"Ich habe den Regenschirm vergessen"
»Ich habe den Regenschirm vergessen«.
Dieser Satz macht in Bezug Pilgerreise wenig Sinn; Pilger mit Regenschirm? Lächerlich!
Jedoch, so ganz abwegig ist das Bild “Pilger mit Schirm" nicht, denn das Bild lässt sich mit einer tragisch-amüsanten Geschichte verknüpfen, von der Thomas Hürlimann in seinem Büchlein Nietzsches Regenschirm erzählt.
Darin tritt Friedrich Nietzsche im Sommer 1881 in Sils Maria aus dem Haus, blickt in den Himmel, denkt sich diesen Satz, und bricht zu einer Wanderung auf, in der sich Wunderliches ereignen wird .
*Ein kurzer Abriss des Buches wird noch ergänzt*
Die Geschichte von Nietzsches Regenschirm führt direkt in den Garten meines Cousins Max, seiner Frau Nadine und ihren Kindern. Ein naturbelassener, nichtsdestoweniger sorgsam von ihnen gehüteter Garten. Und im Zentrum schwebt ein Schirm über dem Garten, nachgebildet einer herkömmlichenIn Klemmleuchte, allerdings im Maßstab von etwa 10:1 größer als sein Original:
Eine Arbeit von Max, ein gelernter Schmied, gesegnet mit vielen weiteren Talenten: Donauschiffer, Bauhandwerker, Gärtner und vieles mehr. Ein höchst praktischer Mensch nicht nur, darüberhinaus auch kunstfertiger Hand-Werker!
Ein Schirm — dies ist seine ureigentliche Aufgabe — bietet Schutz von oben und verschafft in Max und Nadine's Garten den Pflanzungen darunter eine eigentümliche Friedfertigkeit; dem Besucher offenbar ... Kunsthandwerk und Natur treffen sich hier allegorisch, in höchst nachvollziehbarer und beschaulicher Anmut.
Im Juli 2023 durfte ich die Hochzeit von Max und Nadine mitgestalten. Meine Aufgabe sollte sein, die beiden beim Eintritt in den Gesichtskreis ihrer bestehenden Gemeinschaft zur Ehe begleiten, die sie in vielfältiger Weise symbolisch aufzuladen gedachten. Obwohl mir die Symbolik darin selbst fremd schien, erkannte ich an der Durchführung eines speziellen rituellen Habitus jene festen Willen, der über eine rein instrumentelle Vernunft hinausgehen würde. Ein Wille, der sich willentlich vom kulturell eigentlich festgeschriebenen christlichen Sakrament für die Ehe zwar absetzen, dennoch aber ebenso wie dieser alle Mächte und Wesen zu bemühen suchte, ihrer jungen Familie Hoffnung auf Glück und Wohlergehen schenken zu wollen. Im Vollzug einer Feier in freiem Ritus, jenseits jedweder fest definierter Dogmatik.
Die Feier wurde so zu einer Feier des persönlichen Dialogs. Sowohl Max als auch Nadine wollten nicht willenlose Empfänger einer eher fremden Zwecken dienenden Zeremonie sein, sondern den Ritus selbst mitgestalten, indem sie jeden einzelnen Schritt ihrer Eheschließung behutsam für sich selbst und für alle nachvollziehbar zu machen. So folgte die Zeremonie einer ganz eigenen, wundersamen Ästhetik, die sich vor den anwesenden Gästen und dem Familienkreis mehr als symbolisch, nämlich höchst e i n d r ü c k l i c h entfaltete.
Zu meiner eigenen Überraschung rezitierte Max - »Georg wünscht es sich von mir!«- den Vers 7 aus dem Psalm 124: »Unsere Seele ist wie ein Vogel dem Netz des Jägers entkommen; das Netz ist zerrissen und wir sind frei!« Ich hatte es Max freigestellt, diese Worte zu sprechen; war es doch ihre Zeremonie! Ob Max ein gewährender Mensch ist - er ist es im höchsten Maß - und mir so eine Gefallen tun wollte, oder ob er die Worte zuvor meditiert hatte und erkennen konnte, dass wenige Worte "Freiheit" (Freiheit wozu?) so poetisch zum Ausdruck bringen können wie eben dieser Psalmenvers. Freiheit ist keine Einbahnstraße, sondern in gewissen Sinne eine übergroße Verpflichtung zu eigenständigem Leben.
Ist Freiheit absolut gesetzt, droht sie sich in Widersprüchen zu verlieren, gerät oft geradezu bodenlos und kann so ihr Ziel nicht erreichen.
Nietzsche hatte dies vor 150 Jahren erkannt und daraufhin den Menschen seiner Zeit zugerufen, ich zitiere frei: »Frage nicht w o v o n Du dich befreit hast, sage mir w o z u !«
Menschlichen Denken und Empfinden ist ohne den oft bohrenden Zweifel kaum denkbar; diesem gegengeschaltet ist die Sehnsucht nach umfänglichen Frieden und trügerischer Sicherheit. Vereinfacht lassen sich zwei Aspekte menschlicher Weltauffassung und Selbstdeutung verifizieren, »einen instrumentellen (durch die Beherrschung der Natur) und einen symbolischen (in einer Dramatisierung von Gesellschaftlichem und Individuellen)«¹
Von jeher dienen beide Aspekte der 'Einkleidung' eines aus grassierender Weltschau im Subjektivismus getragenen, seit der grundlegenden Arbeit Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horckheimer, endgültig dargelegten, 1944 veröffentlichten Sichtweise, »dass der Mensch von Natur aus gesellschaftlich ist; Gesellschafen sind 'symbolische', nicht 'natürliche' Ordnungen, sie transformieren Natur in eine symbolische Ordnung, d.h. in Kultur. Eine vollständige Harmonie des Menschen mit der Natur gab es nie, das Gleichgewicht ist 'prinzipiell prekär'.«²
Das aber ist eine andere Geschichte ...
Jedoch der Kreis jedoch schließt sich hier zu Nietzsches Regenschirm. Am Ende seiner Wanderung erlebte er in Turin, wie eine Schindmähre, vor einen schwerbeladenen Karren gespannt, gnadenlos mit der Peitsche angetrieben war ... bis sie plötzlich in sich zusammenbrach. Für Nietzsche wurde diese Szene zu einem Gleichnis menschlichen Lebens; es erbarmte ihn diese hoffnungslos überforderte Kreatur, dass er selbst — will man dieser Erzählung Glauben schenken — weinend dem Pferd um den Hals fiel und Bäche von Tränen ob dieser leidenden Kreatur vergoß.
Ich für meinen Teil will auf meiner Fahrt keine Tränen vergießen, trotz aller Anstrengung, denn: hat je ein Maultier sich beklagt über schwere Lasten?
Eine nachtr 'Belohnung' für die Begleitung ihrer Hochzeit erhielt ich gleich zu Beginn meiner Reise. Max hatte auf meine Bitte hin mit viel handwerklichen Geschick einen Wanderstab umgeschmiedet zum einzigen seiner Art: mit handgetriebenem Aufsatz für Spieß auf unwegsamen Gelände und Gummipuffer auf festem Grund, in wenigen Handgriffen in den einen oder anderen verwandelt. E i n Stock für a l l e Gegebenheiten, auf die ich treffen würde!
Ab sofort fühlte ich mich von meinem Wanderstab 'geführt': »Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab, sie geben mir Zuversicht.« Psalm 23,4
¹ Christoph Jamme »Gott hat an ein Gewand«, Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, S. 167
² Ebd.
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