Brief an XXX

Liebe XXX,

Das Wiedersehen mit Euch wirkt bei uns weiter nach. Es war viel zu kurz und viel zu schön um wahr zu sein. Melitta (und vielmehr noch Dein XXXX?) schienen dennoch auch zutiefst verunsichert zu sein. Deren Beklemmnis war förmlich greifbar. Für uns alle. Dem waghalsigen Einsatz von Heinz' Sprechfreude und einigen Glaserln Schnaps haben wir es wohl zu verdanken, dass sich Euer Bleiben bis in den Morgen hin ausgedehnt hat. Für Deinen XXXX muss es sich wie eine "Feuerprobe" angefühlt haben. Eineinhalb Jahre Schweigen haben mehr als deutliche Spuren hinterlassen und vergehen unendlich langsam für eine Mutter, der nur noch ein Sohn verblieben ist. Dieser Umstand zeigt - uns Alten jedenfalls - die blanke Dramatik, die sich ausgerechnet zu Weihnachten zugetragen hat. 

Ich werde ein wenig ausholen müssen, wie dies heute schon recht zu einer Unart geworden zu sein scheint: ich hoffe jedoch auf dein Wohlwollen! Aber mir und der mir alles lieben XXXXXXX wäre jeder unterbliebene Versuch, hohe Wogen glätten zu versuchen, ein Menetekel für die Zukunft. Ich meine, liebe XXX, auch wir beide sollten als ins tiefe Vertrauen gezogene Partner nichts unversucht lassen, zwischen Mutter und Sohn, und Sohn und Mutter, zu vermitteln. 

Wobei XXXXXXX hat die lange Zeit genutzt um ihrem Sohn die vehement eingeforderte "Freiheit" zu schenken, ihn seinen Willen zur absoluten Freiheit "gustieren" zu lassen. Freiheit ganz ohne mütterliche Fürsorge, frei von alltäglicher mütterlicher Sorge oder mütterlicher Zuwendung. Wobei, geht das? Nein, so etwas ist für eine Mutter undenkbar. Und absolut inakzeptabel. Davon aber will der Sohn nichts wissen, mehr noch, er lehnt hier jede Verantwortung ab, indem er Freiheit fast "absolutistisch" einfordert. Es mag sich um sein gutes Recht zwar handeln, aber dieses Recht zu überbrücken vermag es leider herzlich wenig.

Diese wenige Zeilen sollen den Horizont beschreiben, unter dessen Blicken sich Gefühle, Identität und Bewährtes förmlich auflösen, dekonstruieren und neu zusammensetzen. Vorderhand erscheint es so, als könne sich, im aktuellen Umgang miteinander etwas ändern, in der Tiefe des Horizont aber hat sich bislang nichts geändert.

Was sich jedoch geändert hat ist der Umstand, dass über lange Monate viel übereinander und sehr wenig miteinander geredet wird. So entstanden metaphorisch sozusagen Avatare von Mutter und Sohn, Avatare der eigenen Vorstellungswelt, die mit der eigentlichen Realität wenig bis nichts zu tun haben. 

In der Realität des plötzlichen Wiedersehens zu den Feiertagen brachen nun alle Avatare völlig in sich und unter ihrer Last zusammen. XXXXXXXXXs Reaktion sprach Bände. Nicht möglich auch nur eine emotionale Regung gegenüber seiner Mutter zu zeigen. Eineinhalb Jahre verlorener Zeit! Nun ja, haben wir doch scheinbar ausreichend Zeit, denkt sich der junge Mensch! So viel Zeit jedenfalls um Augenblicke nicht entsprechend  würdigen zu müssen, geschweige denn zu können. Fürwahr, junge Menschen haben weit mehr Zeit als wir Ältere, denen sie allmählich doch etwas knapp wird. So ein Unsinn, wird der junge Mensch vermuten. Jedoch erzeugt Schweigen stets Machtgefälle, ohne dass derjenige, der Macht ausspielt, davon Rechenschaft ablegen müsste. Verstehen, weil erleiden, muss es die weitestgehend Machtlose, in diesem Fall die Mutter des Sohnes. Wer ist in diesem Spiel, - beherrscht es doch für immer alle Bühnen unseres Seins - nun "Opfer" und Täter"? Weder noch? Wir alle zugleich? 

Natürlich ist das in meine Worte gegossenen Bild ebenso ein Avatar, wie alle "denkbaren" Bilder an sich, die nicht wie vor Gericht verhandelbar bleiben. Zeit heilt zwar auch alle Wunden, so will es der Volksmund verkünden. So wird es wohl auch sein, ganz gewiss. Sollte man also der Zeit die "Lösung des Problems" überlassen? 

Wir meinen: Nein!!! Es wäre auch für XXXXXXXXX Zeit, seine Widerstände gegen das endgültig Verlorene aufzugeben. Der Umstand des entsetzlichen Verlustes seiner idyllischen Kindheit, die
 dem Unausprechlichen einer neuen Realität weichen musste. Statt dass das gemeinsam Erlebte Sohn und Mutter verbinden helfen sollte, trennt es sie nun. So scheint wichtige Zeit verloren zu gehen. 

Das Bedrohliche jenseits des beschriebenen Horizonts aber wächst mit jedem Tag, mit jedem weiteren Monat und Jahr, in denen die Avatare der eigenen Fiktion bestehen bleiben. Sie werden größer und größer bis sie schließlich das ganze Leben dominieren können. Euer (gemeinsames) Leben, das Leben der Mutter und ganz sicher dann auch das Leben Eurer (gemeinsamen) Kinder. Insofern freut es uns ungemein, dass im buchstäblich gleichen Moment, als ich Dich um Deine Emailadresse fragte, XXXXXXXXX das Foto mit seiner Oma postete. 

So lichtet sich der Blick zu einem Ausweg, der sich sprichwörtlich fast  schon zum einem "Nadelöhr" verengt zu haben schien. Die Ausnahme (ein unvorhergesehenes, unbarmherziges Aufeinandertreffen) SOLLTE (um Gottes Willen, sofern es einen wirklich gäbe!) wieder der ganz normalen Regel weichen: einem unverkrampften, zugewandten Verhältnis, in dem Mutter und Sohn sich in Freiheit (nicht in Ängsten!) und im Alltag begegnen. Einmal im Jahr wäre zu wenig. Einmal im Quartal vernünftig. Jederzeit, gar möglich? Dafür bräuchte es vermutlich noch mehrere, ja viele Anläufe, mit Schmerzen, mit Leid verbunden. Aber statt einer Welt von Avataren lockte die süße Welt in familiärer Freiheit, in der nichts aufgerechnet und alles wohlwollend ertragen werden will. 

Die Mutter ist bereit. Der Sohn wäre klug beraten zum eigenen Seelenheil ein unbeschwertes Lachen neu zu lernen, nach mehr als 10 Jahren Dunkelheit und Verstörung. 

Liebe XXX, wenn Du eine Idee hast, wie XXXXXXXXX zum Wiedergewinn seiner (avatarlosen) Freiheit geholfen werden kann; fühl Dich eingeladen, alles ungeschminkt auf's "Verhandlungstableau" zu legen! Es braucht ganz sicher auch Dein Geschick, wie ich versuchen möchte auch meines in die Waagschale zu werfen. Nichts vermag Menschen mehr aneinander mehr zu binden, als das Begreifen eines gemeinsamen Schicksals, das in Wirklichkeit unser aller Schicksal ist. 

Oben war öfter von "Zeit" die Sprache. Ist es noch zu früh dafür, sich wieder aneinander zu gewöhnen, sich neu kennen zu lernen, die Avatare wieder in Irdische zu verwandeln, braucht es noch mehr Zeit? Dann soll das so sein. Und ich ziehe meine klaren Forderungen an Sohn UND Mutter reumütig zurück und  wandle weiter auf Wegen ungebremster Spekulation. Alles andere wäre mir jedoch lieber. 

Liebe Grüße 
XXXXX

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