durch die Buchstaben, die er hinterlässt, als Abwesender doch da — zumindest indirekt. Das Buch Exodus erzählt, dass Gott selbst mit dem Finger die zehn Gebote auf die Tafeln geschrieben habe. Er hinterlässt seine Spur in der Inschrift der Tafeln. Diese sind «nicht menschengemacht». Die Schrift wird zur Heiligen Schrift, als Kultschrift löst sie das Bild ab, das Gesetz verspricht Freiheit, an die Stelle der Idolatrie tritt die «Grapholatrie». Diese Kennzeichnung ist heikel, weil mit der Betonung der pharisäischen Schriftfrömmigkeit leicht antijüdische Vorurteile aufgerufen werden, und die paulinische Rede vom Buchstaben, der tötet, und vom Geist, der lebendig macht, für Kontrastbildungen anfällig ist. Nordhofen, der schon in Corpora vom «guten Pharisäer» gesprochen und sich im Folgeband Media divina mit dem Antijudaismusproblem befasst hat, deutet den Streit zwischen Jesus und den Schriftgelehrten als Medienkonflikt. Der buchstabengetreuen Auslegung der Tora setzt Jesus einen Transfer ins Geistige gegenüber, ohne dadurch die Schrift zu relativieren oder annullieren. Dabei kommt es zu einer neuen Unterscheidung zwischen Innen und Außen. Die Schriftgelehrten legen auf das Äußere wert, die Befolgung der Reinheitsvorschriften, des Sabbatgebots, Jesus hingegen komme es auf das Innere an, das Herz. Das ist schon bei den Propheten Israels vorgespurt, die von der Beschneidung des Herzens sprechen. In der Perikope von der Ehebrecherin wird dieser Medienkonflikt deutlich. Die Schriftgelehrten bringen die in flagranti ertappte Frau zu Jesus, der sich zur Causa äußern soll. Die Lage ist gespannt. Jesus steht in Verdacht, die Schrift zu relativieren, da seine Jünger die Reinheitsvorschriften und Sabbatgebote nicht so beachten, wie es erwartet wird. Jetzt aber scheint der Fall eindeutig: «Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen - was sagst du?» Anstatt auf die Frage einzugehen, tut Jesus etwas Unerwartetes. Er bückt sich und schreibt mit dem Finger in den Sand. Nur hier macht er vom Medium der Schrift Gebrauch. Die Geste unterbricht den Mechanismus der Verurteilung: alle gegen eine! Der schreibende Finger aber erinnert an den Gottesfinger auf dem Sinai. Nur wird diesmal nicht gesagt, was geschrieben wird - die Leerstelle bleibt ein Moment der Vorenthaltung. Dann folgt der berühmte Satz: «Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.» Dadurch lenkt Jesus die Aufmerksamkeit von der Beschuldigten weg auf die Schuld der Beschuldiger und schreibt erneut in den Sand. Denen, die meinten den Gotteswillen genau zu kennen und Steine werfen wollten, wird klar, dass auch sie auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen sind.» (Jan-Heinz Türk im Editorial zur Ausgabe Jenseits des Funktionalismus, abgedruckt in der Zeitschrift communio Mai Juni 2024)


JHWH, der Herr der Zeit

Eckhard Nordhofen führt den kulturellen Sprung, den die Israeliten im Exil vollziehen weiter aus, indem er ihr Tetragramm JHWH in den Blick nimmt: «Israel hat die mediale Sonderstellung der Schrift erspürt und für die Religion erschlossen. Es erkannte die Schrift als das Medium der Differenz und Referenz. Zur Erinnerung: Sie ist niemals das, was sie bedeutet. Sie macht das, wovon sie handelt, zugleich präsent und hält es auf Abstand. In seiner reinsten Gestalt erscheint diese Simultaneität von Präsenz und Vorenthaltung, die dem Medium Schrift nun einmal eigen ist, im Tetragramm, dem heiligen Gottesnamen. Für Israel wird er zum Allerheiligsten. Kein frommer Jude wagt bis heute in grapholatrischer Ehrfurcht, ihn in den Mund zu nehmen. Er ersetzt ihn durch «Adonai», «Elohim» oder «Ha schem», d.h. «Der Name». Diese Praxis einer performativen Heiligung durch Vorenthaltung bringt auf treffsichere und präzise Weise seine Eigenart zum Ausdruck. Was in der Gestalt von vier Buchstaben präsent ist, wird durch das Nicht-Aussprechen vorenthalten und so geheiligt. Aber auch die Sprachlogik gibt Auskunft über die Eigenart jener vier Buchstaben.

Diesen absoluten Singular, das pure Dasein als großes, aber unsichtbares Gegenüber zu akzeptieren, fällt nicht leicht. Nicht nur der Berliner Witzbold, der auf das süddeutsche «Grüß Gott» antwortet: «Wenn ich ihn sehe», auch Mose, der darum bittet, das Angesicht Gottes zu sehen und daraufhin in den Felsspalt gestellt wird und immerhin eine Rückenansicht erblicken darf, muss sich darüber belehren lassen, was ihm vorenthalten wird (Ex 33, 18-25)
 ( ... )
Die biblischen Erzähler balancieren auf dem schmalen Grat zwischen dem Wunsch zu sehen und dem Unsichtbaren. Am Ende des Johannesprologs heißt es lapidar: «Niemand hat Gott je gesehen.» Wie ein roter Faden zieht sich durch alle Bücher der Bibel jene Simultaneität von Präsenz und Vorenthaltung. Die vier Buchstaben des Gottesnamens sind gewiss empirisch, das, was sie bezeichnen, bleibt aber vorenthalten. Es ist diese kostbare Vorenthaltung, die das, was ist, aufsprengt und nach oben öffnet. Erst hier verstehen wir den vollen Sinn der Offenbarung als Öffnung. (...) Aber ganz unabhängig von dieser vorläufig nur befürchteten Gegenüberstellung der Extreme wird es im Zeitalter einer anschwellenden Funktionalisierung und «Kolonialisierung der Lebenswelt» (Jürgen Habermas) höchste Zeit, den transfunktionalen Glutkern des biblischen Monotheismus neu zum Strahlen zu bringen.»

Dass Nordhofen mit dem Ausdruck Gegenüberstellung der Extreme auf die zurzeit geführte Diskussion um das Heil oder Verderben der KI abzielt und sich dahinter auf Aussagen eben jener Epigonen bezieht, die den Segen der KI anpreisen, gleichzeitig aber auch vor deren noch unbekannte Folgen warnen, sollte uns hier nicht verwundern, denn: Funktion - das ist der Name für den erklärten Zusammenhang. Wenn wir verstanden haben, wie etwas funktioniert, können wir es nutzen. 
Wissen ist Macht, diese Einsicht ist nicht neu. Auch nicht mehr ganz neu ist ein wucherndes Wachstum des funktionalen Denkens, radikal neu aber ist, dass das kodifizierte Wissen subjektlos, abgekoppelt von seinem menschlichen Ursprung, eingespeist in einen exponentiell wachsenden Datenpool, von einem anonymen Algorithmus neu arrangiert, jedermann zur Verfügung steht. Hat je unsere funktionale Weltbeherrschung ein so wirksames Werkzeug besessen? 

Da fällt der Blick auf das freie Feld des Nicht-Funktionalen, in das sich schon die Gewerbegebiete vorfressen. Es schrumpft, wird knapp und daher kostbar. Noch ertönt von dort herüber ferne Musik, dort blühen noch wilde Künste, und es blättert der Wind die Seiten alter Bücher um, die keiner mehr lesen will. Noch ragen Kirchtürme in einen scheinbar unbewohnten Himmel. Hier gibt es immer noch Versuche, die Grenze des Sagbaren zu verschieben, denn die Perlen des Unbegriffenen schimmern immer noch vielversprechend. 

Was aber, wenn auch das alles am Ende eines gar nicht mehr so fernen Tages von dem gefräßigen Algorithmus verschluckt wird, der auch das simulieren kann? 

Das Jahr 2023 wird in die Mediengeschichte der menschlichen Kommunikation eingehen als das Jahr, in dem die «large language models» ihren Siegeszug angetreten haben. 

Da wird es höchste Zeit, die blass gewordene Erinnerung an die transfunktionale Wurzel des biblischen Monotheismus aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit heraufzurufen und sie im kalten Licht unserer Tage neu erstrahlen zu lassen. Nie war JHWH aktueller als jetzt!

Es steht zu vermuten, dass wir abermals vor einer unglaublich schnelllebigen, alles mit sich fortreissenden Entwicklung stehen, die in einen unstillbaren Datenstrom eingespeist, umgesetzt und verdaut werden muss! Werden wir anhand des weiter exponentiell wachsenden weltweiten Energieverbrauchs ermessen können, welches gefräßige Monster hier zum Leben erweckt wird? Welche Antworten wird die KI, welche der Mensch dazu (er)finden müssen? Zukunft bleibt prekär, evoziert große Existenzsorgen der Menschheit, unseres blauen Planeten - erst im Rückblick werden unsere Nachkommen ermessen können, welche Paradigmenwechsel notwendig sein werden, damit der an uns Menschen ergangene Schöpfungsauftrag aufrecht erhalten werden kann.


Urform der trinitarischen Beziehung

Bis dahin bleibt es unerlässlich, dass die Menscheit verbindliche Schritte unternimmt in Beziehung zu bleiben. Hat sie die notwendigen Schritte unternommen, sich vom Gegenständlichen (Bild) freizumachen und in das substanzhaft-geistig-verklärte (Schriftwort) in den Blick zu lassen, dann ergibt sich ein zweiter Schritt der Entscheidung fast zwangsläufig: welcher Art war die Beziehung Christi zum Leben? War er als gekreuzigter Mensch Jesus ein Mensch der Geschichte wie wir alle? Oder war er der im Alten Testament verheißene Messias, Sohn Gottes, der Fleisch angenommen hat, um sein Leben für uns (und die vielen) hinzugeben und zur Rechten seines Vaters förmlich in den Himmel der Verklärung aufzusteigen?

Sein Testament ist der unbedingte Glaube an des Menschen höhere Natur, der sich aus dem Lehm der Erde erhebt in geistige Freiheit hinein, in der all das möglich wird, was je gedacht worden ist, solange: er das geistige Vermächtnis zu durchdringen bereit ist, um in Beziehung bleiben zu können! Nur eine existentielle Bindung bewahrt den Menschen vor Selbstüberschätzung und Hybris, weil immer rückgebunden auf unsere Väter, auf unseren (geistigen) Vater. Derart rückgebunden lehrt sie zu schauen Gottes Angesicht. Güte, Würde, Liebe (Treue, Huld und Gerechtigkeit darauf Gottes Antwort). Angenommen sein in diese Wesenszüge Gottes, weckt im Nenschen die Bereitschaft seinem Vorbild als Ebenbild nachzufolgen, sich - bildlich gesehen - zu seiner Rechten zu setzen!


«Über das Unsichtbare wie über das Irdische haben Gewissheit die Götter, uns aber als Menschen ist nur das Erschließen gestattet.»
Alkmaion von Krotos (Cretone, Calabria), griechischer Naturphilosoph, 5. Jhrt. a.C.


Und so können wir den Entschluss fassen: aufgrund unserer Ungewissheit möge der dreieinige Gott in uns ge­genwärtig bleiben «im Gemüt, im Streben und in der Liebe». (Meister Eckehart)

und

«Bejahte Endlichkeit ist das Ja dazu, geführt zu werden, wohin man (noch) nicht weiß und will,  Wanderung, Reifen von Anruf zu Anruf, Lernen des eigenen Namens.» (Jörg Splett)

Denn im Irdischen bleibt uns allein der Glaube und die Verheißung Jesu aus dem Evangelium. In seiner dritten Abschiedsrede schaut er voraus, in die Zeit nach seinem Leiden und seine Verherrlichung im Himmel zur Rechten Gottes:

«So seid auch ihr jetzt bekümmert, aber ich werde euch wieder sehen; dann wird euer Herz sich freuen, und niemand nimmt euch eure Freude.
An jenem Tag werdet ihr mich nichts mehr fragen. (...) Bittet und ihr werdet empfangen, damit Eure Freude vollkommen ist.» 
(Joh 16, 22.23a.24b)

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Hochzeit Max&Nadine

Der Schleier des Nichtwissens; Bob Dylans lyrische Prophetie (i.p.)

Die Hoffnung auf Unversehrtheit (i.p.)