Die Menschenwürde wird untergraben In der Pandemie verliert das Individuum zunehmend seinen Anspruch auf Integrität. Von Ruth Baumann-Hölzle

Die Menschenwürde wird untergraben - NZZ 211006

In der Pandemie verliert das Individuum zunehmend seinen Anspruch auf Integrität. 
Von Ruth Baumann-Hölzle 


In der Schweiz gilt jeder Eingriff ın DIE physische und psychische Integrität eines Menschen als Körperverletzung und damit als Schädigung. Ebenso beeinträchtigen Verletzungen der Privatsphäre die soziale Integrität. Dies ist selbst dann der Fall, wenn dem Betroffenen damit das Leben gerettet werden könnte. Deshalb sind alle medizinischen Massnahmen einwilligungspflichtig, ausser wenn in dringlichen Situationen davon ausgegangen werden kann, dass eine Hilfeleistung dem Willen des Betroffenen entspricht. Im Übrigen müssen bei medizinischen Massnahmen die Betroffenen beziehungsweise bei Urteilsunfähigkeit ihre Stellvertretung aufgeklärt werden und freiwillig zustimmen können. Der Anspruch auf körperliche Integrität gilt sogar über den Tod hinaus, weshalb auch Autopsien eine Begründung brauchen. 

Der Anspruch auf physische, psychische und soziale Integrität wird in der Schweizer Verfassung mit dem unabdingbaren Würdeanspruch jedes Menschen (Artikel 7 BV) begründet. Dieser kann nicht verwirkt werden. So dürfen zum Beispiel auch Schwerverbrecher nicht gegen ihren Willen medizinisch behandelt werden. Der Würdeanspruch begründet den Anspruch jedes Menschen auf Autonomie und Integrität (Artikel 10 BV), der sich als Abwehrrecht jedes Menschen als roter Faden durch alle Gesetze in der Schweiz zieht und das Individuum vor einer Instrumentalisierung schützen soll. Er bildet auch den Kern der Menschenrechtscharta, die nach dem Zweiten Weltkrieg am 10. Dezember 1948 aufgrund der Erfahrungen mit den Greueltaten im Zweiten Weltkrieg verabschiedet wurde. 

Die Gewährleistung der Menschenwürde und der Menschenrechte gilt seither als unabdingbare Voraussetzung eines Rechtsstaates. Sie wurde auch als ethischer Grundanspruch in Form des Völkerrechts global verankert. Die Verletzung von Menschenwürde und Menschenrechten hat die grösste ethische Eingriffstiefe. Dass dies dennoch tagtäglich geschieht, ändert nichts an der Gültigkeit des Anspruchs.

Politisches Entscheiden und Handeln muss sich daher zwingend am Paradigma «Würde vor Nutzen des Menschen» orientieren. 

Die Zustimmung des Ständerates im September 2021 zur Einführung der Regelung eines erweiterten Widerspruchs bei der Organentnahme ist exemplarisch für einen solchen Paradigmenwechsel. Wer keine Organe spenden will, muss dies aktiv kundtun. Bei der vorgeschlagenen Regelung des erweiterten Widerspruchs dürften die Angehörigen nur noch ihr Veto gegen eine Organentnahme einlegen, wenn sie nachweisen können, dass ein Patient oder eine Patientin seine oder ihre Organe nicht freigeben wollte.

Sich Organe entnehmen zu lassen, wäre bei der erweiterten Widerspruchsregelung kein persönliches Entgegenkommen mehr, sondern die Gesellschaft hätte grundsätzlich ein Recht darauf. Die Zustimmung zur Organentnahme würde zur moralischen Pflicht des Einzelnen und verlöre den Spendencharakter. Es stellt sich zudem die Frage, was mit Menschen geschehen soll, die nie urteilsfähig waren, wie zum Beispiel bei einer angeborenen schweren geistigen Behinderung. Der mutmassliche Wille von Menschen ohne Angehörige würde gar nicht mehr erfasst werden. Bei einer Organentnahme ohne sichere Kenntnis des Patientenwillens wird in Kauf genommen, dass Menschen Organe entnommen werden, die dies vielleicht nicht gewollt hätten. 

Die individuellen Abwehrrechte des Einzelnen bei der Organentnahme zugunsten des Gesundheitsnutzens von vielen werden mit der Widerspruchsregelung relativiert. Dem Staat obliegt nicht mehr der Schutz der Integrität des Individuums, sondern dieses muss neu seinen Integritätsanspruch gegenüber Staat und Gesellschaft aktiv einfordern. Wem dies nicht möglich ist oder wer keine Angehörigen hat, die ihn vertreten können, hat Pech gehabt. Ob eine Menschenrechtsverletzung bei jeder Organentnahme ohne Einwilligung nach dem Hirntod vorliegt, hängt von der jeweiligen Einschätzung des moralischen Status des Hirntoten ab. 

Auch wenn man diesen nicht mehr als Person, sondern nur noch als Leiche beurteilt, begeht der Staat zumindest eine Eigentumsverletzung. Ethisch anstössig bleibt auf jeden Fall die Möglichkeit. befeits Urteilsunfähige noch vor dem HerzKreislauf-Stillstand und vor dem Hirntod auf der Intensivstation für eine Organentnahme vorzubereiten, wenn sie noch unzweifelhaft im Besitz ihrer Persönlichkeitsrechte sind. Mit der Regelung eines engen oder erweiterten Widerspruchs vollzöge sich in der Transplantationsmedizin ein Wechsel vom bisherigen rechtsstaatlichen Grundsatz «Würde vor Nutzen des Menschen» zu «Nutzen vor Würde des Menschen». Ähnliches zeigt sich bei der Pandemiebekämpfung. 

Angesichts von aussergewöhnlichen Gesundheitsrisiken stellen Massnahmen zur Pandemiebekämpfung den Schutz der Bevölkerung vor den Anspruch eines jeden auf Integrität und individuelle Entscheidungsfindung. Dabei werden auch Grundrechte sistiert. Die jeweiligen Pandemiemassnahmen sind so lange ethisch vertretbar, als es keine anderen Möglichkeiten gibt, die körperliche Integrität der Bevölkerung vor einer schweren Krankheitsund Todesbedrohung zu schützen. 

Ist die ganze Bevölkerung gleichermassen betroffen, sind auch die Pandemiemassnahmen für alle gleich zu gestalten, sonst sind sie zu differenzieren. Dies verlangt auch das schweizerische Epidemiengesetz, welches zum Beispiel kein allgemeines, sondern nur ein auf spezifische Bevölkerungsgruppen ausgerichtetes Impfobligatorium enthält. Der Staat differenziert gegenwärtig die Pandemiemassnahmen jedoch nicht hinsichtlich des Gefährdungspotenzials von bestimmten Bevölkerungsgruppen, obwohl das Mortalitätsund Morbiditätsrisiko sehr unterschiedlich ist. Stattdessen werden die Grundrechte aufgrund des individuellen Verhaltens hinsichtlich Impfund Testbereitschaft gewährt oder vorenthalten. 

Damit stellt sich die Frage, wie verhältnismässig einzelne Grundrechtseinschränkungen für die Gesamtbevölkerung sind. Die kostenpflichtige Zertifikatspflicht bei primären Bildungsinstitutionen zum Beispiel verletzt die Zugangsgerechtigkeit bei finanziell schlechtgestellten jungen Menschen, welche ein geringes Risiko für eine schwere Erkrankung haben. Generell wird finanziell benachteiligten Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit der Wahl . zwischen Impfung und Test vorenthalten. Dies ist ein indirekter Impfzwang, das heisst, eine erzwungene Körperverletzung. 

Da nun alle diejenigen, die sich impfen lassen wollen, auch die Möglichkeit dazu hatten und haben, stellt sich die Frage, ob nicht selbst Menschen mit einem grossen Krankheitsund Todesrisiko für eine Covid-19-Erkrankung sich freiwillig für oder gegen Pandemiemassnahmen entscheiden können sollten. Nur wenn das Risiko gross ist, dass ihr Verhalten zu einer Überlastung der Spitäler führen könnte, sind bei ihnen Grundrechtsrestriktionen angemessen. Dies deshalb, weil damit Patienten durch Unterversorgung und das Personal durch Überlastung und moralischen Stress gefährdet sind. Eine Zertifikats- und Testpflicht bei Personen mit besonderer Vulnerabilität gegenüber einer Covid-19-Erkrankung kann deshalb als eine differenzierte und verhältnismässige Zwangsmassnahme angesehen werden, wenn die vorhandenen medizinischen Ressourcen nicht ausreichen. 

Inwiefern Zwangsmassnahmen gegenüber dem Gesundheitspersonal verhältnismässig und politisch klug sind, ist angesichts des gravierenden Personalmangels bei Ärzteschaft und Pflege jedoch mehr als fraglich. Gegenwärtig sind diejenigen Zwangsmassnahmen zur Pandemiebewältigung, welche die ganze Bevölkerung betreffen und unterschiedliche Krankheitsund Todesrisiken einzelner Bevölkerungsgruppen nicht berücksichtigen, durch das Pandemiegesetz nicht abgedeckt. 

Damit nimmt der Staat wie bei der geplanten Widerspruchsregelung zur Organentnahme physische, psychische und soziale Grundrechtsverletzungen in Kauf. Das Individuum muss generell bestimmte Leistungen erbringen, um an gesellschaftlichen Aktivitäten teilnehmen zu können. Grundrechte gelten daher nicht mehr bedingungslos. Auch bei den Pandemiemassnahmen zeichnet sich daher beim staatlichen Handeln der Paradigmenwechsel «Nutzen vor Würde des Menschen» ab. 

Ähnliches lässt sich beim Datenschutz, besonders im Umgang mit Gesundheitsdaten, beobachten. Dass dem Staat, aber auch Firmen der Impfstatus bekannt sein darf, verletzt den Persönlichkeitsschutz.

Die aufgezeigten Tendenzen weisen auf ein sich veränderndes Verhältnis des Staates zum Integritätsanspruch der Menschen in der Gesellschaft hin. Es zeichnet sich ein schleichender Wechsel vom Würde zum Nutzenparadigma ab. Dabei verliert das Individuum seinen bedingungslosen Anspruch auf Integrität und wird durch staatliche Massnahmen instrumentalisiert. 

Setzte sich das Nutzenparadigma durch, wären die damit verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen für Individuum und Gesellschaft kaum absehbar. Soll die Schweiz auch zukünftig ein Rechtsstaat bleiben, müssen alle politischen Entscheidungen und Handlungen gegenüber dem individuellen Anspruch auf Menschenwürde und Menschenrechte verantwortet werden. Einschränkungen der Grundrechte zum Gesundheitsschutz und zur Förderung der Volksgesundheit müssen deshalb verfassungskonform, demokratisch legıtimiert, differenziert, verhältnismässig und auch evidenzgestützt sein. 



Ruth Baumann-Hölzle ist Leiterin des Interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen der Stiftung Dialog Ethik. 




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