Gedanken zu Hugo von Hofmannsthals "Der Schwierige"

Vorüberlegungen und noch offene Fragen:
Sendung / Empfängnis


»Semantische Überschüsse sind elitäre Marotten eines Bildungsbürgertumis, das, verschanzt hinter Suhrkamp-Bänden, seiner Bedeutungslosigkeit entgegendämmert«, war vor kurzem in einem Artikel der NZZ zu lesen mit dem Titel: Professor tote Hose - Der Punk-Pop-Star Campino hält an der Uni Düsseldorf eine Vorlesung über Literatur.
Weiteres s. Artikel ...



1) Versuch einer Einordnung

Mittlerweile sind mehr als hundert Jahre vergangen, seitdem Hugo von Hofmannsthal dem Theaterpublikum die Komödie Der Schwierige präsentieren könnte. Zehn Jahre waren vergangen zwischen der ersten erhaltenen Notiz Hofmannsthals im Dezember 1909 und dem Abschluss des dritten Aktes August 1920. Dazwischen lagen nicht nur Hofmannsthals Arbeit an vielen anderen Bühnenwerken u.a. seine bekanntesten mit dem Libretto zu Johann Strauss Oper Der Rosenkavalier und dem Jedermann, sondern auf weltpolititische Bühne die Katastrophe des Ersten Weltkriegs mit seiner folgenreichen Nachkriegsordnung und dem Zerfall einer ehrwürdigen europäischen Zentralmacht, der habsburgischen Doppelmonarchie, quasi gleichbedeutend einer Implosion aus einem facettenreichen  Vielvölkerstaat in ein politisch weitgehend unbedeutendes Fragment, dem heutigen Österreich. Mit dem Staatswesen drohte auch dessen reiches kulturelle Vermächtniss im täglichen Vollzug in Vergessenheit zu geraten.

Andererseits war die Hoffnung groß, das aus dem Zerfall der alten Ordnung eine neue, bessere und umfassendere Friedensordnung hervorgehen könne. Denn steckt nicht in jeder Krise ein Neubeginn? Neue Chancen?

Hofmannsthal Denken blieb skeptisch. Sein Blick richtete sich  vor allem auf den drohenden Verlust. Als Schriftsteller musste er die aufkommende Sprachkrise fürchten, er sah sie deutlich vor Augen, die sich infolge des politischen Unwälzungen über das alte Europa legen würde. Die Krise wurde zu seiner persönlichen Krise, die sein schriftstellerisches Schaffen auf neue Bahnen leiten würde. Hofmannsthal wählte dafür einen ebenso ungewöhnlichen wie anspruchsvollen Weg.

Das Programm für diesen Sonderweg entwarf der achtundzwanzigjährige Hofmannsthal bereits im Jahr 1902 mit seinem legendären Aufruf im Brief des Lord Chandos an Francis Bacon. Den Inhalt könnte man einerseits als ein Epitaph jener untergehenden Gesellschaftordnung nennen, andererseits aber auch als notwendigen Aufruf zum Schaffen neuer zeitgemäßer literarischer Ausdrucksmöglichkeiten. Denn aus jedem (sprachlich-politischen) Zerfall würde sich eine neue Ordnung etablieren müssen unter dem Schirm einer gänzlich neuen Sprachordnung, einer neuen Prosa, einer neuen Poesie, so seine Hoffnung. Dazu musste Hofmannsthal zunächst einmal die kulturellen Fundamente schriftstellerisch durchforsten. Nicht im Sinne revolutionärer moderner Programmatik, getragen vom Nihilismus jener Zeit, das sich dadaistisch, expressionistisch und in wurzellosen futuristischen Strömungen sprachlich Geltung verschaffen würde; das konnte Hofmannsthals Weg nicht sein. Sein Weg musste ein philologisch inspirierter Sonderweg sein, ein in metaphysisches Empfinden getauchtes poetische Weltgefühl in tiefer Verhaftung in griechischer und deutscher Klassik; dieses Erbe durfte nicht auf dem Altar der Moderne aufgeopfert werden, sondern sollte mit tauglichen Stilmitteln neu begründet begründet. Darin würde sich das Kunstverständnis Hofmannsthals messen lassen müssen.


2) Das hypermoderne Vermächtnis Hofmannsthals

Im Jedermann etwa trachtete er jenes Erbe mit dem religiösen christlich-jüdischen Vermächtnis neuerlich zu verknüpfen. Im Rosenkavalier versuchte er die schillernder Epik aus dem Vermächtnis des habsburgischen Hauses mit klassisch-modernem Musikschaffen Richard Strauss  anzureichern. Beiden Werken wohnt von Grund auf eine besonnene und gütige Sicht auf das Vergangene ein, die sich mit feinem Humor und sanfer Ironie bis in unsere heutige Zeit hinein Geltung zu verschaffen weiß.

Zur Unterscheidung der Begrifflichkeiten wird heute auch explizit von Wiener Moderne gesprochen; man könnte - das Vermächtnis Hofmannsthals bedenkend - gar den Begriff Hypermoderne (griech. ὑπέρ = in übertriebenem Maß, mehr als richtig, gut, oder normal) einführen oder auch Metromoderne (griech. μέτρον = Vers), d.h. einem eigenen Rhythmus folgend, aus zweierlei Gründen.

Erstens kann man dem Werk  Hofmannsthal aufgrund seines metaphysisch angelegten Bezugspunktes einen gewissen Impuls zur Überzeitlichkeit zusprechen - paradigmatisch zu erkennen im als Mysterienspiel angelegten Jedermann: das Spiel vom (ewigen) Sterben des reichen Mannes.
Zweitens durch einen Bezug zum mittelhochdeutschen Versmaß:
«Hofmannsthals Drama (Jedermann) ist vollständig in Versen gehalten; das Versmaß ist durch die nicht immer gleiche Zahl von unbetonten Silben dem Knittelvers ähnlich, der für die mittelhochdeutsche und frühneuhochdeutsche Dichtung typisch ist. Die Sprache hat insgesamt eine mittelhochdeutsche Färbung. Man kann annehmen, dass Hofmannsthal hier, wie im fast zeitgleich entstandenen Rosenkavalier eine Art „imaginäre Sprache“ schaffen wollte, die eine bestimmte Stimmung der Vergangenheit heraufbeschwört, ohne diese historisch rekonstruieren zu wollen»¹.

Selbst das in Prosa verfasste Theaterstück Der Schwierige enthält zu dieser mittelhochdeutschen Dichtung, wenn auch indirekt, einen Rückbezug. Durch eine unscheinbare Replik auf das Wesen vom Narrenspiel, das dem Stück einen gewichtigen Ankerpunkt gibt. Mehr in Form von Metaphern und Zitaten auf einer höheren Ebene, die in allen Theaterstücken Hofmannsthal eine gewichtigen Rolle spielen. Dazu später mehr.

Ein weiterer Kunstgriff ist methodisch-struktureller Natur. Die Sprache Hofmannsthal ist stets zeichenhaft und durchzieht all seine Werke. Beim Jedermann wird dies durch die Einführung allegorischer Figuren vollzogen, die eine dem irdischen Sein weitestgehend entzogene Metaebene "bespielen" und stets zu realen Figuren im Stück antagonistisch angelegt sind.

(Im Rosenkavalier bilden sich auf einer Art Metaebene Prinzipien des Seins ab; es ließe sich durchaus ein Bezug zum klassischen Götterhimmel im griechischen Olymp herstellen, der auf der Bühne als reale Spielfiguren dessen zeichenhafte Ensprechung finden.)

Mit solcherlei Methodik scheint Hofmannsthal förmlich einen Pflock einschlagen zu wollen gegen einen umfassenden Zerfall jener Werten, die sich über zwei Jahrtausende im christlichen Abendland etablieren konnten, und die mit Nietzsches enigmatischen Aufruf "Gott ist todt!" die abendländische Kultur in seinen Grundfesten erzittern lassen würde.

Das Moderne am Bühnenwerk Der Schwierige

Am Schaffen Hofmannsthals ist bemerkenswert, wie Hofmannsthal seine Werke mit eigenem seltsam anmutenden Sprachstil ausgestaltet. Sie biedert sich nicht an, wird nicht geopfert jedwedem allgemeinen modischen Trend einer umfassenden Modernisierungsabsicht, die verwegen daran glauben wird - ja, förmlich muss! -, mit einer revolutionären technisch-soziologischen Umwälzung sämtliche Fallstricke von Unheil verhindern zu können! So naiv war Hofmannsthal nicht und wollte daher einen anderen Weg einschlagen. Paradigmatisch dafür die Gesellschaftskommödie Der Schwierige. Und in gewisser Weise darf man Hofmannsthals Ansatz wie oben beschrieben als hypermodern ansehen, mit der er, kulturelle Wurzeln bedenkend, die Sprache gegen den Trend mit Poesie anreichert, die gleichzeitig verhüllt und entlarvt, spielt und verspielt, schöpft und erschöpft; dazu alles köstlich garniert mit bewusst anti-modischer Ästhetik.


3.) Schwieriger Sprache auf den Grund fühlen

Nicht der von allen geschätzte Bohémien Graf Brühl wäre imstande glaubhaft das Fortbestehen gesellschaftlicher Ordnung zu entwerfen, nicht der alte Mann, sondern ein viel jüngeres Mitglied jener Gesellschaft, eine weitverzweigte Verwandte, Helene (man denke auch an die Rolle des Octavian im Rosenkavalier). Die junge Helene wird eingeführt in das Stück mit mahnenden Worten zum drohenden Zerfall einheitsstiftender Sprache: »Wir haben alle Ursache, wir jüngeren Menschen, wenn uns vor etwas auf der Welt grausen muß, so davor: daß es etwas gibt wie Konversation: Worte, die alles Wirkliche verflachen und im Geschwätz beruhigen.« (II. Akt, 1. Szene). 

Das geniale an Hofmannsthal Entwürfen ist die ungeheure Großzügigkeit, mit der er Sprache an sich entfalten lässt. Und so gelingt es Hofmannsthal in seinen Stücken kritische Distanz zu wahren. Man könnte meinen, Hofmannsthals Sprache moralisiere nie, ließe alles zu; denn gewiss: jedes Geheimnis enthüllt sich quasi in der Verwendung von Sprache selbst. So hinterlassen die Figuren in seinen Stücken Spuren ihrer Sprache, in der sich dahinterliegende Absichten offenbaren, die zwar zu verschleiern und abzulenken versuchen, doch - mal mehr, mal weniger - zu fast monströsen Resultaten führen. Gewissemaßen gehen alle Personen ihrer selbstgewählten Sprache auf den Leim; und folgen - von machtheischerischer Sprache geblendet - ihrem allmählichen Untergang, dem man als Zuseher voyeuristisch und fassungslos zusehen darf mit welcher bedingungslosen Konsequenz diese sich dabei exibitionieren. Ausgenommen Graf Brühl und Helene, denen es zu gelingen scheint, im hintertreibenden Reigen gleichmütig, aber stets pointiert, tenue zu bewahren. Eine zum Geschehen indiffernte Haltung, in der füreinder - und für einen Neuanfang - ein möglicher Ausgang aus tragischem Schicksal versucht werden kann; gerade weil: »Zwei so komplizierte Menschen, das tut kein gut.« (Crecence I. Akt, 3. Szene). Eine geradezu schicksalhafte Notwendigkeit erfüllt sich in jenem befreienden Zufall, dem aller Anfang innewohnt und der den Impuls zum Ewigen in sich trägt. Bei Hofmannsthal wird dieser schicksalshafte Umstand in einzigartiger Sprache federleicht formuliert:

»HANS KARL     ( ... ) Wenn ich an unsern Anfang denke, so ist mir das etwas so Zartes, so Mysterioses, ich getraue mich kaum, es vor mir selbst zu denken. Ich möchte mich fragen: Wie komm’ ich denn dazu? Hab’ ich denn dürfen? Aber
sehr leise
ich bereu’ nichts. 

ANTOINETTE
senkt die Augen
Aller Anfang ist schön. 

HANS KARL    In jedem Anfang liegt die Ewigkeit.«

Worte haben die Eigenschaft zu binden; sobald sie in der Welt sind, ist ein Anfang gesetzt; jedoch mit ungewissem Ausgang, wie Antoinette bald erfahren wird müssen. (Wie anders diese Entwicklung hingegen im Dialog mit Helene! - siehe weiter unten) Hans Karl und Antoinette sprechen nicht mit der gleichen Sprache, weil sich Absichten hinter den Worten verbergen, die kein gemeinsames Ziel haben. Zwar wäre zum Zeitpunkt ihres Dialogs einiges möglich; Notwendigkeiten jedoch verbieten jede weitere zärtliche Annäherung. Darüber hat Hans Karl "draussen" Rechenschaft ablegen müssen:

»HANS KARL    In jedem Anfang liegt die Ewigkeit.

ANTOINETTE  ohne ihn anzusehen  Sie halten au fond alles für möglich und alles für erlaubt. Sie wollen nicht sehen, wie hilflos ein Wesen ist, über das Sie hinweggehen — wie preisgegeben, denn das würde vielleicht Ihr Gewissen aufwecken. 

HANS KARL    Ich habe keins. 

Antoinette sieht ihn an. 

HANS KARL    Nicht in bezug auf uns. 

ANTOINETTE    Jetzt war ich das und das von Ihnen — und weiß in diesem Augenblick so wenig, woran ich mit Ihnen bin, als wenn nie was zwischen uns gewesen wär'. Sie sind ja fürchterlich. 

HANS KARL    Nichts ist bös. Der Augenblick ist nicht bös, nur das Festhalten-wollen ist unerlaubt. Nur das Sich-festkrampeln an das, was sich nicht halten laßt — 

ANTOINETTE    Ja, wir leben halt nicht nur wie die gewissen Fliegen vom Morgen bis zur Nacht. Wir sind halt am nächsten Tag auch noch da. Das paßt euch halt schlecht, solchen wie du einer bist. 

HANS KARL    Alles was geschieht, das macht der Zufall. Es ist nicht zum Ausdenken, wie zufällig wir alle sind, und wie uns der Zufall zueinander jagt und auseinander jagt, und wie jeder mit jedem hausen könnte, wenn der Zufall es wollte. 

ANTOINETTE    Ich will nicht — 

HANS KARL  spricht weiter, ohne ihren Widerstand zu respektieren  Darin ist aber so ein Grausen, daß der Mensch etwas hat finden müssen, um sich aus diesem Sumpf herauszuziehen, bei seinem eigenen Schopf. Und so hat er das Institut gefunden, das aus dem Zufälligen und Unreinen das Notwendige, das Bleibende und das Gültige macht: die Ehe.
( ... )
Das ist eine heilige Wahrheit, die weiß ich - ich muß sie immer schon gewußt haben, aber draußen ist sie erst ganz deutlich für mich geworden: es gibt einen Zufall, der macht scheinbar alles mit uns, wie er will - aber mitten in dem Hierhin- und Dorthingeworfenwerden und der Stumpfheit und Todesangst, da spüren wir und wissen es auch, es gibt halt auch eine Notwendigkeit, die wählt uns von Augenblick zu Augenblick, die geht ganz leise, ganz dicht am Herzen vorbei und doch so schneidend scharf wie ein Schwert. Ohne die wäre da draußen kein Leben mehr gewesen, sondern nur ein tierisches Dahintaumeln. Und die gleiche Notwendigkeit gibt's halt auch zwischen Männern und Frauen — wo die ist, da ist ein Zueinandermüssen und Verzeihung und Versöhnung und Beieinanderbleiben. Und da dürfen Kinder sein, und da ist eine Ehe und ein Heiligtum, trotz allem und allem -«
(II. Akt, 10. Szene)


Entlarvung durch Zuwendung

Allzuschnell wird gerichtet und geurteilt. Die gerichtete Ausgrenzung irritierender Haltungen - Bassessen werden sie hier genannt - schafft Identität. Was sich bis heute zunehmend zu etablieren scheint; Hofmannsthal seziert diese Unart menschlicher Selbstermächtigung genussvoll in seine Einzelteile. Er entlarvt dieses unwürdige Spiel mit der Enthüllung dahinterliegender Absichten der jeweiligen Protagonisten anhand ihrer stets zielorientierten Konversation, die dem Wirken von schöpferischen Zufällen kaum Raum zu schenken vermag.
Kein Protagonist entkommt diesem Zielkonflikt. Weil es wenig opportun erscheint, kritische Zurückhaltung zu üben. Am prägnantsten wird dies an zwei Figuren im Stück exemplifiziert: in der Figur des neuen Dieners Vinzenz und der Graf Theophill Neuhoff. Während Graf Brühl unmittelbar erkennt, dass gegen die Anmaßung Vinzens, der gleich in der ersten Szene vollkommen distanzlos seine Absichten offenlegt, kein Kraut gewachsen ist - "Unmöglicher Mann. Auszahlen. Wegexpedieren!", I. Akt, 5. Szene - scheint er dem anderen, Graf Neuhoff, immerhin eine gewisse Haltung und Stil zuzugestehen (Auftritt Neuhoff im ersten Akt). Schließlich aber wird auch er seiner absichtsvollen Selbstentäußerung erliegen (HANS KARL »Er hat Geist,aber es wird einem nicht wohl dabei.« I. Akt, 13. Szene); Antoinette und Helene weisen ihn schließlich mit deutlichen Worten in die Schranken.


4.) Fragen zur zeitgemäßen Inszenierung der Komödie

Wie ein zeitloses Mantra scheint jene wunderbar zarte Kadenz "Es ist ein Mann, bei dem die Natur, die Wahrheit alles erreicht und die Absicht nichts." (I. Akt, 12. Szene) über dem ganzen Stück zu schweben, mit der Helene auf die nicht gänzlich uneitle und deshalb auch widersprüchliche Aura des Grafen Brühl hinweist, die dem gesamten Stück seine Triebfeder gibt. Graf Brühl, eine zutiefst melancholische Seele, die jedoch bemerkenswerter Weise nie aufbegehrt, nie richtet, eher Eindrücke aus verschachtelten Konversationen zu sammeln scheint; innerlich zutiefst aufgewühlt infolge einer kurzen, existentiell bedrohlichen "Verschüttung" im Felde, scheint er darob intensiv sehend und fast ein wenig entrückt über dem üblichen gesellschaftlichen Gebahren zu schweben (ein Schelm, der dahinter nicht auch eine Hofmannsthal'sche Allegorie etwa auf Saulus Damaskuserlebnis zu erkennen vermag!).

Sind es, wie oben dargestellt, im Jedermann allegorische Figuren, im Rosenkavalier in Spielfiguren entwickelte Prinzipien, so entwickelt sich Der Schwierige anhand von Begrifflichkeiten, die sich jeweils im Gebrauch von Sprache offenbaren und die nach und nach eingeführt werden: Absichten, Deszens, Zufall, Wahrheit, Notwendigkeiten, das Bleibende, das Gültige etc.


Das Spiel des Narren

Ein weiterer feiner Kunstgriff von Hofmannsthal ist die Einführung des dummen August in der Person Furlani, die nur im Gespräch auf der Bühne lebendig wird. Niemand anderes kann damit gemeint sein, als die Verkörperung einer Parsivalfigur. Der reine Tor Wolfram von Eschenbachs auf der Suche nach dem heiligen Gral! Hier verspinnt Hofmannsthal den Geist des ritterlichen Mittelalters mit dem endzeitlichen Anspruch höheren Kunstwesens u.a. im Schaffen Richard Wagners. Aber wie wunderbar leicht wird hier wieder dieses Werk Eschenbachs im Gegensatz zur Erdschwere moderner Auslegung Mitte des 19. Jahrhunderts: "Für mich ist ein solcher Mensch eine wahre Rekreation ( ... ) Er outriert nie, er karikiert auch nie. Er spielt seine Rolle: er ist der, der alle begreifen, der allen helfen möchte und dabei alles in die größte Konfusion bringt, ( ... ) und dabei behält er eine Elegance, eine Diskretion, man merkt, daß er sich selbst und alles, was auf der Welt ist, respektiert, er bringt alles durcheinander, wie Kraut und Rüben; wo er hingeht, geht alles drunter und drüber, und dabei möchte man rufen: »Er hat ja recht!«"
(Hans Karl im II. Akt, 1. Szene)

Der Hofmannsthal'sche Bezug auf das Narrenspiel hat die Wirkung mindestens einer zweifachen Spiegelung. Denn das was Hans Karl über Furlani sagt, vermeint er in Wirklichkeit über sich selbst. Der direkte Weg über die Absicht erreicht nichts wirklich, führt niemals zur Freiheit des Seins. Sie bindet statt zu entbinden. Erst durch den Zufall fällt uns Freiheit zu (1. Spiegelung). Und was Hans Karl sagt, reklamiert dessen Schöpfer in seinem Schaffen für sich: es fällt auf Hofmannthal zurück! (2. Spiegelung). Der Weg, auf dem wir gehen, vervielfältigt sich über die Spiegelungen. Hofmannsthal sieht sich als Geschöpf seiner Zeit, seines Denkens, seiner Provenienz Sie findet so ihr Ziel bis hin zum Anfang aller Schöpfung, von der aus alles verflochten ist durch Zufall und Notwendigkeit.


Das göttlich-dämonische Element menschlicher Freiheit

Wie Hofmannsthal in vielen Einzelgesprächen die Figur Graf Neuhoffs sich entwickeln lässt und in deutliche - nie überdeutliche! - Opposition zur Figur Graf Brühl bringt ist meisterhaft. Das dialektische Denken Hegels wird hier mit überaus feiner Klinge seziert; Nietzsches Wille zu Macht im gleichen Atemzug. Neuhoff scheint ebenfalls in gehobener Sprache zu sprechen; und spricht doch eine gänzlich andere Sprache. Sie trieft vor Selbstermächtigung und Selbstmitleid.

Gleich der Beginn des Dialogs zwischen ihm und Helene kündet davon:

Helene mit Neuhoff treten von rechts herein. Man hört eine gedämpfte Musik aus einem entfernten Salon.

NEUHOFF  hinter ihr  Bleiben Sie stehen. Diese nichtsnutzige, leere, süße Musik und dieses Halbdunkel modellieren Sie wunderbar.

HELENE  ist stehengeblieben, geht aber jetzt weiter auf die Fauteuils links zu  Ich stehe nicht gern Modell, Baron Neuhoft.

NEUHOFF    Auch nicht, wenn ich die Augen schließe?
Helene sagt nichts, sie steht links. 

NEUHOFF    Ihr Wesen, Helene! Wie niemand je war, sind Sie. Ihre Einfachheit ist das Resultat einer ungeheuren Anspannung. Regungslos wie eine Statue vibrieren Sie in sich, niemand ahnt es, der es aber ahnt, der vibriert mit Ihnen.
Helene sieht ihn an, setzt sich.

NEUHOFF    nicht ganz nahe Wundervoll ist alles an Ihnen. Und dabei, wie alles Hohe, fast erschreckend selbstverständlich. 

HELENE    Ist Ihnen das Hohe selbstverständlich? Das war ein nobler Gedanke.

NEUHOFF    Vielleicht könnte man seine Frau werden — das war es, was Ihre Lippen sagen wollten, Helene! 

HELENE    Lesen Sie von den Lippen wie die Taubstummen? 

NEUHOFF  einen Schritt näher  Sie werden mich heiraten, weil Sie meinen Willen spüren in einer willenlosen Welt. 

HELENE  vor sich  Muß man? Ist es ein Gebot, dem eine Frau sich fügen muß: wenn sie gewählt und gewollt wird? 

NEUHOFF    Es gibt Wünsche, die nicht weit her sind. Die darf man unter seine schönen rassigen Füße treten. Der meine ist weit her. Er ist gewandert um die halbe Welt. Hier fand er sein Ziel. Sie wurden gefunden, Helene Altenwyl, vom stärksten Willen, auf dem weitesten Umweg, in der kraftlosesten aller Welten. 

HELENE    Ich bin aus ihr und bin nicht kraftlos. 

NEUHOFF    Ihr habt dem schönen Schein alles geopfert, auch die Kraft. Wir, dort in unserm nordischen Winkel, wo uns die Jahrhunderte vergessen, wir haben die Kraft behalten. So stehen wir gleich zu gleich und doch ungleich zu ungleich, und aus dieser Ungleichheit ist mir mein Recht über Sie erwachsen. 

HELENE    Ihr Recht? 

NEUHOFF    Das Recht des geistig Stärksten über die Frau, die er zu vergeistigen vermag. 

HELENE    Ich mag nicht diese mystischen Redensarten. 

NEUHOFF    Es waltet etwas Mystik zwischen zwei Menschen, die sich auf den ersten Blick erkannt haben. Ihr Stolz soll es nicht verneinen. 

HELENE  sie ist aufgestanden  Er verneint es immer wieder. 

NEUHOFF    Helene, bei Ihnen wäre meine Rettung — meine Zusammenfassung, meine Ermöglichung!

Geübte Sprache in aristokratischer Form (d.h. in höchster Beherrschung, s. Etymologie) verabscheut solche Bedingungen und muss sie daher ausschließen: 

HELENE    Ich will von niemand wissen, der sein Leben unter solche Bedingungen stellt! Sie tut ein paar Schritte an ihm vorbei; ihr Blck haftet an der offenen Tür rechts, wo sie eingetreten ist. 

NEUHOFF    Wie Ihr Gesicht sich verändert! Was ist das, Helene?
Helene schweigt, sieht nach rechts.

NEUHOFF  ist hinter sie getreten, folgt ihrem Blick  Oh! Graf Bühl erscheint auf der Bildfläche!  Er tritt zurück von der Tür  Sie fühlen magnetisch seine Nähe — ja spüren Sie denn nicht, unbegreifliches Geschöpf, daß Sie für ihn nicht da sind?

HELENE    Ich bin schon da für ihn, irgendwie bin ich schon da!

NEUHOFF    Verschwenderin! Sie leihen ihm alles, auch noch die Kraft, mit der er Sie hält.

HELENE    Die Kraft, mit der ein Mensch einen hält — die hat ihm 
wohl Gott gegeben. 

NEUHOFF    Ich staune. Womit übt ein Kari Bühl diese Faszination über Sie? Ohne Verdienst, sogar ohne Bemühung, ohne Willen, ohne Würde

HELENE    Ohne Würde! 

NEUHOFF    Der schlaffe zweideutige Mensch hat keine Würde. 

HELENE    Was für Worte gebrauchen Sie da? 

NEUHOFF    Mein nördlicher Jargon klingt etwas scharf in Ihre schöngeformten Ohren. Aber ich vertrete seine Schärfe. Zweideutig nenne ich den Mann, der sich halb verschenkt und sich halb zurückbehält — der Reserven in allem und jedem hält — in allem und jedem Berechnungen — 

HELENE    Berechnung und Kari Bühl! Ja, sehen Sie ihn denn wirklich so wenig! Freilich ist es unmöglich, sein letztes Wort zu finden, das bei andern so leicht zu finden ist. Die Ungeschicklichkeit, die ihn so liebenswürdig macht, der timide Hochmut, seine Herablassung, freilich ist alles ein Versteckenspiel, freilich läßt es sich mit plumpen Händen nicht fassen. — Die Eitelkeit erstarrt ihn ja nicht, durch die alle andern steif und hölzern werden — die Vernunft erniedrigt ihn ja nicht, die aus den meisten so etwas Gewöhnliches macht — er gehört nur sich selber — niemand kennt ihn, da ist es kein Wunder, daß Sie ihn nicht kennen!"
(2. Akt, 13. Szene)

Im weiteren Verlauf des Dialogs dieser Szene entlarvt sich die Würdelosigkeit schicksalshaften Denkens. Fast prophetisch nimmt sich die Weitsicht in Hofmannsthals Denken aus. Wir schreiben das Jahr 1921! Die -ismen der Neuzeit (die bereits Nietzsche prophetisch zutiefst verachtete!) sollten sich noch weit tiefer verstricken; niemand kam diesem Entsetzen sprachlich näher als Hugo von Hofmannsthal; erst mit Ödön von Horvaths Jugend ohne Gott würde der letzte Sargnagel in das Fleisch der Geschichte getrieben werden, in dem das Machtvakuum nach dem Zerfall der bestehenden Ordnungen im habsburgischen Fin de Siècle auf den Brettern der Theaterbühnen aufgearbeitet wird. Allegorisch bereits verdichtet in den Gemälden Hans Markarts und ihre Hinfälligkeit feiernd mit dem Abschied von der altehrwürdigen Ringstraßenepoche.


5.) Die reife Beziehung

Denkwürdig auch wie Hofmannsthal das thematisch zentrale Element, nämlich die deszente Liebesbeziehung zwischen dem alternden Graf Brühl und der jugendlichen Helene inszeniert. Das spießbürgerliche Gebahren aller Figuren, die mit ihren selbstbezogenen Absichten in den Konversationen des Stückes hausieren gehen, wird nicht skandalisiert. Statt mit der Moralkeule kraftheischend zu arbeiten - die überlässt Hofmannsthal gerne anderen Autoren jener Zeit (und in seinem üppigen Vermächtnis Autoren unserer Zeit!) - wird hier ohne Bagatellisierung ironiesiert, zart überzeichnet, abgewogen und bis an die Grenzen von Verständnis für gut bewogen; nicht jedoch die Bedeutung absoluter Notwendigkeiten aufrechter Beziehungen in Frage gestellt, sondern klar umrissen. Diese Notwendigkeit definiert sich in einem Wort: Verbindlichkeit. Das Wort muss nicht fallen; es wird in ungemein dichter Sprache umschrieben.

Und so entspinnt sich im Netz der Begrifflichkeiten ein amüsantes Verwirrspiel, in dem alle viel verstanden zu haben meinen, wenige jedoch Erkenntnis über dieses vergebliche Bemühen erlangen. Im Schwierigen bleiben schließlich die beiden Hauptfiguren Hans Karl und Helene übrig, die sich eben dadurch, dass sie sich ihre vermeintlichen Schwächen zugestehen (wenngleich dies der jeweils andere ganz anders sehen würde), zueinanderfinden. Dass es am Ende Helene sein wird, die das Zepter des Handelns in die Hand nimmt, können die Neuhoffs unserer Zeit sich bestenfalls wünschen; es wird nicht geschehen. Das distinguierende Wesen Hans Karl allerdings fordert es geradezu heraus.
Die achte Szene im dritten Akt, in der die Spielfiguren wie von magischen Kräften ineinander gezogen werden, kündet davon. Nichts daran ist frivol; die pornographische Zeit noch fern, aufgeladen mit feiner Erotik wirkt das Treffen allemal. Helene entkleidet sich (macht sich wahrhaftig) gleich zu Beginn, bleibt sprachlich jederzeit aber bestimmt und würdevoll. 

Helene ist durch die unsichtbare Tür links herausgetreten, im Mantel wie zum Fortgeben. Sie wartet, bis Crescence und Stani sie nicht mehr, sehen können. 

Gleichzeitig ist Flans Karl durch die Glastür rechts sichtbar geworden; er legt Hut, Stock und Mantel ab und erscheint. Helene hat Hans Karl gesehen, bevor er sie erblickt hat. Ihr Gesicht verändert sich in einem Augenblick vollständig. Sie läßt ihren Abendmantel von den Schultern fallen, und dieser bleibt hinter der Treppe liegen, dann tritt sie Hans Karl entgegen. 

HANS KARL betroffen Helen, Sie sind noch hier? 

HELENE hier und weiter in einer ganz festen, entschiedenen Haltung und in einem leichten, fast überlegenen Ton
Ich bin hier zu Haus. 

HANS KARL Sie sehen anders aus als sonst. Es ist etwas geschehen! 

HELENE Ja, es ist etwas geschehen. 

HANS KARL Wann, so plötzlich? 

HELENE Vor einer Stunde, glaub’ ich. 

HANS KARL unsicher Etwas Unangenehmes? 

HELENE Wie? 

HANS KARL Etwas Aufregendes? 

HELENE Ah ja, das schon. 

HANS KARL Etwas Irreparables? 

HELENE Das wird sich zeigen. Schauen Sie, was dort liegt. 

HANS KARL Dort? Ein Pelz. Ein Damenmantel scheint mir. 

ff.



Aphorismen und besondere Textstellen aus Der Schwierige

«... er kennt nichts Eleganteres als die Art, wie du die Menschen behandelst, das große air, die distance, die du allen Leuten gibst — dabei die komplette Gleichmäßigkeit und Bonhomie auch gegen den Niedrigsten — aber er hat natürlich, wie ich auch, deine Schwächen heraus; er adoriert den Entschluß, die Kraft, das Definitive, er haßt den Wiegel-Wagel, darin ist er wie ich!»
I. Akt, 3.Szene S. 18


»Mir kommt bei Konversationen auf die Länge alles sogenannte Gescheite dumm und noch eher das Dumme gescheit vor ...«
I. Akt, 3.Szene S. 23

»Eine kleine Dosis von Unwahrheit ist den Frauen sehr sympathisch.«
I. Akt, 13.Szene S. 46

»CRESCENCE    Ich find’ die berühmten Männer odios, aber ihre Frau’n noch ärger. Darin bin ich mit dem Kari einer Meinung. Wir schwärmen für triviale Menschen und triviale Unterhaltungen, nicht Kari?

ALTENWYL    Ich hab’ darüber meine altmodische Auffassung, die Helen kennt sie. 

CRESCENCE    Der Kari soll sagen, daß er mir recht gibt. Ich find’, neun Zehntel von dem, was unter der Marke von Geist geht, ist nichts als Geschwätz. 

NEUHOFF  zu Helene  Sind Sie auch so streng, Gräfin Helene? 

HELENE    Wir haben alle Ursache, wir jüngeren Menschen, wenn uns vor etwas auf der Welt grausen muß, so davor: daß es etwas gibt wie Konversation; Worte, die alles Wirkliche verflachen und im Geschwätz beruhigen. 

CRESCENCE    Sag, daß du mir recht gibst, Kari! 

HANS KARL    Ich bitte um Nachsicht. Der Furlani ist keine Vorbereitung darauf, etwas Gescheites zu sagen. 

ALTENWYL    In meinen Augen ist Konversation das, was jetzt kein Mensch mehr kennt: nicht selbst perorieren, wie ein Wasserfall, sondern dem andern das Stichwort bringen. Zu meiner Zeit hat man gesagt: wer zu mir kommt, mit dem muß ich die Konversation so führen, daß er, wenn er die Türschnallen in der Hand hat, sich gescheit vorkommt, dann wird er auf der Stiegen mich gescheit finden. - Heutzutag hat aber keiner, pardon für die Grobheit, den Verstand zum Konversationmachen und keiner den Verstand, seinen Mund zu halten - ah, erlaub’, daß ich dich mit Baron Neuhoff bekannt mache, mein Vetter Graf Bühl.

( ... )

ALTENWYL    Die Edine ist eine sehr gescheite Frau, aber sie will immer zwei Fliegen auf einen Schlag erwischen: ihre Bildung vermehren und etwas für ihre Wohltätigkeitsgeschichten herausschlagen. 

HELENE    Pardon, Papa, sie ist keine gescheite Frau, sie ist eine dumme Frau, die sich fürs Leben gern mit gescheiten Leuten umgeben möchte, aber dabei immer die falschen erwischt. 

CRESCENCE    Ich wundere mich, daß sie bei ihrer rasenden Zerstreutheit nicht mehr Konfusionen anstellt. 

ALTENWYL    Solche Wesen haben einen Schutzengel.«
II. Akt, 1.Szene S. 57f

»HELENE  zu Hans Karl  Sie haben ihn so gern, den Furlanı? 

HANS KARL    Für mich ist ein solcher Mensch eine wahre Rekreation. 

HELENE    Macht er so geschickte Tricks? Sie setzt sich rechts, Hans Karl neben ihr.

HANS KARL    Er macht gar keine Tricks. Er ist doch der dumme August! 

HELENE    Also ein Wurstel? 

HANS KARL    Nein, das wäre ja outriert! Er outriert nie, er karikiert auch nie. Er spielt seine Rolle: er ist der, der alle begreifen, der allen helfen möchte und dabei alles in die größte Konfusion bringt. Er macht die dümmsten »lazzi«, die Galerie kugelt sich vor Lachen, und dabei behält er eine Elegance, eine Diskretion, man merkt, daß er sich selbst und alles, was auf der Welt ist, respektiert, er bringt alles durcheinander, wie Kraut und Rüben; wo er hingeht, geht alles drunter und drüber, und dabei möchte man rufen: "Er hat ja recht!"«
II. Akt, 1.Szene S. 59

ANTOINETTE    Wenn man nur das Raffinement von der Helen hätt’, die lauft ihm nach auf Schritt und Tritt, und dabei schaut’s aus, als ob sie ihm aus dem Weg ging.
( ... ) 
Wenn die Helen in meiner Situation wär’, die wüßt sich zu helfen. Sie macht sich mit der größten Unverfrorenheit einen Paravent aus dem Theophil, und dahinter operiert sie.
( ... )
So bleibt’s doch hier, so gebt’s mir doch einen Rat, so sagt’s mir doch, was ich tun soll. 

HUBERTA    Die Crescence kommt. Nimm dich zusammen. 

ANTOINETTE  vor sich  Lieber Gott, ich kann sie nicht ausstehen, sie mich auch nicht, aber ich will jede Bassesse machen, weil sie ja seine Schwester is’.
II. Akt, 3.Szene S. 67f


Weiteres Quellmaterial:
Im Kulturbetrieb wird zuviel Moral gepredigt - Roman Bucheli NZZ vom 19. April 2024

«Solche Bücher, die uns glücklich machen», so schrieb Franz Kafka dem Freund Oskar Pollak im Januar 1904, «könnten wir zur Not selber schreiben.» Doch wer braucht schon so etwas? «Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?», so Kafka in seinem Brief. Will heissen: Wozu brauchen wir Kunst oder Literatur, wenn sie uns nicht herausreissen aus unsere. Denk- und Sehgewohnheiten, wenn sie uns nicht einen anderen Blick lehren? 

Gewiss, das war zu Zeiten rigider Moralvorstellungen und Weltbilder einfacher. Ben Vautier würde heute mit seinem schlichten Satz kaum mehr eine Debatte auslösen, höchstens heftiges Kopfnicken oder energisches Stirnrunzeln. Die Gegenwart scheint nicht gemacht zu sein für die Subtilitäten des Kunstschaffens. Sprich: Reibung entsteht heute: nicht dort, wo Künstler mit ihren eigenen Mitteln arbeiten, mit den Ambivalenzen der Sprache oder mit dialektischer Selbstbefragung erstarrter Bilder. Der Kulturbetrieb hat sich - man vergebe mir die Vereinfachung - zweigeteilt. Hier die ausgeruhten Werke, die uns glücklich machen können, wie es Kafka nannte, und die wir nicht wirklich brauchen und die wir, wenn wir sie brauchten, notfalls auch selber zustande brächten. Und dort die Aktivisten, die eine Agenda verfolgen; die jenseits aller künstlerischen Mehrdeutigkeit ein einfältiges Weltbild propagieren. Sie wissen, wer die Bösen und die Dummen . sind, wo die Täter und wer die Opfer sind. Sie haben die Moral, ihre Moral, auf ihre Fahnen geschrieben. Man konnte das in den letzten Jahren am hiesigen Schauspielhaus in manchen Produktionen erleben. So erhielt das Publikum unlängst in Frischs «Biedermann und die Brandstifter» eine volkspädagogische Belehrung vorgesetzt, in der sich die Moral zur Überlebensgrösse aufblies, während die schon bei Frisch etwas dünn angelegte künstlerische und intellektuelle Substanz noch weiter aus| gedünnt wurde. | Doch was aktivistischer Opportunismus in der Kunst bedeutet, wurde einem nirgends in jüngster Zeit so drastisch und mit brutaler Konsequenz vor Augen geführt wie an der letzten Documenta in Kassel. Von Hakenkreuzen bis zu antisemitischen Emblemen wurde ein breites Arsenal an einschlägigen Parolen aufgeboten, um einen Standpunkt zu markieren, der längst jenseits der vom Grundgesetz garantierten Redefreiheit lag. 

Dass sich nur allmählich und fast widerwillig Protest regte und gegen die despotischen Manifestationen im Namen der Kunst vorgegangen wurde, ist das eine; dass kaum jemand an der künstlerischen Armseligkeit dieser Artefakte Anstoss nahm, das andere. Es zeigte sich eine eklatante Schwäche im Umgang mit Kunst: Kaum einer mehr wagt sich aus der Deckung und benennt schlechte Kunst als solche - wenn denn die Urteilsfähigkeit in diesen Dingen überhaupt noch vorhanden ist. ( ... ) Zu viel Moral, manche würden sagen: Moral überhaupt hat der Kunst schon immer geschadet. Wer für das Gute kämpft, soll nicht in die Kunst gehen. Dafür gibt es NGO. Aber Kunst sollte wieder im emphatischen Sinn des Wortes unmoralisch werden. Sie kann es sein, wenn sie sich ihrer Gewissheiten entledigt und auf einfache Antworten oder plakative Bilder verzichtet. Dann kann ein Buch oder ein Bild «die Axt sein für das gefrorene Meer in uns», von der Kafka in seinem Brief an Pollak ebenfalls schreibt. 

Darin liegt eines der grossen Kunstmissverständnisse: Es könne nur das Laute oder Schrille, das Obszöne oder Verbotene jene ästhetische Erfahrung hervorbringen, die auch eine existenzielle Erschütterung auszulösen vermag. Dabei trifft das Gegenteil zu: wenn etwa ein leises Stottern auf der Bühne bohrende Selbstzweifel andeutet, die sich im Innenohr zum Sturm entfachen. Auch Beethoven ist mitunter da am erschütterndsten, wenn er fast verstummt. Und kaum einmal wird die Verletzlichkeit des Menschen deutlicher als in Giacomettis filigranen Skulpturen Oder in Marina Abramovics Performances. 

Die Moral wird hier nicht gratis mitgeliefert. Sie liegt im Auge des Betrachters. Sie entsteht da, wo das Werk den Betrachter herausreisst aus seinen Gewohnheiten, aus seinem Denken, wo es ihn herausfordert, selber zu denken.»

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