Aus Angst wird Wut; aus Wut wird Furcht

Die Welt erklären zu wollen ist gewiss Unsinn; sich zur wahrnehmbaren Welt politisch persönlich zu positionieren ein stets kritisches Unterfangen; es benötigt ein gewisses Maß an Naivität und Torheit; wohl aber kann selbst aus törichtem Unterfangen dann und wann Fruchtbares erwachsen. Man könnte dies auch Erfahrung von Sinnhaftem nennen und darüber hinaus zu Vermeidung voreiliger Schlüsse dienen. Wie sonst sollte man vom Leben als des einen gelingenden sprechen?

Dazu gehört wohl, dass man sich hörend von Sprache leiten lässt. In der Sprache nämlich verbirgt sich alles Sein, beschreibend, umfangend, erhellend, tröstend, allzeitliches vergenwärtigend. Hören wir auch mit dem Herzen, bevor wir sprechen? Gibt es ein Entkommen aus bodenloser Angst, dass aus ihr das Heil durch Furcht erwachse?

In der Tiefe der Sprache gehen oft Geschichten und Reflexionen zusammen, die ohne sprachliche Vergegenwärtigung auseinanderfallen in disparate Fragmente, das größere Ganze, der geistige Überbau, aus der sich Sprache vielfältig entfaltet, droht aus dem Blick verloren zu gehen. 

Indirekt dazu passend ereignete sich etwas Verstörendes aus dem Umstand des Zufalls an einem der vielen wieder neu errichteten Schlagbäume innerhalb der Freiheitsutopie Europas. An sich eine Lapalie, eine reine Formalität, an der sich allein ein Tor zu erhitzten vermag.

Mit der gleichen Torheit werden drei kurz gehalten Geschichten, besser Betrachtungen, vermengt, die gemeinsam geschaut, einen Hinweis dafür liefern können, dass Freiheit ohne Grenzen eine Utopie für immer bleiben muss. Ohne Schlagbaum nämlich muss Freiheit ihr Maß verlieren, maßlos werden.

Die erste Geschichte erzählt die Spannung innerhalb Grenzregimes eines Staates, wie sie in das je persönlich gedachte Regime einzugreifen versucht, die zweite Geschichte Verwerfungen innerhalb des Grenzregimes einer Ehe, die dritte würde davon erzählen, wie diese ineinander verwoben sind; gestrickt im je persönlichen Regime und in Frage gestellt im davon je verschiedenen Regime.

Sie muss aber noch geschrieben werden. Und ist doch lange schon geschrieben! Denn kann man wirklich ernsthaft glauben oder annehmen, dass nicht alles wichtige und unwichtige bereits gesagt ist? Die dritte Geschichte erzählt deshalb von der Wichtigkeit unserer Sprache. Gelingt es uns neben allem Sprachvermögen, auch mit dem Herzen (vorsprachlich) genauer hinzuhören, ist ganz sicher bereits alles gesagt!


Prolog: 15 Meter weit mitgeschleift 

Der 18-Jährige war in jener Februarnacht mit drei Freunden und seiner minderjährigen Freundin auf den Strichplatz in Zürich Altstetten gefahren. Den grauen Hyundai Tucson hatte er sich ohne das Wissen seines Vaters genommen. Auf dem Strichplatz machten die jungen Männer Bilder der Prostituierten, was verboten ist. Eine der Sexarbeiterinnen meldete den Vorfall, worauf eine Polizistin zusammen mit einem Kollegen die Fahrzeuginsassen kontrollieren wollte. Die Polizisten wiesen den Fahrer an, den Wagen aufeinem nahe gelegenen Parkfeld abzustellen. Zunächst schien er zu gehorchen. - Doch plötzlich legte er den Rückwärtsgang ein und drückte aufs Gaspedal. Dabei fuhr er beinahe einen Mitarbeiter von Sicherheit und Prävention Zürich an, der auf dem Strichplatz dafür sorgt, dass die Regeln eingehalten werden. 

Dann legte der junge Fahrer den Vorwärtsgang ein. Er beschleunigte den zwei Tonnen schweren SUV auf fast 40 km/h und steuerte auf den Ausgang zu. Dort stand auch die Polizistin. Das linke Vorderrad erfasste ihr Bein, die Frau prallte mit dem Oberkörper auf die Motorhaube, dann auf den Boden. Ihr Bein verfing sich im Radkasten. 15 Meter weit schleifte das Auto sie mit, bis sich das Bein vom Auto löste und vom Hinterrad überrollt wurde. Die Polizistin blieb mit lebensgefährlichen Verletzungen liegen. Der Fahrer liess sich von alldem nicht stoppen und fuhr mit dem Wagen zu seiner Freundin nach Hause. Dort wurde er später festgenommen. 

Quelle: NZZ vom 4. Januar 2024



Erste Betrachtung: Wie mich der Schrecken meines Bruders vom selbigen rettete

Lieber XXXXXXX,

zunehmend rauh scheinen die Umstände in Europa zu werden. Die Staatsmacht erhebt sich möglicherweise bald wieder zu einer unschönen Größe.

Wir kamen zurück nach Österreich über das tschechische Znajmo. Die Grenze ist wieder zu einem unliebsamen "Checkpoint" geworden. Am Vortag sind wir in Berlin mit unseren Kindern die Mahnmale des Schreckens am ehemaligen Mauerstreifen abgegangen. Reichstag, Brandenburger Tor, entlang Unter den Linden und der südlichen Friedrichstraße zum Checkpoint Charlie. Später zur Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße. 

Der Schrecken saß erneut tief in mir, mit welcher Anmaßung und welch unmenschlicher Selbstverständlichkeit wir Menschen uns von Systemen von Staatsordnung auftrennen lassen und sich bei Zuwiderhandlung gegen Erlasse erschießen lassen müssen.

Am kleinen Grenzübergang mit dem ikonischen Namen "Hate" (tschechisch, nicht englisch!) mussten wir uns also ausweisen. Ich sagte, (noch) freundlich gestimmt, guten Abend und reichte meinen Führerschein - modern in Plastikgewande gehüllt- dem unschuldigen Knaben in Polizeiuniform, meine Frau ihren Personalausweis. Diesen forderte der Knabe sogleich auch von mir. Darauf wagte ich einzuwenden: "Ich habe nicht damit gerechnet, hier eine Kontrollgrenze vorzufinden und habe daher nur den Führerschein dabei; mit ohnehin identischen Angaben zzgl. Konterfei von mir, gleich wie auf einem gültigen Personalausweis." 

"Das macht 30 Euro!", sagte der junge Mann freundlich.

"Beim nächsten Mal führe ich meinen Reisepass mit und weise mich damit aus, das verspreche ich Ihnen!"

"Das macht 30 Euro!" wiederholte jener ebenso süffisant wie penetrant.

"Das ist doch Wegelagerei; nach bald 10 Jahren freier Fahrt senken Sie urplötzlich wieder den Schlagbaum! Da kann man doch ein wenig Kulanz erwarten, oder etwa nicht?"

"Das macht 30 Euro!" penetrierte stur die Polizeiuniform. Ein Blick zu meiner Frau forderte ebenso unerbittlich Kulanz; von mir! Ich händigte also seufzend 30 Euro aus.

"Fahren Sie bitte rechts ran. Sie erhalten eine Quittung!"

"Mit der kannst Du gerne Deine Hütte tapezieren", dachte es in mir und wollte den Schalthebel unserer Automatik auf "D" für Drive stellen.

"Fahren Sie bitte rechts ran!" grinste es mir ins Gesicht.

"Du kannst mich mal!", wollte es aus mir herausbrechen. Ein Blick in die grinsende Uniform, und dann ins besorgte Gesicht Melittas, belehrte mich eines besseren.

Ich stellte den Wagen am Straßenrand ab. 

"Wenn der mich jetzt hier anwachsen lassen will und nicht gleich kommt, trete ich sicher aufs Gaspedal!" 

Meine Frau säuselte etwas wie, ich solle doch endlich die alten Introjekte meiner gewaltvollen Erziehung hinter mir lassen und den jungen Buben sehen, der nur seine Pflicht tut! Er könne doch dein Sohn sein.

"Ja, ganz wie damals am Checkpoint Charly, ausgestattet gleich mit Schießbefehl!" hämmerte es völlig überzogen in meinem Schädel.

"Ich will nachher nicht wie irgendeine Gangsterbraut von Kugeln durchsiebt im Straßengraben liegen, wenn Deine sinnlose Flucht die geballte Staatsmacht herausfordert", checkpointcharliesierte nun plötzlich auch meine Gattin neben mir.

Wie aus dem Nichts geschah in diesem Moment etwas Wunderliches. Ich blickte hinein in den Tunnel meines Selbst.

Ich sah MICH, lieber XXXXXXX, dem Erstickungstod nahe, von einem freundlich grinsenden Knaben auf den Boden gezwungen. Im Würgegriff sah ich hinter dem Auto zwei ebenso junge freundliche Uniformen stehen, fleißig eine Quittung ausstellend, die sie mir dann mit einem freundschaftlichen "Gute Fahrt!" durchs Fenster reichen.

Ich glaube, dass mir zwar denkbar knapp aber glücklich, gerade noch die Flucht in den Westen, meine selbstbestimmte Freiheit, jenseits des mich fesselnden Introjekts, gelungen ist. Weniger Glückliche - wieviele davon haben ihr Leben: dafür? - auf Spiel gesetzt!

Für mich zum Glück hast Du, lieber XXXXXXX, die Bürde des Erstgeborenen stets tapfer und scheinbar unerschrocken getragen! Hätte nicht ich ansonsten den oft verhängnisvollen Kelch (namens "hate") dort in Haté austragen müssen? Und mich an einem Buben in Uniform verschuldigt?

Ich wünsche uns allen mehr Besonnenheit und den Aufruf zum Widerstand erst dann, wenn es wirklich noch einmal notwendig werden sollte. Hoffen wir daher das Beste und fürchten das Schlimmste!

Liebe Grüße
Georg


Zweite Geschichte: Wie Gewalt sprachlos Ordnung stiften kann, die einer anderen Ordnung widerspricht

Mein Schatz,

damit Du mehr erfährst davon, wie ich mich der Welt zuwende, in der ich einerseits geschützt sein möchte, in der sich immer aber auch Abgründe entlarven, die mir Sorgen bereiten; wie uns die jüngste Vergangenheit lehren sollte.

Zuerst also Zuversicht. Immer, und an all-oberster Stelle. Weil aber diese mir innewohnende Schönfärberei stets prekär sein MUSS (weil sie sonst diesem Ideal nicht mehr entspräche), bin ich sensitiv gegenüber das Bedrohende meines Ich-Ideals. Ich will mich den Menschen zuwenden, will verhandeln, die gemeinsame Mitte suchen und scheitere notgedrungen dort, wo mir Ignoranz anlässlich meiner Besonderheit begegnet. Der Bursche in Uniform hatte hiervon keine Ahnung, wirkt schuldlos und macht sich in dieser scheinbaren Arglosigkeit doch widerrum schuldig. Nämlich die dem arglosen Sein innenwohnende Hoffnung auf Arglosigkeit auszutreiben!

Dem gütigen Vater bleibt somit nichts anderes, als lautstark auf den Tisch zu hauen, damit der prekäre Friede wieder zur wirkmächtigen Friedfertigkeit werde. Steter Tropfen höhlt hoffentlich bald schon auch den jungen Stein.


Dritte Geschichte: Wir hören nicht auf 

Viel Kraft, Selbstvertrauen und Liebe werden wir brauchen, um über die Zukunft zu sprechen, sie zu vertonen, sie zu versprachlichen, sie zu beschreiben. So oder so müssen wir unser Gefühl für Zeit, unser Gefühl für die Perspektive, unser Gefühl für Dauer wiederherstellen. Wir sind zur Zukunft verdammt, ja, wir sind sogar für sie verantwortlich. Sie entsteht jetzt aus unseren Visionen, aus unseren Überzeugungen, aus unserer Verantwortungsbereitschaft. Wir werden uns das Gefühl für unsere Zukunft zurückholen, denn in unserer Erinnerung überdauert vieles, was morgen unsere Mitwirkung erfordert. Wir alle sind Teil von diesem Strom, der uns trägt, uns nicht loslässt, uns verbindet. Wir alle sind über unsere Sprache verbunden. Und auch wenn es einen Moment lang scheinen mag, als wären die Möglichkeiten der Sprache begrenzt oder unzureichend, werden wir uns wohl oder übel doch ihrer Mittel bedienen müssen, die uns hoffen lassen, dass in Zukunft keine unausgesprochenen Dinge oder Missverständnisse zwischen uns stehen. Manchmal scheint uns die Sprache schwach. Aber vielfach ist sie es, die Kraft spendet. Vielleicht geht die Sprache für einen Moment auf Abstand zu dir, aber sie lässt dich nicht im Stich. Und das ist wichtig und entscheidend. Solange wir unsere Sprache haben, solange haben wir immerhin die vage Chance, uns zu erklären, unsere Wahrheit zu sagen, unsere Erinnerung ordnen zu können. Deswegen sprechen wir und hören nicht auf. Selbst wenn unsere Kehle von den Wörtern wund wird. Selbst wenn du dich von den Wörtern verlassen und leer fühlst. Die Stimme gibt der Wahrheit eine Chance. Und es ist wichtig, diese Chance zu nutzen. Vielleicht ist das überhaupt das Wichtigste, was uns allen passieren kann. 

SERHIJ ZHADAN 

Serhij Zhadan ist ein ukrainischer Schriftsteller und wurde 2022 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Quelle: Andere Zeiten Kalender 2024

Epilog: Dass uns ein Sanftes geschehe

Es geht um Erfahrungen, für die ich kein anderes Wort finden kann als das überschwängliche vom gelungenen Leben. In unseren besten Augenblicken, wenn vor lauter Gelingen auch das energischste Tun im Lassen aufgeht und die Rhythmik des Lebendigen spontan uns trägt, kann sich der Mut plötzlich melden wie eine euphorische Klarheit oder ein wunderbar in sich gelassener Ernst. Er weckt in uns die Gegenwart. 

In ihr steigt die Wachheit mit einem Mal auf die Höhe des Seins. Kühl und hell betritt jeder Augenblick deinen Raum; du bist von seiner Helle, seiner Kühle, seinem Jubel nicht verschieden. Schlechte Erfahrungen weichen zurück vor neuen Gelegenheiten. Keine Geschichte macht dich alt. Die Lieblosigkeiten von gestern zwingen zu nichts. Im Licht solcher Geistesgegenwart ist der Bann der Wiederholungen gebrochen. Jede bewusste Sekunde tilgt das hoffnungslose Gewesene - und wird zur ersten einer anderen Geschichte.

PETER SLOTERDIJK 

Quelle wie zuvor: Andere Zeiten Kalender 2024


"Dass uns ein Sanftes geschähe, wenn uns der Himmel berührt,
wenn seine atmende Nähe
uns ganz zum Hiersein verführt." 

JEAN GEBSER

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