Briefe an meine Mutter

Liebe Mama, oh ja, viele Deiner Ausführungen treffen mitten ins Schwarze und auch - ich darf es gestehen - noch mehr mitten ins Herz! Tatsächlich will ich mich zurzeit von Dir und Papa abgrenzen. Dies fällt mir nicht leicht, nein, es ist sauschwer und in gechilltem Modus nicht erreichbar. Es tut weh! Aber, wie soll es anders gehen als unter Schmerzen? Bin ich doch die letzten Jahre Eurem "Goodwill" komplett ausgeliefert gewesen. Das hat mich so was von angekotzt! Aber so was von!

Ich brauche Distanz zu Euch, weil ich sonst niemals erwachsen kann. Zeitweise habt Ihr mir mit eurer Fürsorge die Luft abgeschnürt. Mit Euren kleinlichen Sorgen und ständigem Besserwissen, was denn gut für mich wäre. Warum können Eltern ihre Kinder nicht einfach loslassen. Spätestens, wenn Kinder anfangen einigermaßen sicher zu laufen, sollten Eltern wegschauen können. Aber nein, immer geht Euer guter Rat eigener Erfahrung voraus. Mit den großspurigen Wort "Liebe" auf Eurem Kriegszug zur Verbesserung Eurer beschissenen Welt! Was haben ich damit zu tun? Ich fühle mich übergangen und sogar verarscht, wie ich es Euch zuletzt bereits geschrieben habe. 

So, gleich ist mir etwas leichter, da ich meine Worte endlich einmal so ganz frei und ohne große Rücksichtnahme rauslassen konnte. Lasst bitte von jetzt an auch die Sache mit meinem Bruder außen vor! Klärt das mit Euch selbst! Mir heuchlerisch Therapie ans Herz zu legen. Fuck it! Geht selbst dorthin und werft Ihr doch einen Blick auf die verlogene Welt, die Ihr Euch selbst schönzureden versucht. Nicht mit mir, damit habe ich nichts mehr am Hut.

Es ist ja nicht so, dass mir nicht Eure Liebe gefallen würde. Aber noch fehlen mir ein paar Schritte. Ich bitte bitte nicht darum: ich fordere Eure Geduld. Und Euer Vertrauen. Endlich. Ich bin inzwischen auf dem Weg zum Erwachsen werden und will mir ganz bewusst noch ein paar blaue Flecken abholen, die ich als braver Sohn stets in der - zu Eurer Sicherheit - vermieden habe.

Pars pro Toto. Irgendwo muss ich diese kurze Botschaft einmal gelesen haben. Er klingt in meinen Ohren nach. Ich verstehe ihn als: Schritt für Schritt. Ein kleiner Teil für das große Ganze. Und genauso will ich es. Habt Vertrauen in mich und gebt mir endlich Zeit Ecken und Kanten zu formen, damit Eure beschissene Allmacht mir nicht die Luft nimmt. Ich drehe einfach den Spieß um! Mal schauen, was das mit Euch macht...

Ihr dürft Euch sicher sein: wenn wir es aushalten loszulassen und jedem den Freiraum zu geben, den er zum Atmen braucht, dann sehen wir uns bald auf Augenhöhe wieder. Seid Ihr bereit dazu?

Ich melde mich, wenn ich in Not kommen sollte oder die Zeit endlich reif dafür ist. Ich bitte Euch mir diese "Selbstsucht" nachzusehen. Es ist ein Anfall, der mir augenblicklich in meinem Zorn gut und der vermutlich vorbeigehen wird. 

Euer geliebter Sohn




Liebe Mama, 

es ist seltsam; vor ein paar Tagen noch habe ich meine Anklage gegen Eure Liebe und (angebliche) Fürsorge laut hinausposaunt. Hinterher habe ich mich stark, fast unverletzlich gefühlt. Es hat jedoch nicht lange gedauert und die vermeintliche Stärke ist einem einigermaßen schlechten Gewissen gewichen. Nicht, dass die Suada meiner Befindlichkeiten nicht doch den Kern meiner Entrüstung freilegte. Überrascht bin ich im Nachgang schon vom heftigen Zorn, der mich zu diesen sehr starken Worten fortgerissen hat. 

Ist das mein Zorn? Bin ich so wirklich? In deinen Erzählungen war ich als Bub friedfertig, wenn auch früh schon etwas störrisch. Nun ja, das ist mir wohl geblieben. Aber der Zorn? Gegen wen richtet er sich. Gegen die Unerbittlichkeit, mit der die Geschehnisse um meinen Bruder unser Familienleben zertrümmert hat? Weil auch ich gegen die Tyrannei Eurer Selbstgewissheit zu wenig aufbegehrt habe? Nach aussen schien unsere Familie intakt. Nach innen schienen unaussprechbare Spannungen, die sich in kleinen Dingen offenbarten, wie eine Krake über uns zu legen. Wart ihr, waren wir glücklich? Und was ist das schon: Glück? Rückblickend mag es mir oft so erscheinen, als hätten wir mit großer Anstrengung versucht, das zu suchen, was uns offensichtlich fehlte. Das ständige Bemühen fühlte sich irgendwie inhaltsleer an. War der Exzess Folge eines Bemühens ohne eigentliche Zielvorgabe? Was war das Ziel? 

Ich weiß es nicht. Es strengt mich an, darüber nachzudenken. So tut es gut, einen Job zu haben, der mich körperlich und psychisch fördert. Nur: trete ich so nicht genau in die Spuren, die ihr mir hinterlässt? Es ist ein Teufelskreis. Ohne große Anstrengungen kommt man nicht weiter, allzugroße Anstrengungen Schwächen unsere Refkexionsfähigkeit und kosten uns möglicherweise das "schöne" Leben, von dem wir schon als Kinder eine recht präzise Vorstellung hatten. War diese Vorstellung noch mehr im Gefühl verankert; jetzt fangen wir an zu "wissen" und das "Güte Gefühl" entgleitet uns. 

Aber, Mama, ich verfolge einen klaren Plan. Du solltest mich kennen. Wenn ich etwas will, dann bekomme ich es auch! Und ich spüre: es schafft mehr Befriedigung, dies mit eigenen Händen anzugehen, als um Eure gnädige Hilfe anzusuchen. Du erinnerst Dich, wie erniedrigend es für mich war, Dich immer wieder fragen zu müssen! 

Aber dieser Plan braucht jetzt alle meine Energie. Ich brauche die absolute Freiheit meiner Entscheidung. Ich will jetzt nicht Rücksicht nehmen müssen. Das ist mehr als gerecht. Wo wart Ihr, als ich anfing, die Schule zu stageln? Ihr wart beschäftigt mit Euren Problemen und ließet mich im Keller verkommen. Nein, nein, so schlimm war es nicht! Zwar schon, aber doch nicht, wie ich es jetzt allmählich erkenne. Ich bin Ich, der damals im Keller anfing seine Welt neu zu ordnen. Es ist ein Weg, auf dem ich mich versuchen werde. 

Ihr braucht Euch um mich keine Sorgen machen. Schafft Ihr das, dann mache ich mir auch keine Sorgen. So ist allen geholfen und unsere Wege finden einen neuen Anfang. Nehmen wir uns gut Zeit dafür. 

In Liebe 



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