Verlust der Mitte - im Lichtspiel von Glasperlen

Es ist ausgerufen. Es hat jeden Winkel unseres Seins erobert. Seine Logik ist allumfänglich und anerkennt nichts anderes mehr, als die Erkenntnis seiner selbst. Willkommen im Zeitalter des Anthropozäns.

Die Beherrschbarmachung der stofflichen Welt, eine nach recht einfachen mathematischen Formeln berechenbare Weltmechanik, erweitert um hochkomplexe Annahmen in kosmischen und subatomaren Beziehungsfeldern, ki8scheint die Geheimnisse der Schöpfung so weit entschlüsselt zu haben, dass sie durch Naturwissenschaften utilisiert werden kann. 

Gleichwohl sollten die Herren der Welt dessen nicht allzu sicher sein. Gemessen an den weltweit tagesaktuell hinzukommenden Problemen, scheinen nachhaltig wirkende Lösungen weiter entfernt denn je. So gesehen sind die Erzählungen von der Vertreibung aus dem Paradies, durch die der Mensch gottgleich dazu verdammt wurde zu unterscheiden zwischen Gut und Böse, der Beginn des ewig fortdauernden Prozesses vom Problemlösen (Karl Popper). Der Apfel am Baum der Erkenntnis daher eine reichlich faule Frucht, die es nicht wert ist, verkostet zu werden? Weil Erkenntnis uns Menschen (noch) nicht vor das Antlitz unseres Schöpfers bringen konnte? Würde die vollständige Entschlüsselung gar den Weg zu Yuval Harris Utopie des Homo Deus ebnen? 

Oder befinden wir uns im Zentrum eines aberwitzig rasenden Experiments, das sein eigenes Ziel verfehlen wird, weil es ihm an geeigneten Prämissen mangelt? Ein kurzer - stark vereinfachender - Blick auf die Prämissen des Experiments ist unentbehrlich, damit dessen inhärente Logik aufscheint. Andernfalls bliebe vieles im Dunkeln, weil dessen Abscheidung das Verbleibende umso heller erstrahlen ließe. 

Die erste Prämisse. Nichts, was ist, darf - von der Logik des Experiments - ausgenommen sein. Absoluter Wissensanspruch, nicht diffuse Erkenntnis; (sich selbst) behauptende Dominanz, nicht dahinter liegende Weisheit; vordergründig Nahe liegendes, nicht etwas letzthin Unverfügbares liegen im Zentrum der Betrachtung. Die Geschichte der Achsenzeit beispielsweise, noch vor wenigen Jahrzehnten der Hoffnungsschimmer am metaphysischen Horizont ist längst wieder entzaubert. Damit vorerst obsolet. Die Hoffnung auf einen gnädigen, wohlgefälligen Verlauf der Menschheitsgeschichte jäh wieder erblasst. 

Die zweite Prämisse folgt aus der ersten. Ein System hat sich etabliert, das der ersten Prämisse bedingungslos folgt. Das System der Kapitalwirtschaft. Deutlicher: das System der Kapitalverzinsung. Es ist die Religion der Moderne. Einmal angestoßen ist das System quasi grenzenlos. Und somit bodenlos. Es kennt keine Begrenzung nach oben, es erodiert an seiner Unterseite und dem System droht permanent und konsequent der Verlust. Die Verluste sind schmerzhaft, die Verheißungen dagegen - scheinbar - unermesslich. 

Alles, was sich ins System einfügt, wird vom Systemdenken notwendigerweise mitgerissen, denn es gilt Prämisse No. 1. Jeder Forschungsauftrag, jede städtebauliche Intervention, jeder Militäreingriff folgt diesen Prämissen und deren Logik. Das Ziel aller Operationen liegt in der "Erfüllung" der Systemprämissen. 

Unser Denken, unser Fühlen, unsere gesamte Existenz ist bereits von dieser Logik okkupiert. Sie hat sich bereits zu einer Art Ersatzreligion aufgeschwungen, die nichts anerkennt ausser sich selbst. Der Gott dieser Religion hat sich zum Pantokrator aufgeschwungen. Die ihm dienende Priesterklasse speist sich aus dem Umfeld der Naturwissenschaften. Die Wissenschaft, auf die hin alles Weitere gründet, der alles unterworfen ist, die alles erklärt. Deren Hohepriester sind ihre Financiers. Die Rendite des eingesetzten Kapitals ist wiederum Grundpfeiler des Glaubens an ihren Gott, dem mit dem Erfolg der Investition gehuldigt wird. Das System ist grundsätzlich selbstreferentiell. Jeder Erfolg Baustein für den folgenden. An der Erichtung dieses neuen Turmbaus zu Babel ist jeder notgedrungen passiv wie aktiv beteiligt. Denn es gilt nichts mehr ausser den Prämissen No. 1 und 2, solange sie eben Gültigkeit aus sich selbst heraus beanspruchen. 

Dabei war die Hoffnung noch groß, dass nach dem Wüten des Nationalsozialismus (sowie anderer Ideologien) und der Erkenntnis von einem Kulturdurchbruch der sogenannten Achsenzeit (Jan Assmanns mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete gleichnamige Abhandlung stellt es gut lesbar und verständlich zusammen), eine neue geistvollere Friedensepoche möglich schien. 

Sicherlich. Eine höchst vereinfachende Annäherung an die aktuelle Geschichtsperiode, die sich jedoch förmlich aufdrängt. Ist sie erneut ein Diktum (abendländischer?) Ideologie? Oder gar mehrerer gleichzeitig? Freie Entfaltung des Liberalismus, Doktrin der Verwissenschaftung, Globalisierung, das Narrativ vom Ende der Geschichte (Francis Fukuyama). 

Was aber fehlt? Sofern (für den Einzelnen) überhaupt etwas fehlt. Etwas, das wir im weiteren Verlauf der Geschichte erst wieder erkennen lernen werden? Und das sich (vermutlich) erst im Entstehen anderer, neuer Ideologien, die lediglich einen anderen Anstrich alter Ideologien enthalten, manifestieren wird? 

Aristoteles hatte es im Blick. Der jüdische Geist in seiner Reflexionsfähigkeit ebenso. Augustinus, Nikolas von Kues. Blaise Pascal wie Sören Kierkegaard. Albert Einstein etwa auch? Die Mitte. Oder das rechte Maß der Mittel. Die Betrachtung des Seins als theologisch-philosophische Erkenntnis, die sich in einer wie auch immer gearteten Mitte erst endgültig finden wird können. Wobei sich der Begriff der Endgültigkeit lediglich überzeitlich denken lässt. 

Jegliche Ideologie (in seinem Vorherrschen im allgemeinen Denken) bedeutet per se einen Verlust der Mitte im Denken, da sie aus diesem Verlust heraus ja erst enstehen kann. Daher gerät jedes Denken zur Ideologie, sofern es sein dialektisches Gegenstück in seine Betrachtung nicht mit einbezieht. Der Hegel'sche Weltentwurf hatte diesen Umstand jedenfalls im Blick mit der Logik: These + Antithese = Synthese. 

In Vollendung bzw. in ihrer Eindeutigkeit werden sich, ja müssen sich diese Ideologien in der Zeit wieder verlieren. Auch weil sie keine tatsächlich, nachhaltige Lösung anbieten. Allenfalls verströmen sie als Gedankenmodell etwas wie eine momentane Hoffnung. Indem sie eine Theorie ins Spiel bringen, bis diese in logischer Weiterentwicklung wieder ins Lot gebracht sind. 

Zu diesem Themenfeld bringt bereits das Magnifikat Mariens im lukanischen Evangelium Hoffnung in Form eines überzeitlichen (Er)lösungsgedankens. Dort heißt es in den Versen 1,51 - 53: "Er (der Herr) vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: / er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron / und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben / und lässt die Reichen leer ausgehen." 

Die Dialektik des Geschehens im Text zeigt sich in der Gegenüberstellung der Wortpaare "Mächtige - Niedrige" und "beschenken - leer ausgehen". Vor allem im Psalter, aber auch anderen Erzählungen und Gebeten im alttestamentarischen Teil der Bibel findet sich diese Aufhebung des inneren Widerspruchs. Im Neuen Testament verschiebt sich diese Gleichzeitigkeit hin zum Ideal eines Neuen Bundes und einer weltumspandenden Ökumene mit allen begleitenden und problematischen Verkürzungen. 

Die Deutlichkeit dieser Zuweisungen besitzt hoffnungsschenkende Wirksamkeit, die sich als fundamentales Wesen biblischer Geschichten entfalten will. Und schließlich auch vermag; ohne entsprechende Rezeption allerdings stellt sich eine Leere ein, die aus der Mitte heraus rasch ins Radikale umschlagen wird. Bleiben wir besser wachsam und lassen uns die notwendige Selbstwirksamkeit unserer eigenen Schöpfung im Blick behalten! 

Nichts anderes könnte sogesehen das Ziel der Geschichte abendländischer Perzeption sein. Die sich in all ihrer Ambivalenz mit Idealen und dem Normativen, die im Weltgeschehen entstehen, zu messen haben wird. 




Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Hochzeit Max&Nadine

Der Schleier des Nichtwissens; Bob Dylans lyrische Prophetie (i.p.)

Die Hoffnung auf Unversehrtheit (i.p.)