Die Entscheidung. Wird sie uns treffen, oder wollen wir sie (gemeinsam) treffen? - Ein Tagebuch

Melite! o Melite!, himmlisches Wesen!

beschwor einst der zeitlose Hölderlin seine Muse und sinnierte über das Licht des Südens. Freiheit, die er im Unerreichbaren suchte. 

So blieb er, der das Leben nicht, wenn nicht in absoluter Freiheit träumen wollte, in seinem Dichterturm gefangen. Immerhin sah er ins Antlitz des tragischen Scheiterns und dichtete darob in lyrischer Hoffnung: "Wo aber die Gefahr ist, wächst / das Rettende auch".

Er blieb Gefangener der eigenen Seele. Gleich wie wir alle, ein jeder auf die ihm zugedachte Weise.

Hoffnung jedoch gibt es allein im Handeln, wandelnd und träumend im Turm. Bloßes Tun ohne Wandlung? Ohne die Hoffnung auf Erlösung vom Immergleichen?

Nachdem der olympische Wettkampf den verdienten Sieger mit Lorbeer bekränzt, müssen sich die Verlierer neuerlich für kommende Wettkämpfe rüsten. Oder den Ort der Schande verlassen.

Jetzt, meine geliebte Melite, in der Nacht, nach dem Tag der Entscheidung im Wettkampf der Generationen, wartet auf uns erneut die Morgenröte. Was wird sie bringen?

Für mich, wie den Dichter des Hyperion, wäre es eine schreiende Enttäuschung, sollte sich ausgerechnet jetzt, in der Nacht nach der Entscheidung herausstellen, dass dein ewiger Traum nach eigener Scholle lediglich ein emotionaler Ausbruch sei, den ich stets je mehr zweifelte, je lauter es der verzweifelte Schrei einforderte.

Jetzt, nachdem mein Vater DICH überreich beschenken möchte, indem er seinem Sohn aus eigener Not das Geschenk verweigern muss, zielen DEINE Träume nach jämmerlichen Pavillons der Illusionslosigkeit, zu denen Du uns verdammen möchtest? Ich bin erschüttert.

Jüngst fragtest Du mich, ob ich es bereits wagte, meine Worte in einen Song zu kleiden. Nein, dies ist nicht meine Art. Es wäre eine Enttäuschung für mich. Denn wäre der Song so weit, dass ich ihn singen könnte, wäre die Hoffnung dahinter längst fort. 

Die tägliche Morgenröte jedoch bleibt Verheißung: wenn sie den Schleier der Nacht enthüllt und den neuen Tag mit ihrem frischem Licht füllt, wächst die Hoffnung. Hoffnung, die in neuem Licht erstrahlen wird.

Ich sehe den Ort, der auf uns wartet. Ein kleines, ungemein baufälliges Haus - Holz von guten Bäumen sei seine Substanz -, welches wachgeküsst werden möchte. Wenigstens alter Bruchstein, der auf lange Sicht die Bresche freigibt, aus dem neues Holz Licht in warmer Stube verheißt. Das wird uns gute, lange, arbeitssame Jahre abfordern. Ich fände endlich wieder Arbeit, die ich nirgend anders lieber fände. Ausser in der Bearbeitung von Holz. Und dem Schlagen von Holz, damit die Wärme im Ofen unser Herz erwärmte.

Die Scholle freut sich auf deine tatkräftigen, in der Berührung ausgesuchter Stellen doch so zarten Hände, die ein Meer von Blumen und weite Rabatte voller Beeren und Kräutern ziehen. Uns das täglich Brot backen, das wir müde von schwerer Arbeit abends vor dem Feuer im Ofen in köstlichem Mahl zu uns nehmen, bevor wir gemeinsam unter warme Federn schlüpfen.

Jetzt sehe ich es deutlich vor mir: die ersten Jahre noch im Bauwagen, in unserem Wohnmobil, das sich als bestes Geschenk meines lieben Vaters herausstellen wird. 

Täglich, im Winter in festen Stiefeln, im Sommer rasch auf zwei Rädern, führt uns der Weg zum alten Trafikanten, der bereits von weitem freundlich mit der neusten Ausgabe meiner Gazette winkt und zur jungen Bauersfamilie, von einer Schar von Kindern umgeben, bei denen wir für uns von Kühen und Ziegen frische Milch und köstlichen Rahm für den ersten Kaffee des Tages erbitten. Und die gar gut durchwachsenes Fleisch für den köstlichen Schmaus einmal im Festjahr für uns bereit halten.

Unsere Kinder werden uns besuchen kommen. Häufig hoffentlich, weil ein schönerer Ort ward in Österreich ganz sicher nie gesehen. Unsere Enkelkinder werden nie mehr aus unseren Gärten nahe des murmelnden Nasses fort wollen, aus unserm Paradies voller Vögel, Falter, Katzen und Hopplas. Der frische Erdbeerkuchen mundete ihnen niemals besser. Von Mahl zu Mahl.

Und sicher. Es bliebe die Zeit für unser Sinnen und für unser Schreiben. Ich für die Anbetung des Lichts, Du für die Trauer der Verlorenen.

Schaffen wir es gemeinsam, den Traum der Morgenröte zu träumen? Oder lässt deine Liebe doch nur unmittelbar räumliche Nähe zu Deinen Söhnen zu? Ihrem Atem lauschen? Jederzeit? Das Rauschen ihres Blutes riechen? Und das mit dem Blick der Vergänglichkeit aus banalem Pavillon heraus? 

Verlangen nicht vor allem deine Patienten nach absoluter Verlässlichkeit?  Abseitigkeit in Elegien heilender Worte? Biederkeit, die ihren Schützlingen Heimat eines kurzen Lebens schenken will? Wäre das der Preis? Es tut mir leid, Geliebte. Ich erblicke darin nichts als Furor einer Despotie, die im Gewand verlogener Heiligkeit ein Spinnennetz der Abhängigkeiten webt. Die ein Leben in Freiheit nicht atmet, sondern dem Zorn des Todes huldigt.

Biederkeit als Feigenblatt? Doch eher als züngelnde, einer Schlange gleichenden Eva? Doch nicht als Maria Dolorosa, das in den Himmel (der Freiheit) erhöhte himmlische Wesen? Melite, die den Schmerz der Geburt lernte, und doch um nicht mehr sucht, als den Schmerz des Todes?

Schloss sich Hölderlin in den einsamen Turm, weil ihn diese Fragen damals quälten wie heute mich? Hatte er es bereits verloren, ein Glück, das mir immer noch hold scheint? Ich spüre jetzt schon den Verlust, der entsteht, wenn man sich trennen muss, so wie du damals. Ist es das, was du mich zu spüren lassen suchst?

Oder bist Du doch bereit den nächsten Weg mit mir zu gehen? Radikal hinaus ins Ländliche, fern vom lärmenden Staub der Stadt, hinaus aus dieser wohl wunderbaren Stadt, die uns nicht mehr will? Ich bin bereit. Mehr bereit denn je. Lieber heute noch als morgen...

Freiheit, Hölderlin, Freiheit! Du im Turm: kannst Du sie riechen?



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