Gedanken in Zeiten viraler Krisen

Der Virus hat uns mit einer begleitenden Totalität im Griff, wie es  zuvor zu Friedenszeiten nie denkbar schien. Global. Total. Oder täuschen wir uns und befinden uns in Wahrheit im Krieg, in moderner Diktion im Cyberkrieg? Wagen wir besser einen anderen Blick.

Es ist seltsam, wie sehr wir uns an Gewohnheiten orientieren müssen. Die eine steht gewohnheitsmäßig mit dem linken Bein auf, noch bevor sie ans Frühstücken denkt, der andere schwingt erst das rechte Bein aus dem Bett, nachdem er sich das Frühstück in allen Einzelheiten vorher noch ausgemalt hatte. Ob Zigarette oder Tee/Kaffee am frühen Morgen. Wehe, es kommt etwas dazwischen, was derlei Gewohnheiten auf den Kopf stellen will. Während der eine fast unmittelbar in panische Gemütslage gerät, begrüßt die andere diesen Zufall mit heiterer Gelassenheit. Weil nichts liegt näher als so zu reagieren, wie man es seit jeher gewohnt ist. Unabhängig davon, ob die Welt in diesem Moment wirklich in sich zusammen zu stürtzen scheint oder auch nicht.

Es ist Passionszeit. Leidenszeit. Und ganz sicher; die Welt hat sich innert einiger Wochen und Monate radikal gewandelt. Irgendwie konnte man es in den vergangenen Jahren schon fast ahnen. Boten gab es in ausreichender Zahl. Die Wiederauferstehung radikaler Positionen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Morgendämmerung über einem Raubbau sondergleichen an der Natur. Die alte Zeit ist nun an ihr Ende gekommen. Ganz gewiss. Eine neue Zeit liegt noch in heftigen Geburtswehen. Ganz wie damals vor 2000 Jahren. Seitdem sind Passionen eine sich stets erneuernde Kategorie. Nie passte das Zitat "panta rhei" des Vorsokratikers Heraklit besser.

Die Schlüsse, die ein jeder aus dieser Krise ziehen wird, hängen im Wesentlichen von seinen Gewohnheiten ab. Man könnte auch sagen: von den Göttern, die von ihm angebetet und verehrt werden. Ist es der Gott des exponentiellen wirtschaftlichen Aufschwungs? Der Gott einer heraufziehenden Romantik, in der erstmalig wieder, wie nach den Vorstellungen der frühen Vorsokratiker des klassischen Altertums, Natur eine Renaissance im Umfeld Spinozas und Schellings erlebt und sie unter dem Begriff natura naturans als ein autarkes und schöpferisch handelndes Subjekt betrachtet wird? Der Gott des KI, in der Maschinen die Herrschaft über das Leben übernehmen um biologischen Systemen eine neue Form an Superintelligenz aufzuoktroyieren? Der Gott der Fiktion, in der imaginierte Narrative Subjekte viral kolonisieren und bislang unbekannte Wahrnehmungsformen ermöglichen? Es ließen sich im menschlichen Geist ganz sicher weit mehr dieser Götter finden, als das Pantheon vergangener Kulturen einst bewohnten.

So ist der Weg nicht mehr weit zum Gedanken, dass diese Götter ihre Schöpfer im Wesen biologischer Kreaturen finden. Wird gar Gott erst im Menschen von sich aus aktiv? Und berichtet uns von mikroskopisch kleinen bis zu kosmisch allumfassenden Göttern neben sich, die sich alsbald bald als Götzen entlarven? Sind doch wir Menschen in dieser Betrachtung die Ansammlung einer schier unendlichen Zahl von wiederum selbstschöpferischen Bionten, die für sich allein in anderen "Lebenseinheiten" und anderer Zusammensetzung ebenfalls lebensfähig wären.

Ist so gesehen selbst das Tetragramm des Monotheismus eine "Schöpfung" aus einem anderen "früheren" Ursprung? Der Verdacht drängt sich auf. Es ist dies allerdings weder ein Beweis über die Existenz eines Gottes oder unendlich vieler Götter. Nimmt aber nichts von seiner substanziellen Erfahrung allen geistigen Lebens. Gewohnheitsmäßug ist derlei Erfahrung spätestens seit Descartes verdächtig. Der Gott der Naturwissenschaft ist in diesem Sinne totalitär und hat unsere heutige Welt viral infiziert. 

Ähnlich unseren modellhaften Vorstellungen von belebter Materie ließen sich in ihnen virale Spuren biologischer wie rein geistiger Natur finden. Bevor es spätestens mit Descartes zu einer Trennung in "Lebendigem" von Geist und Körper kam, waren unsere Vorstellungen diesbezüglich in theologischen Konzepten beschrieben. Sie konnten in postmodernem Denken neue Kraft finden. Bereits Aristoteles beschrieb Körper, Geist und Seele als Einheit. In seiner Seelenlehre de anima beschrieb er das "Wirksame" im Leben an sich als Seele, die allen lebenden Systemen innewohnt, jedoch sehr wohl in unterschiedlicher Ausformung in Pflanzen, Tieren und uns Menschen. 

In der aktuellen Philosophiedebatte häufen sich Stimmen, die in der vorher beschriebenen Einheit neuen Nährboden finden. Man hört Wortschöpfungen wie das Unverfügbare (Hartmut Rosa), das unser Menschsein ebenso ausmacht und bestimmt wie die reine Vernunft. Konzepte, ausgehend vom Denken Kants, in phänomenologischer Betrachtung Husserls und Heideggers feiern Wiederauferstehung. 

Ob sich die jüdische Gottesvorstellung als der eine Herrscher über allen Göttern (Dtn 10, 17), die christliche Anschauung als barmherzige Trinität (Joh 12,44-50), ein allergnädigster Gnadenspender (Sure 1, Vers 1) aus der Welt des Islam oder doch eine substanzlose geistige Natur aus fernöstlicher Anschauung tatsächlich allumfassend durchsetzen wird, darf bezweifelt werden. Zu stark sind glücklicherweise zerstreuende Tendenzen, die zu gute wie auch zu krude Ideen, wie die Ideologie des bedingungslosen survival of the fittest oder gar die eines neuen Tausendjährigen Reiches, hinfällig machen werden. Gleichwohl uns Menschen (und jeweils aus heutiger Perspektive) für immer eingeschrieben. Ganz sicher kommt darin etwas gänzlich Anderes und doch Immergleiches neu zum Vorschein. Das Leben an sich. Panta rhei. Eben.

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