Dilmun - Ein Brief an Waheed und Nadia

Der Versuch eines sehr hymnischen, offenen Briefes an Waheed und Nadia, Freunde und gewährende Gastgeber unseres Besuchs der Inseln Bahrains im Januar 2020. Dieser Brief hat die Eigentümlichkeit, nicht als endgültig und nie als fertiggestellt, also stets drängender Anstoß für Permanenz im Sinne fortlaufender Veränderung zu sein. Verstehen können sollte man ihn besser gar nicht erst versuchen. Ihn mit-erleben wollen, sich von der Erzählung mitnehmen lassen; ja, das könnte man allerdings sehr wohl. Sie möge wirken wie ein Ruf aus der Wüste. 

Prolog

Wenn wir von Grenzen hören, denken wir heutzutage zumeist an Trennendes. Das auf dieser Seite der Grenze liegende scheint sehr verschieden vom jenseits der Grenze liegenden. So auf den ersten Blick. Schaut man genauer, so kann es geschehen, dass beiderseits von Grenzen das aufscheint, was sich hier wie dort recht ähnlich anfühlt, obwohl es verschieden ist, und das sich im Momentum von Grenzüberschreitung zu einem verbindenden, fast allgemeingültigen Gut entwickeln kann. Deshalb: Grenzen sind auch - vor allen auch - ein Appell an uns: "Überschreite Dich selbst!"



Erkundung der grenzenlosen See_Kielinger 2020






Zu den Zeiten, als dem klassischen Altertum noch eine paradiesisch blühende Insel im persischen Golf namens Tylos bekannt war, brach aus Mazedonien der große Alexander mit seiner Streitmacht zum Hindus auf. Dorthin, wo vor noch viel längerer Zeit die alte Kultur Dilmun bereits offene Grenzen zum fernen Reich der Mitte pflegte, worauf man nicht zuletzt anhand der hier wie dort erhaltenen Begräbnisstätten von Verstorbenen in Gestalt von Tumuli schließen darf. Dilmun stand damals sinnbildlich als paradiesischer Ort für die Hoffnung auf Unsterblichkeit. Das süße Wasser, das mitten im Meer aus allen Ritzen sprang und für Belebung und Lebenserhalt allen Vergänglichen hoffen lies, ein Ort spiritueller Reinheit und mythischer Klarheit. Ursprung und Ziel allen Seins. Für die Reisenden eine Oase der Erquickung, für die Verstorbenen ein Ort des Verweilens hin zur endgültigen Erlösung. Ein Meer von Tumuli überzieht das trockene Land.

Alexander befragte, wie damals üblich, sicherheitshalber vor dem Aufbruch seiner Streitmacht zunächst Pythia, die weissagende Priesterin des delphischen Orakels, die ihm bescheinigte, dass ein Großer wie er keine Grenzen, die er nicht selbst auch noch überschreiten müsse, finden werde. Alexander verstand den Orakelspruch mit den Ohren eines Eroberers und besiegelte somit das Ende seines Reiches, bevor es überhaupt jemals hätte errichtet werden können. Wäre er doch bloß zaudernd wie ein Philosoph geblieben, er hätte Großes vollbringen können, so musste sein Feldzug tragisch scheitern!




Il Ursupatore_
Kielinger
Alexander würde als zum großen Berufener, anders als die Erben Dilmuns, offene Grenze niemals anerkennen. Das dahinter liegende Fremde musste unterworfen sein und beherrscht werden, weil große Ideen weltumspannende Gültigkeit einfordern. Es darf jenseits der Grenze nichts anderes gelten als diesseits. Diese selbstvergewissende Doktrin steht in misstrauischem Widerspruch zur Durchlässigkeit von Grenzen und schafft daher wohlmeinend Verbindendes des unbekannten Fremden ab. Diese Art von Grenzbetrachtung provoziert Konformität und lähmt in seiner Provokation das Enstehen von Vielfalt. Als paradoxe Provokation der schlechten Art.

 
Ein einmal eingeführtes Paradoxon aufzulösen ist wiederum kaum möglich als durch eine neuerliche Provokation. Müsste man doch Widersprüchliches stehen lassen wollen, als Möglichkeit einer nie abgeschlossen und niemals end-gültigen Lösung; wie viel Dragsaal, wie viel Erschöpfung von Ressourcen bliebe uns erspart!

Grenzen sind genau genommen Orte der Begegnung und des Austauschs. Orte von Handlungen. Die Entfaltung der Natur entsteht aus einer gerichteten Handlung, vorgezeichnet dirch das Naturgesetz der Evolution. Ob dieses Gesetz einem göttlichen Impuls folgt oder Zufälligkeiten von Prophanem ist dabei zunächst unerheblich. Das Gesetz gebietet in zureichender Vereinfachung, dass sich im Kleinen jeweils ein spezielles Genom, im Blick aufs Ganze jedoch stets eine Vielfalt dieses Genoms behaupten wird. Das mythische Ursprüngliche muss erhalten bleiben, wird lediglich redupliziert, erscheint in der Zerstreuung voneinander geschieden und gehört doch unmittelbar und ungetrennt zusammen. Wie die Trinität des Einen. Ohne Stillstand, ohne Verzug, Entfaltung des Prinzips in der Zerstreuung zur Vielheit. Und das wiederum ist alles andere als unerheblich.




Fortaleza velha_Bahrain









In Bezug auf Grenzüberschreitung bedeutete dieser Umstand, dass das beidseitige Verschiedene der Grenzen nicht beiderseits einverleibt werden darf - es wäre das Ende jeder Grenzerfahrung - sondern jeweils als archetypische Besonderheit nur wohlwollend wahrgenommen werden will. Führt sie doch zu einer weiteren natürlichen Entfaltung kultureller Diversität. Man müsste dem Vorbild Natur nur einmal genauer aufs Maul schauen.

Wie gesagt, erst der Blick aufs Ganze macht diese Betrachtung möglich und misstraut deshalb dem Versuch Trennendes, vor allem die dazu notwendigen Grenzen, niederreissen. Erst die Etablierung eines Unikats innerhalb der individuellen Grenze ermöglicht Vielfalt des Unikats jenseits der individuellen Grenzen eines jeden Unikats.

Grenzerfahrung

So ist es zu verstehen, wie ich mich der uralten Kultur Dilmuns zu nähern versuchte, in der sich mir der wahre Reichtum Eurer Heimat zu offenbaren suchte, Waheed und Nadia. Einem Typ Mensch wie mich - nennen wir ihn doch an dieser Stelle einmal wohlmeinend und vorurteilsfrei, aber scherzhaft, einen "träumerisch tanzenden Derwisch" -  wie ich ihn seit frühester Kindheit in mir selbst heranwachsen sehen sollte. Und so geschah es auch in Bahrain: so wie es immer beim Betreten unbekannter Orte, den es zu erkunden gilt,  kommen sollte, lehrte mich auch der Besuch bei Euch die eigenen Grenzen neuerlich auszuloten. Wäre die Behauptung gewagt, dass ich die mir vertrauten Grenzen und Beschränkungen in vielerlei Hinsicht durch Eure Gastfreundschaft neu kennen lernen durfte?



Bedrohtes Erbe


Jetzt bin ich zwar wieder zurück ins jahreszeitlich dunkle, aber so wunderbar erfrischend frostige Wien. Gleichzeitig jedoch bin ich weiterhin tief eingetaucht in die uralten Mythen Dilmuns, die mir aus früheren Zeiten wohlvertraut scheinen und die meiner Seele unmittelbar Wohlbehagen zu verschaffen sucht. Gleich den blutenden Wunden meines Sturzes auf langem Lauf durch baumloser Alleen des modernen Dilmuns, die zwar verkrustet sind, aber weiterhin lebendig auf meiner Haut wie zur Erinnerung pochen.



Zurück im Winter Schönbrunns


Ich weiß mich seltsam glücklich als träumender Tänzer, der sich die Umstände seines Lebens in vielerlei Facetten weit schöner noch zu träumen vermag, als es unsere bloße irdische Existenz versprechen könnte. Youssef, dein Freund und Lehrer, weiß vermutlich genau, wovon ich träume, lieber Während. Er (Joseph in hebräischer Bedeutung = er fügt hinzu) musste es gleich wie ich immer schon für das eigene Heil tun: längst weit in der Vergangenheit zurückgelassenes wieder zu entdecken und unserer Zeit neuerlich hinzuzufantasieren, weil es ohne diese Fantasie erneut verloren zu gehen scheint. Frag ihn. Ich würde mich kaum wundern, sollten ihm meine Fantasien und Träume nicht wohl vertraut klingen.




Blick aus dem Innen




Woraus speisen sich des tanzenden Träumers Fantasien? Sie speisen sich aus urmythischen Quellen ureigener Wahrnehmung gänzlich befremdend beheimatet, daher scheinbar irreal, anders als die äußere, mehrheitlich real fundamentierte, faktisch scheinende Wirklichkeit; Wie damals die Wasserquellen Dilmuns heute längst versiegt scheinen, müssen selbst engste Freunde oft am Verstand des Träumers zweifeln. Gleichermaßen aber zweifelt der Träumer gleich einem zur Extase hin kreiselnden Derwisch selbst an seiner subjektiven Wahrnehmung. 

Man stelle es sich wie einen Zug vor, mit dem Reisende aus unterschiedlichen Epochen gleichen Destinationen zustreben, aber dort in verschiedenen Zeitaltern den Zug wieder verlassen. Die Reisenden hätten zusammen den gleichen Weg zurückzulegen und erreichten dennoch unterschiedliche Ziele. Etwa wie wir als Reisende Wiens oder Berlins und ihr als Reisende Manamas oder Rabats.

In irrealer, sonambuler Wahrnehmung wird das Fremde zum Vertrauten, der Hijab wird zur Reizwäsche, das in glänzendem Chrom blitzende Automobil zum geflügelten Ikarus, der lebendige Körper zum naturwissenschaftlich-materiellen Experiment, die Lilie zur rauschhaften Vision, der Berg zum Tal und das Lamm zum Löwen.

Die Wahrnehmung solcher Phantasien bleibt dabei stets prekär, Darin Haltung zu bewahren gleicht dem Akt als Sisyphos nicht verrückt zu werden. Wohl denen, die von sich glauben können, auf einem (ge)rechten Weg zu sein; welch Paradoxie!

Jenseits der eigenen Grenze findet man bei der Überschreitung derselben häufig weit mehr Heimat als dies diesseits der Fall wäre. Nicht gänzlich in allen Aspekten, jedoch sehr wohl im Partikularen. Auch dies ließe sich als Offenbarung verstehen, sofern man gewillt ist, dem uns mit dem Geschenk des Lebens verliehenen Thymos (Lebenshunger - in freier Bedeutung) wieder mehr Zutrauen zu schenken.

Ein naturwissenschaftlich geschulter Geist staunt (bestenfalls!): wäre jene exaltierte Wahrnehmung denn für irgend etwas gut? Die Antwort findet sich im Blick über die persönliche Wahrnehmung hinaus. Jenseits der Grenzen differenter Wahrnehmung taucht vermittelnd ein bislang verborgener Reichtum auf. Dessen Narrative erhalten eine Vielzahl kontingenter Spielräume, Eindeutigkeiten verbleiben weniger zwanghaft isoliert. Zwischentöne und Obertöne erklingen befremdlich - wie Eure Musik für unsere Ohren - als Polyphonie neuer Hör- und Denkgewohnheiten. Wäre dies anders, müsste sich Kultur monochromatisch vorgeschobenen Zwecken unterordnen, zu denen unsere Welt deduktiv vereinfacht konstruiert sein möchte. Dies bedeutete: Preisgabe des Aussergewöhnlichen für den nüchternen Pragmatismus moderner Betrachtung!

Prometheus hat Zeus wohl deshalb in die Irre führen müssen um uns nackten Menschen verzehrendes Feuer zu bringen! Ein ungeheurer Frevel, der gesühnt werden muss. Feuer um die Welt niederzubrennen, Zeus wusste darum und bestrafte die Gefährdung. Dabei sollte die Welt dunkler Räume lediglich zur befreienden Entfaltung erhellt werden, wie es prometheische Halbgötter versprachen.

Eine Möglichkeit zur Erlösung des für diesen Frevel zum ewigen Leiden verdammten Prometheus, findet sich eben nicht durch das tragische Vermächtnis eines halbgöttlichen Herakles, wie uns Homer einst dichtete, sondern durch die höchst komplexe Erlösung aus tragischen Denken hin zu mutiger Bekenntnis aristotelischer Tugend. Vom seligen Glück, das sich hinter scheinbar schnöder Mittelmäßigkeit verbirgt.

Mittelmäßigkeit braucht keine Helden zum Zwecke narzisstischer Überhöhung. Erst zweckbefreit erscheint deshalb dem Träumer die Welt irgendwie real. So wie wir uns Zwecken nie freiwillig unterordnen sollten, weil Zwecke zu vereinfachen suchen und Freiheit bedrohen, wie es dem Träumer seine Träume anvertrauen. Und so wachsen innerhalb von Grenzen eigenständiger Kultur schützende, aber auch verbindende Sphären kultureller Vielfalt und Interaktion, wie sie etwa in der Natur von einfachen Zellen in Form einhüllender Membrane entwickelt worden sind. Kulturelle Grenzen deshalb simplifizierend aufzulösen endet stets tragisch, weil es das eigene Ziel verfehlt, vor allem aber nicht not-wendig ist. Blieben aufrecht erhaltene Grenzen doch mittels (Grenz)Überschreitungen permeabel und dienten der angestrebten Vielfalt gleichsam als Furten fließender Transzendenz.

In derart  befreiter Transzendenz entstehen Bilder, die in uns und unseren Träumen geboren werden und die der Träumer der äusseren Welt hinzufügen muss; andernfalls wäre doch seine Existenz sinnlos. Und Träumer dürfen sich jedweder Sinnlosigkeit nie ergeben, wäre es doch das Ende ihrer gewollten Existenz.

Dabei handelt sich bei ihren Träumen keineswegs um seherische Visionen nach Art Rasputins, schon gar nicht um Spielarten gnostischer Erhebung. Darum geht es mitnichten. Eher um Prophetien, die sich in Tagträumen zu Bildern verdichten um von dort allmählich ins kulturelle Bewusstsein zu sickern, aber bald schon unter realer Betrachtung verblassen werden. Aber nie wieder gehen sie gänzlich verloren; sie brennen sich ein ins kollektive Bewusstsein und bilden so den Urgrund aller Gewissheiten.

Und so ist auch der Träumer nicht ganz frei von Tragik. Er versteht das eigene Wirken als fremdbestimmt. Als ein Wirken von etwas ihm selbst vom Wesen her Unbekannten - besser noch: Unverfügbaren. Es drängt sich dem Träumer förmlich  auf; entgegen aller weiterhin bestehender Zweifel.

Ist es ein höheres Selbst, etwas göttliches, das sich durch den Träumenden hindurch offenbaren möchte? In poetischer Kalligraphie wunderbar in sich ruhender Räume, in mystischer Verzückung kreiselnder Derwische, in Bildern von Heiligen und Engeln, die aus einer ewig gültigen Wahrheit geschaffen sind und weiterhin in unsere Wirklichkeit hinein geboren werden?

Antworten lassen sich nicht in bestehenden Grenzen finden. Schon gar nicht durch das Wüten im Niederreißen derselben. Im Jenseits allenfalls könnte man einst wieder fündig werden.






Das Geschehen

Soviel der langen Vorrede. In Dilmun stand es mir plötzlich wieder zur Verfügung. Längst vergangene Träume neu träumen zu können, weil mich der altertümliche Geist Dilmuns aufsuchte und meine Seele anrührt. Und ich in diesen Zustand weit vor meine eigene Zeit zurückzufinden glaube. Und aus diesem träumenden Zustand heraus unserer Zeit etwas fast schon fremd gewordenes abermals neu hinzufügen kann. Ich blättere sozusagen im Archiv meiner eigenen Träume um der Zukunft einen Tupfer neuer Farbnuance zu erträumen. Davon will ich jetzt erzählen, so wie es mir meine Träume jede Nacht und jeden Tag seit Dilmuns Blüte erzählen.


Die Narrative vergangener Zeiten, die wir heute verwerfen, weil sie uns binden, weil sie verbindlich sind, und daher den "Bilderstürmern" unserer Zeit lästig sind; will der Bildsturm sich doch frei von verbindlichen Vorgaben entfalten. Sehen wir uns das Geschehen in der Natur an, dann würde es auch die moderne Naturwissenschaft nicht bestreiten können, dass dort Innovation niemals etwas gänzlich neues ist, sondern sich eher aus einem ursprünglichen Zustand entfaltet, ohne ihn deshalb gänzlich loslassen zu können. Der Ur-Zustand ist in seiner Entfaltung immer mit eingeschrieben und sei es auch nur in winzigster Potentialität. Natur verwirft nichts. Sie erhält alles. Ihre Bausteine sind grundsätzlich unsterblich. Das Prinzip - biblisch gesprochen, das Wort - ist unsterblich. 

Erst in der Grenzüberschreitung aus der heutigen Zeit hinab in die alte Kultur Dilmuns wurde mir dieser Zusammenhang deutlich, obwohl ich ihn scheinbar schon vorher gedacht hatte. Er war mir sozusagen schon bekannt, ehe ich ihn erlebt habe. In Analogie zur Natur könnte auch in der Entfaltung des Geistigen dessen eigener Ursprung immer mitenthalten sein. Bei jedem neuen "Gedankenblitz" denke ich das Vormalige mit, vielleicht sogar ein allererstes Mal? Weil es vorher als Prinzip, als Idee, als Wort schon einmal war, noch nicht in mir war, aber doch als Ursprung immer auch in mir war, weil es schon einmal war. Ich hatte es einfach auf meinem Weg vergessen! 

Die ewige Performanz des Leben, das sich aus etwas Ursächlichem entfaltet, war mit seiner Entstehung bereits immer schon da, immer schon ewig.

Der Blick ins Performative ist so auch ein Blick ins Jenseitige, das überdauernde Bedeutungen im hier und jetzt erlebbar macht, in dem es verlorene Aspekte erneut in den Blick rückt.

Könnte es sein, dass meine Gedanken, nein vielmehr meine Träume, Youssef, Dir ein Lächeln ins Gesicht zauberten, wenn Du ihm, lieber Waheed, von ihnen erzähltest? 

Der Suq Dilmuns in Manama und ebenso der in Muharraq haben mich auf dem Fuß verzaubert und unmittelbar emporgehoben. So war ich sprachlos und habe doch ohne Unterlass geplaudert. 

Denke ich an Dilmun, so träume ich von alten Windhäusern, von weißgetünchten Wänden aus Lehm und von leichten, fein verästeten Holzdecken, und rieche kühle lehmige Luft, die unsere Sinne umschmeichelt.




Denke ich an Dilmun träume ich von Karak-Tee, den wir miteinder getrunken, an die Zeit mit Mahmoud, der uns in einem seiner Cafés anspricht mit seinen durchdringenden und doch so höflichen Augen, die unter seiner Kufiya hervorblitzen. 

Denke ich an Dilmun träume ich von der Neujahrfeier im indischen Tempel und an helles Geläut, an die fremden Göttern dargebrachten Gebete und universelle Rituale, die den vertrauenden Glauben unserer Ahnen und Urahnen wieder erfahrbar machen. 




Denke ich an Dilmun träume ich von unzähligen mit warmen, gelben Licht erleuchtenten Fußwegen, die behutsam jene stickige Abluft und jeden düsteren Lärm aus dem fortwährenden Stampfen der Moderne etwas abfedern helfen, an die vielen dunklen und versteckten Räume, die die unerbittliche Kraft der Sonnenstrahlen von unseren Gesichtern bannen wollen. 

Denke ich an Dilmun rieche ich die Gewürze, das süße orientalische Odeur, das die Menschen so ganz fremd für uns kleidet, die gutturalen Laute Eurer Stimmen beim Singen, Lachen und Tanzen, den Adhan, der Euch aus dem Getriebe reissen möchte und den ihr dennoch nicht mehr hören wollt.

Der Schadscharat al-Haya, Euer "Baum des Lebens", kündet von der Entstehung allen Leben aus der Weisheit Enkis, der Eurer Insel der zwei Seen eine ungeahnte Tiefe zu geben vermag, dem aber durch die Überlagerung von Sucht und Wohlstand aus den sprudelnden Quellen des schwarzen Pechs der Lebensatem zusehends schwindet.



Dennoch ist es die Weisheit Enkis, die das Menschengeschlecht aus Lehm erschafft, damit fortan die Menschen dem Gott der Weisheit, ihm selbst, zu dienen haben werden. Nicht als Sklaven, nein, sondern zur Erfüllung und Erhöhung ihres Selbst. Aber wie das so ist zwischen Göttern und Menschen; die Geschöpfe übertreten die Gesetze ihres Schöpfers. Sie nehmen sich allzu wichtig, sie sind laut, ja sie wollen selbst Schöpfer von Leben werden und die Natur überwinden, aus der heraus sie doch einst selbst geboren sind und die sie im Innersten immer noch trägt. 




Enki wird seinen Geschöpfen bald überdrüssug und sendet ihnen zur Bestrafung und zu ihrer Dezimierung auf eine für die Erde tragfähige Zahl die Sintflut. Auch um Ihnen Demut und Respekt gegenüber der Natur und ihrem Schöpfer wieder beizubringen, gegenüber ihr, die das Menschengeschlecht laut Schöpfungsplan ja doch erhalten muss. Unsere alten Schriften haben diesen Mythos wieder und wieder aufgeschrieben und neu an die jeweilige Zeit adaptiert. In der Kultur Dilmuns ist er vor allen Zeiten einmal erträumt worden.






Sollte der Baum des Lebens einmal vergangen sein, dann gelangt Eure reiche Kultur an ihr Ende und wir alle mit ihr.

Noch aber ist Zeit. Viel Zeit. Trotz eisgekühlter, allumfassenden ACs und Raserei auf den vielen Spuren der in den Sand Dimums aspahltierten Highways, trotz der frivolen Verlockungen in zahllosen bombastischen Malls und tausender in die Himmel wachsender Häuser.


Dennoch. Ich träume wieder lange, weite und beschwerliche Wege baren Fußes auf tiefem Sand unter schattigen Palmen, begleitet vom Singen aus Dilmuns Vögeln Kehlen, die uns leiten zu den Windhäusern im Suq. Häuser, die Deine Eltern und Großeltern, lieber Waheed, einst bewohnten, und uns dort hingestreckt auf arabischem Diwan. Geistiges Getränk legt Geschichten aus russischer Studentenschaft frei und ermuntert zu übermütiger Rückkehr in eine mutlose Despotie. Einschüchterung und Folter wird hier noch forsch ins Gesicht geblickt. 




Ich erinnere mich an den überschäumenden Lebensmut deines mit sich selbst versöhnenden und so wunderbar persischen Lachens, unseren Freunden Youssef und Ahmad lauschend. Ich, nein mein Herz, verstand sofort und meine Bewunderung ist unermesslich. Allein Dein Lachen und Dein sinnlicher Humor vermag die zweckgebundene Welt wieder zu verzaubern, im trunkenen Widerstand; ach, gäbe es doch mehr, viel mehr davon. Dort wo Widerstand zwecklos wird und Leben beginnt.

Ich träume immer von dieser alten, uralten Zeit, in denen wir einst unseren Göttern noch persönlich begegneten. Lass Dein Lachen wieder und wieder hören, Waheed! Lass es nie wieder verklingen.



Woraus wurde es geboren, Dein Lachen, das jede Zeit überdauern wird? Aus den Versen Saadis, die für uns Nachgeborene einst nachklingen werden?

Verse, die die Eingangshalle der UN in New York schmücken:  

"Human beings are members of a whole, / in creation of one essence and soul.
If one member is afflicted with pain, / other members uneasy will remain.
If you've no sympathy for human pain, / the name of human you cannot retain!" 

Große Poesie schimmert aus der Vergangenheit hell wie ein Stern in unsere Gegenwart und berührt unsere Herzen.

Die Zeit bei Euch war lang. Ebenso lang wie Euer Langmut, der so verzückend war wie Eure Gastfreundschaft. Dennoch ist die Zeit mit Euch viel zu rasch vergangen. In den vielen Stunden, mit dem Auto hin und her, scheint sie uns wie Sand zwischen den Fingern zerronnen. Dabei hätte der Suq uns vollkommen gereicht, fast um für immer in ihm bleiben zu wollen. Der wahre Reichtum Dilmuns, liebe Nadia, ist uns erst überdeutlich, mehr noch als beim Museumsbesuch, am Tag unseres ausgedehnten Flanierens im Suq Muharraqs bewusst geworden. Welche Schätze sind dort immer noch zu heben!




Früher einmal lagen die Daus vertäut an der Wasserfront, wie Du uns erzähltest, unmittelbar vor dem Hauptzugang zum Suq, um ihre Handelsgut aus fernen Ländern zu löschen. 

Die Perlentaucher fanden den Weg aus den Häusern ihrer Familien hinaus zu den Daus, nur um bei Ihrer Rückkehr vom Meer zu erfahren, dass sie sich noch weiter versklaven mussten, um die Gier der Schmuckketten nach weiß-rosa Bahrain-Perlen zu stillen und Könige und Herren mit schönen Damen zu schmücken. Eine harte und lebensbedrohende Arbeit, die in vielen sehnsuchtsvollen Liedern noch heute besungen wird. Wir durften ihnen lauschen. Ach, wie herrlich sind Eure Tänze und Gesänge!

Ein stets übervoller Tisch forderte mich, liebe Nadia, bereits früh am morgen bis in den späten Abend ausgiebig zu speisen. Wie gut schmeckte und roch es an Eurem Tisch. Endlich Fisch wieder einmal mit den Fingern essen, seinen Kopf bis in die letzten Teile zerlegen und das salzige Wasser aus ihm heraus saugen! Kein Kaviar schmeckte je besser!




Bahrainische Köstlichkeiten, wie sie würziger und süßer nicht von Dilmun künden können. Dilmun war damals ein Reich mit Millionen Palmen, die schwere Süße ihrer Datteln sammelte sich in großen Fässern und lockte vom Indus bis Mesopotamien und über deren Grenze hinaus. Und das Frischwasser Enkis, das lebensspendende Nass der göttlichen Weisheit versprach Leben über jeden Tod hinaus. Unzählige Grabhügel aus bald fünftausend Jahren künden davon und vom ehemaligen Paradies Dilmuns. 






Träume ich von der Zukunft Dilmuns, so träume ich, dass wir unsere Gewohnheiten nach Allverfügbarkeit und grenzenloser Geschwidigkeit bald schon wieder einhegen lernen. Wir werden das Geheimnis des Unverfügbaren wieder neu schätzen lernen, die Mußestunden werden sich verlorenes Terrain zurückerobern. Der kurze Rausch des Grenzenlosen wird verfliegen, Anfang und Ende wieder an Wert gewinnen. Wie es einmal war, bevor Alexander der Große aufbrach um sich die Welt untertan zu machen.

Waheed, keine Sorge wenn Du meine Träume vielleicht nicht teilen kannst. Niemand kann dies, nur Youssef in seinen Träumen; oder sollte ich mich täuschen? Warum Youssef? Weil wenige Worte waren notwendig! Ich selbst erinnerte den alten Haudegen an einen ebenso alten Bekannten, der ich nie war. So wie Youssef mich. Und ich ihn, als wir beide noch jünger waren. Zum Abschied sagte er: "Schade, dass uns nur ein Moment diesen Lebens vergönnt war." Ich glaube er irrt. Es wird ein langes Leben, dass wir vor noch längerer Zeit irgendwo in der Kultur Dilmun einmal begonnen hatten. Hier wie dort. Jenseits und diesseits unserer Grenzen.






Epilog

Was bleibt? Die Sehnsucht, dass wir uns nicht in dieser zweckgebunden Welt verlieren werden. Dass die zu allen Zeiten gelebten Leben nicht in Vergessenheit geraten und der modernen faktengläubigen Wissensgesellschaft augeopfert werden. Sobald wir unser stets begrenztes Wissen als einzige Wahrheit absolut setzen, droht das dahinterliegend durchscheinende verloren zu gehen. Das Wundern und Staunen über die Vielfalt allen Lebens, das stets mehr ist, als die Summe seiner Teile. Dieser uralte Traum, der Glaube daran, das Leben ewig sein wird, wenn es uns gelingt, längst Vergangenes und verloren Geglaubtes neu auszuheben und hinzuzufügen. Und das gelingt womöglich nur in Grenzbereichen unsere Wahrnehmung.

Der Glauben daran bedeutet unermessliches Ringen, gerade weil er die Möglichkeit des Widersprüchlichen offen halten will, selbst wenn es vom Faktischen bereits ausgegrenzt zu sein scheint.

Liebe Grüße an meinen lieben Youssef und an die vielen guten Menschen in der Zeit Dilmuns. Und wer weiß es schon: vielleicht werdet Ihr Euren Königen und Göttern einmal dafür dankbar sein, dass der Euch verbotene Teil des Paradieses immer noch Dilmuns Spuren trägt, weil ihr ihn für Eure Zwecke bislang noch nicht erobern durftet.





Danke dafür, Waheed. Danke dafür, Nadia. Und die viele Stunden, die ihr mir und meinen Freunden geschenkt habt und schenken werdet.

Georg im Ernst, tanzend und träumend

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