Ein Plädoyer für mehr... "Schmutz"?

"Das Leben lebt. Wir sind mal unten, mal sind wir oben", lautet es richtig und weise aus einem christlichen Gebet. Das Leben will gelebt werden.

Verständlicherweise suchen wir stets das Beste für uns. Der Glanz, der von uns ausgeht, fällt auf uns zurück. Die Anerkennung anderer tut uns gut. Die (unhinterfragte) Liebe, die wir zu schenken bereit sind, bereichert unser Leben.

Schwieriger wird es, wenn wir für unser Leben bewundert werden. Wenn unser Selbst größer sein soll, als es tatsächlich sein kann. Neid, Missgunst, Hass werden rasch Begleiter des schönen Selbst. In alle Richtungen.

So könnte man die Vertreibung aus dem Paradies ausdeuten mit einer Ausformung des dualistischen Denkens. Würde man eine nomadische Lebensart eher vergesellschaften mit einem Aufgehobensein in einer geschöpften Natur, so widersetzt sich der moderne, sesshafte Mensch dieser. Er will mehr. Nicht die quälende Abfolge von Jahreszeiten, Tag und Nacht, der Veränderung im Aussen der Natur ist sein Begehr. Jetzt und Gleich lautet sein Credo. Unmittelbare Bedürfnisbefriedigung sein Ziel. Die Folge daraus: Schulden an die Natur.

Diese Schuld nagt am Selbstsein des modernen Menschen. Er flieht sich in Moral, in ein Ideal, wie das Leben sich zu konstiturieren hätte, damit das Wohl immerdar sei.

Diese Betrachtung ist ganz sicher grob holzschnittartig. Jedoch wird sie von tiefer Erkenntnis getragen. Das Ideal des Reinen, der fortdauernden Gesundheit mit Ziel des ewigen Lebens formt und trägt unsere Kultur. Und an dieser Stelle könnte man neu reflektieren, wie es weiter gehen könnte mit Natur und Kultur. Das Sinnen über ein mögliches Szenario für die kommende Zeit.

Deshalb plädiere ich provokant wieder für mehr...nennen wir es doch einfach...Schmutz. Liegen lassen statt sofort Wegräumen. Nicht unmittelbar Aufwischen und Desinfizieren. Lernen wir schiefe Misstöne zu hören, statt an immergleichen Harmonien zu verzweifeln. Es mag eine Kränkung für uns Menschen sein, das unser Selbst lediglich Subsitut des eigentlichen Lebens sein könnte, das in unseren Körpern zum Tanzen kommen möchte. In Form einer unüberschaubaren Zahl an Zellen, die unser körperliches und (vielleicht auch) geistiges Leben konstituieren. Selbst die eitle Selbstschau auf unsere Intelligenz ist - so gesehen - vermutlich in körperlichen Prozessen aus dieser Vielfalt an Zellen organisiert. 

Man könnte daher formulieren: die Vielfalt dieser Zellen repräsentiert lediglich die vielfältige Ausprägung der Natur in unseren Körpern. Die es zuzulassen gilt.

Evolutionäre Entwicklung des Lebens: Austausch und Inkorporation bislang unbekannter Lebensbausteine von stets mutierenden Viren und Bakterien. Bedeutet: Stress, Krankheit und auch Tod zur Bildung neuen Lebens. Ein ewig andauernder, progredienter Prozess. Aus sich selbst heraus. Ein wahrhaft unglaubliches Wunder.

Es scheint fast absurd. Jedoch könnte der Einbruch von Convid-19 in unser gesellschaftliches Leben eine Zäsur bedeuten. Die Mutation von Viren ist nichts anderes als Enfaltung von Leben. Wie die Geburt weiterer Kinder. Der Virus wird mittels Impfung oder durch Autoimmunisierung in das Leben inkorporiert.

Aber auch geistig wäre das Zulassen von mehr Schmutz hilfreich. Nicht irgendein platonische Ideal sei anzustreben. Die Aufrechterhaltung eines Ideals erfordert massiv den Einsatz von Energie. In der thermodynamischen Berechnung sind Ideale Gift für die Natur zugunsten von mehr Kultur. Der Ausweg fände sich im Suchen nach dem Optimum der aristotelischen Mitte. Auch dieses Suchen kostet Energie. Vergleichsweise jedoch weitaus weniger als das Aufrechterhalten eines Ideals, wie es sich etwa in der ungebremsten Mobilität allen Lebens denken lässt.

Die Mitte wäre ein Äquilibrium, das die (gesunde) Kultur mit der (vorgefundenen) Natur versöhnen will. Kultur darf sich demnach nicht endlos an der Natur verschulden. Sonst wehrt sich diese mit der Ausbildung von Krisen. Klimakrisen, Pandämien, Umweltkatastrophen.

Die gute Nachricht lautet. Wir haben noch viel Zeit. Zeit für Zukunft. Wie werden wir sie gestalten? Für uns und mit uns? Werden wir die von uns mitgestaltete Zukunft überleben? 

Wäre es so, dass die Schöpfung aus dem Geist der Vernunft für den Geist der Vernunft eine Zukunft schaffen will, dann müsste allein das Überleben der Menschheit ihr Ziel sein. 

Ist gar ein periodisches Übersterben Plan der Schöpfung? Oft ist von Tragekapazitäten der Erde als Lebensraum zu lesen. Wäre selbst hier ein Äquilibrium, selbst mit Schwankungen in hohen Potenzen, ein mögliches Ziel von Schöpfung? 

Nicht Tag und Nacht, Monat und Jahr, Jahrtausende wären sich stets wiederholende Zyklen in die Zukunft. Erst der Sprung in den unendlichen Raum würde vermutlich Zeit so weit dehnen, dass die Schöpfung - wie wir sie kennen und sie uns - an ihr Ende käme. Oder erführe in diesem Sprung Zeit etwa einen Ausgang hin zu neuer Schöpfung? 

Der Blick ist allzu klar und hell. Leben heißt jedoch den Blick nicht zu verlieren für Schmutz, der uns einander achten lehrt. Der scheint zwar manchen als unappetlich; ist aber die gewöhnliche Speise! Ambrosia gibt's allein für Götter... 




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