Lifestyle eines Nomaden - Versuch einer Dekonstruktion

"Wenn der Vogel sein Nest verlässt, dann fliegt er; wenn der Mensch sein Zuhause verlässt, erinnert er sich", war vor wenigen Tagen in einer Zeitung zu lesen (NZZ 27.04.2020 - Nikola Madzirov).  Diese schöne Anapher  steht keineswegs im Widerspruch zur eher werbenden Anaphorik eines Möbelhauses; "Wohnst Du noch, oder lebst Du schon". Weil in beidem zeigt die Vielfalt im Wesen unserer Lebensform. Menschen leben in städtischen Kulturen seit über 4.000 Jahren und benötigen existentiell wie essentiell Sicherheit in ihrer Versorgung aus regelmäßigen Erträgen der fruchtbaren Felder bäuerlicher Kultur. In unserer Zeit könnte längst - so scheint es zumindest mit den Möglichkeiten moderner, technisierter Kulturen - dieses Streben nach Sicherheit in den Hintergrund getreten sein.

Exakt das Gegenteil ist der Fall. Sicherheit droht sich zum absoluten Diktum aufzuwerten. Ist das nicht paradox? Keineswegs, sind doch die uns bestimmenden Narrative ebenso alt wie die Menschengeschlechter und beherrschen daher alle Zivilisationen. Weiter unten wollen wir sie mit dem groben Blick eines Nomaden in Form einer kleinen Genealogie in Augenschein nehmen.

Hier an dieser Stelle geht es um einen spekulativen Blickwechsel durch Annäherungen an ein anderes Narrativ, das einst einmal für die weitere Zivilisationsgeschichte bestimmend war und vielleicht wieder werden könnte. Laufen wir also zurück in die Zeit vor die Kultur des Sesshaften. In die Zeit der umherziehenden Menschen. Wir werfen einen scharfen Blick auf ihn. Und fragen uns gleichzeitig, was es mit dem Sesshaften auf sich hat. Beide Existenzmodelle gibt es bunt durchmischt in vielerlei Ausprägungen und Mischformen auch heute noch. In einem allerdings kritischen Missverhältnis.

Nennen wir die einen (Existentialisten) hier ruhig einmal Vaganten. Sie ziehen von Ort zu Ort. Bleiben und Gehen. Staunen und Entdecken. Finden Zeit für sich beim Umherziehen. Und gehen auf in der Metapher des Wurzelgeflechts, im Rhizom. Sesshafte Naturen tragen die Gene des Vaganten selbstverständlich ebenso in sich. Nur haben sie kaum noch Zeit für sich. Sie haben sich radikal aus einem vaganten Schicksalsgeflecht in eine Metapher vom Baum des Wissens erhoben. Veränderung ist quasi unmöglich und so verlieren sie sich in der Zeit, weil sie keinen Weg gehen, sondern bleiben. Sie tauschen Sicherheit gegen Abenteuerlust. Wissen gegen Zufall. Sie bauen sich perfekte, strahlende Eigenheime, nicht allein für sich, sondern gleich für alle weiteren Generationen. Aus diesen heraus verschaffen sie sich gegenüber den daherlaufenden Vaganten Geltung. Zeigt sich doch an ihren Fetischen die Größe ihrer Opfer, die sie bereit sind in harte Arbeit zu stecken. Nur ein Schelm dächte gleich an Frohnarbeit.

So werden minütlich Baumärkte und Möbelhäuser, Tankstellen und Supermärkte gestürmt, die Küchen und Zufahrten, Garagen, Nebengebäude und Gärten erhalten obszöne Dimensionen. Das Schwimmen in den Weiten der Meere, dieses wunderbare Freiheitsgefühl, wird in lächerlich kleine, ebenso hautauflösende wie blaue Becken verschoben. Verhören wir uns oder hören wir richtig, wenn sie von Lifestyle schwafeln, wenn sie nachts vom Untergang träumen?

Und so wundert es nicht, dass wir es beim Sesshaften inzwischen mit einer Karikatur eines Wesens zu tun haben, das sich permanent eigenmächtig das wegnimmt, was es sucht. Zeit. Er sucht sie in Aktionspreisen des Handels und lustigen Angeboten von Städtereisen für einen Euro. Er rast rastlos um die Welt und kommt doch nie an. Zum Wohle, vormals der Kirchenbänke, heute der sterilen Praxen von Therapeuten aller Art, die ihren Klienten glaubhaft versichern wollen, dass sie auf dem richtigen Weg seien, dies und jenes noch versuchen sollten.

Wie wäre es zum Beispiel damit, dass Du endlich erwachsen wirst? Dann musst Du nicht mehr hinschauen auf Dein Elend, das Deine Kinder mit einem kurzen Blick bereits entlarvt haben, bevor Du ihnen so lange erzählen wirst, wie toll doch das Leben im Wohlstand ist, solange bis sie es irgendwann selbst einmal glauben. Damit der wahrhaft ewige Geist nie zur Ruhe kommen kann, indem er das Geschenk der Freiheit mit Füßen tritt, das Geschenk des Lebens, das ihn ursprünglich einmal weit wegtragen sollte. Die Erinnerung durch die Geschichte an all das verhindert das Fliegen, mit dem man sein Nest verlässt um bald darauf ein neues bauen zu lernen. Bullshit, schreit der Anglizist. Weiter so, der Kabarettist.

Der Vagant? Staunt. Weil er arbeitet nicht. Oder nur das Nötigste. Er sitzt am Tisch, trinkt, isst, plaudert, philosophiert. Er will sich nichts (oder nur das Allernötigste) aneignen. Schließlich, sobald er fertig ist mit Trinken, Essen, Plaudern und Philosophieren, weil an einem Ort bald alles gesagt ist und er bald allen bekannt ist, sucht er rasch das Weite, bevor auch ihm die Zeit schwindet. Er lässt (bis auf das Allernötigste) alles zurück und wandert oder fährt ein bisschen herum. Bis er im Irgendwo einen neuen Ort entdeckt, der ihn wieder zum Staunen bringt. Er stellt sich (und das Allernötigste) auf den Boden, schaut ob er trägt, ob dort geschossen wird, ob es dort etwas zu trinken, essen, plaudern und philosophieren gibt. Und sofern die argwöhnischen Sesshaften dieses Ortes nicht sofort die Peitsche ihrer Ungeduld schwingen, verkürzt der Vagant mit den Erzählungen seiner Reise bald die Zeit der Sesshaften. Ein Schelm, der dabei nichts Gutes denkt.

Und so geht es munter weiter, Schritt um Schritt, Ort zu Ort, Haus zu Haus. Der ewige wunderbare Kreislauf der Zeitlosigkeit nimmt erst ein Ende, wenn der Vagant mitten im besten Leben umkippt. Einfach umkippt. Und sich als Futter der Natur selbst adelt. Er zerstreut sich aus Liebe in die Natur, weil es die Zeit so gut mit ihm wollte. Nicht so die Sesshaften. Wütend und ruhelos wird in höchster technischer Kunst Intubiert, Implantiert, Infiltriert, Penetriert, Kakophoniert, Perfektioniert, Onaniert, damit sie nicht so einfach und scheinbar würdelos wie ein Vagant umkippen. Für eine fadenscheinige Würde wird stattdessen ein schöner letzter Aufenthaltsort neben der Kirche in einer fein gezimmerten Holzschachtel imaginiert. Bewacht von einem polierten Stein in schwunghaft einziselisiertem Namen nebst banalem Spruch für eine vage Zeitlosigkeit. Die Zeit, die sie im Leben verloren haben, wird hier lustigerweise zur Ewigkeit erhoben.

Es lebe der Vagant! Und sei es auch nur noch so einen winzigen Moment...


Der vagante Blick aus dem Wesen des Expressionismus - eine Fragestellung
 

Quizfrage: Was ist die beliebteste moderne Kunstrichtung, der beliebteste Stil? Viele würden auf den Impressionismus tippen: stille Seerosenteiche und blühende Mohnfelder, belebte Boulevards und mondäne Ladys mit eindrucksvollen Hüten. Doch die Reise durch die Bilderuniversen des Internets, das Surfen auf Pinterest und Instagram, lässt einen anderen Schluss zu. In immer neuen Varianten begegnen uns dort: rosa Wolkenmeere, wüstenartige Ebenen, unwirtliche Stadtplätze, bevölkert von traurigen Gliederpuppen, Marionetten, aus Eiern schlüpfenden Fabelwesen, Augen ohne Gesicht, Gesichter ohne Augen und immer wieder kombiniert mit halbnackten und nackten Frauenkörpern, mal vollständig, mal kopflos, mal nur als Torso. 

Die Fragestellung findet der Vagant mit einem Blick in die NZZ vom 30.04.2020. Phantastische Frauen, wo seid ihr? von 
CHRISTIAN SAEHRENDT




Eine kleine Genealogie des Nomadischen (unfertig, aber weiter im Entstehen)

Sesshaftigkeit ist der Beginn allen Übels. Im Davor ist alles gut. Ausreichend Platz ist vorhanden. Alles Leben lebt im Garten der Natur. Sonne und Regen ist (noch) alles. In einer späteren Zeit würde man unterscheiden lernen. Das Paradies in Frage stellen müssen. Jetzt noch, wo es saftig grünt, warten Früchte. Früchte versammeln allerlei Lebewesen. Aus dem Blick auf diese ensteht ein Bedürnis nach Jagd. Der beste Jäger: der Nomade. Der Schöpfungsplan perfekt. Ein Rädchen greift ins andere, selbst wenn es sie zu jener Zeit noch nicht gibt. Es gibt keine Verwendung für sie. Die kommt viel später. Jahreszeiten wechselten verlässlich, der unendlich tiefe Nachthimmel leuchtet voll unzähligen Sternen. Licht gibt es im Paradies noch nicht. Ausser über der Erde leuchtet die Sonne.

Religiöse Menschen und Theologen dürfen einmal kurz weghören. Der Gottesfrevel will kurz einmal aufleuchten. Hätte der Schöpfer die perfekte Welt erschaffen wollen, hätte er nie seinen eigenen Kinder, die seines Ebenbildes, den Auftrag geben dürfen, sich die Welt untertan zu machen. 

Entweder hatte sich also im Menschen ein kleiner Programmierfehler seiner Software breit gemacht, oder der Schöpfer einen anderen Auftrag eingeschrieben. Das Ebenbild eines allmächtigen Gottes darf sich nicht auflehnen gegen den Schöpfervater? Da stimmt etwas nicht.




Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Hochzeit Max&Nadine

Der Schleier des Nichtwissens; Bob Dylans lyrische Prophetie (i.p.)

Der Teufel fährt aus frauJEDERmann - und ist doch noch nur eine vage Idee vom Geschehen...