Geschichte von Kim

Ich betrete also den Gastgarten. Erwartet hatte ich, müde gewandert (Pilgern 2025) und entsprechend durstig, die Verheißung "Steckerlfisch vom Feinsten und ausgewählte exzellente vietnamesische Köstlichkeiten".

Zwischen Virtuellem und Reellem öffnen sich nicht selten Abgründe, die sich zwischen dem, was erwartet werden darf, und dem, was sich dem Auge sodann bietet, auftun. Das eine, die Erwartung einer Werbung, das andere die wirtschaftlich zu Grunde gelegte Realität.

Hier keine 'Steckerlfisch' sondern 'Tristesse'. Keine 'kulinarische Köstlichkeit' sondern 'oberösterreichische Schmankerl'. Immerhin!

Dort exotische Geräusche, Gerüche und ein faszinosum von Fremdelei; hier das tremendum aus Plastiktischen, sorglos durcheinandergewürfelten, wild platzierter Stühle aus selbigem Material; dort symbolische Kultiviertheit, hier drohender Verfall.

Drei Männer, zwei sitzend, einer daneben an einem Stehtisch stehend, alle schweigend vor einem Bier, den wandernden Peregrinus kaum mit Blicken würdigend. Um die Ecke des alten Hauses, das einmal bessere Zeiten gesehen habe muss, hört man einen Rasenmäher werken.

Ich werfe ein unbestimmtes "Grias eich!" in ins stierende Schweigen, entledige mich am andere Ende der "Tafel" von Wanderstab, Rucksack und Gürteltasche, platziere alles vor der schattenspendenenden Linde und lasse mich, dem Schicksal ausgeliefert, nieder. Schweigen. Schließlich grunzt einer der drei, erhebt sich umständlich und wankt ins Haus. Gleich darauf kommt er mit einem frisch gezapften Glas Bier zurück und nimmt seinen Platz wieder ein. 

Eine amüsante Situation. Also breche ich das Schweigen. "Dürfte ich auch ein solch gutes Bier bekommen?" Ohne mich anzublicken erhebt sich der mit dem frischen Bier erneut, schlurft gemächlich um die Ecke. Der Rasenmäher schweigt für einen kurzen Augenblick. Der schweigend Schlurfende wiederum kommt zurück, betritt das Haus und bald darauf mit einem Glas Bier zurück und platzierte es vor mir auf den Tisch. Nimmt seinen Platz schweigend wieder ein.

Ich nehme einen kräftigen Schluck. "Schiach warm ist's heut!". "Jo" sagt einer, nimmt einen kräftigen Zug von seinem Bier und fällt ins beredte Schweigen zurück. Die anderen denken ihren Teil. Vielleicht. Ich warte.

Der Rasenmäher wird abgestellt und ein Mann, asiatischer Herkunft kommt um die Ecke, schaut mich beiläufig an, setzt sich an den Tisch. Eine träges Gespräch auf Oberösterreichisch nimmt seinen Anfang. Im Klang seiner Worte unterscheidet sich der Asiate ... nicht einen Deut von den anderen. In bester Mundart und endemisch zugerüsteter Themenwahl werden Belanglosigkriten hin- und hergeschoben. Ein Wort fordert und fördert ein anderes hervor. Immerhin bestätigt ihr Gespräch, was mir das Netz zuvor schon mitteilte, dass der Gastwirt nämlich ein Vietnamese sein müsse und der Gesprächsführer sein Sohn, der in Linz lebe und studiere. Er müsse am Wochende immer seinem alten Vater helfen, der schon seit einiger Zeit erkrankt sei. 

"Aha", denke ich mir, "deshalb die wenig lebendige Szenerie", sehe den 'leckeren Steckerfisch' in weite Ferne rücken und 'vietnamesische Köstlichkeiten' in den Bereich von Utopie entrückt. Ich höre dem Geschwätz noch eine ganze Weile zu, weiterhin fasziniert vom Gedanken, dass Sprache anscheinend nur eine einzige Generation benötigt um jegliche Sprachbarriere einzureißen, wie mir der junge Asiate, im weiteren von mir Kim benannt, in herzerweichendem Dialekt beweisen scheint zu wollen, so wie mit den anderen spricht. Der Hunger meldet sich mit einem tiefen Grummeln in meinem Bauch. Ich übersetze die überraschten Blicke der Anwesenden: "Habt's Ihr auch was zu essen für mich?" Kim scheint hin- und hergerissen, zwischen der lähmenden Trägheit rund um den Tisch und dem Vermächtnis aus seiner Herkunftskultur. Dann spricht es aus ihm: "A vietnamesische Gemüsesuppn oderan Wurschtsalod? Des kennt I dia mochn. Dauert obara Viadlstund'." Ich wähle bewusst nicht das Naheliegende; oder etwas doch? "An Wurstsalat bitte, und no a guads Bier!" 

Er steht auf, geht in die Küche. Das Bier bringt mir der andere, wie zuvor schon. Kim kommt aus der Küche zurück mit einer extragroßen Portion fein geschnittener Extrawurst, fein dekoriert und durchmischt mit Gurkerl und Sitzpaprika. "A Semmerl hob I kaans," als wüsste er, dass ich immer gerne eine Semmel dazu esse. Hat er am Ende noch erlebt, dass ein Brotkörberl, gefüllt mit frischen Semmeln, früher einmal eine Selbstverständlichkeit war?

Jedenfalls war der Wurst-Salat überaus gut gewürzt und ohnehin immer schon ein adäquates Gericht für heiße Tage.

Ich esse in Ruhe. Auf der anderen Seite des Tisches wird weiter geschwätzt über dies und das, was die Rinde zu beschäftigen scheint. Wir gut sich Kim in das Gespräch einbringt und stets den rechten Ton zu treffen zu treffen scheint, wie das beständige Nicken seiner Tischgenossen mir aufzeigen möchte. Ihm scheint mir in der Runde gar der Respekt als "Studierter aus der Stadt" sicher, in gewissem Sinne scheint er den Auftrag zwischen den verschiedenen Kulturen aus Herkunft, Bildung und Zugehörigkeit vermitteln zu können, wie selbstverständlich inne zu haben. Ich werde neugierig und spüre, dass auch er ob meiner beständigen Interesselosigkeit meine Meinung einzubringen, aufmerksam wird und mich mehr und mehr beäugt.

Als ich den Teller bis auf den letzten Rest geleert habe und ein weiteres Bier in Auftrag geben, steht diesmal er selbst auf, und bringt kurz darauf das Gewünschte, nimmt den Teller und Besteck mit einem "hod's passt?" und bleibt stehen, als ich antworte "hab was anderes erwartet, aber es was  s e h r  gut!". Die anderen haben den kurzen Dialog mitgehört und fangen schallend an zu lachen: "Bisd ned da erschde, dem des passierd ... Geh, glaubst imma nö ois wos im Netz steht? ... Bei ins waaß a jeder, dos ma nur wos zun Essn kriegt, wemma vurbestöhht!"

Kim erklärt, das "da Voda" schon alt sei und nicht mehr tagaus und tagein in der Küche sein könne. Er selber komme, wenn möglich, jedes Wochenende nach Hause um nach seinem Vater zu sehen, denn — und jetzt wechselt er ausholend in Hochdeutsche — ohne seinen Vater wäre er nicht hier.

Kims Vater war selbst noch im Knabenalter, als seine Familie vor der dringlichen Entscheidung stand, die Kinder vor den Schrecken des Terrorregimes  Kampfhandlungen im Vietnamkrieg zu schützen — vor allem vor einer drohenden Rekrutierung seitens der Viet Cong (siehe Aufbau und Strategie). 

*Erst jetzt bei der Recherche beschleicht mich der Verdacht, dass sich die von Kim erzählte Geschichte erst nach dem Ende des Vietnamkrieges im April des Jahres 1975 stattfinden hätte können. Nämlich, dass die Kinder vor den Schrecken in den Umerziehungslagern des nordvietnamesischen Regimes bewahrt werden sollten. Denn ein älterer Cousin seines Vaters wurde von einigen Familien des Heimatdorfes beauftragt — und mit allen verfügbaren Geldmitteln ausgestattet — um den jüngsten Kinder die Flucht über das südchinesische Meer als boat people zu ermöglichen. Mit selbst stehen noch die berdrändenden Bilder in unseren Fernsehnachrichten, die wir in der Familie allabendlich im Anschluss ans Abendessen konsumierten ....*

Kims Vater jedenfalls kam über Thailand nach Europa und später nach Österreich, wo er eine Familie gründen konnte, mit der er gemeinsam das alte Wirtshaus, in dem Kim seine Geschichte erzählte, erwerben und betreiben konnte. Eine bewegende Geschichte von Kriegswirren, Vertreibung und Flucht, und erneuter Niederlassung, die sich nicht unähnlich, nur 30 Jahre zuvor, in dieser Region auch schon ereignet hatten. Kim jedenfalls scheint mit dem Schicksal seiner Familie zurechtzukommen und einen festen Bestandteil in der Gemeinde einzunehmen.

Es wird wohl noch einige Jahre dauern bis auch wir hier in Österreich und Europa die Realität, das Wohl und Wehe von Flüchtlingen in den Schoß unserer Kultur, in unseren Erzählingen gut integrieren lernen, wie es beispielhaft die Geschichte von Kim lehren kann. Es bleibt ein weiter Weg zu gehen, mit allen jenen Nuancen, die die Kontingenz des Lebens von uns selbst einfordert. Dem peregrinus werden diese Dinge auf eine besondere Weise offensichtlich; der Blick ist's stets, den wir darauf zu richten vetmögen. Deus vult

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