„Quien no ha visto Sevilla No ha visto maravilla“ Spanien von Louis Bertrand

Vom Turm der Giralda tönte das Ave-Läuten. Es war der aı. Oktober, der. Vorabend zum Gedächtnisfest, das anlässlich des vom Domkapitel Sevillas verkündeten Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis gefeiert werden sollte, 

Mautoucher sass auf einer Bank des Triumphplatzes, dort wo die mageren Orangenbäume ein bisschen Schatten gewährten. Nun erhob er sich und wandte sich dem engen Eingangstor der Giralda zu. Kühle Luft schlug ihm entgegen, alle Geräusche der Strasse verstummten im Innern, sein Blick verlor sich in immer dichtere Finsternisse. 

Er stieg eine sanft geneigte Treppe ‘hinauf. Plötzlich ein Licht hinter einem Fensterkreuz. Der Türhüter, der ihn begleitete, rief: „Juano! Juano!“ Ein alter Mann erschien auf der Schwelle eines Zimmers, das die ganze Breite des Turmes einnahm, Ein starker Küchengeruch drang aus der Wohnung. Durch die geöffnete Tür bemerkte Henri eine Frau, die an einem Fenster sass und nähte. Zwei Töpfe mit weissen Nelken standen dort in der Sonne. Es war die Wohnung des Glöckners. 

Der Türhüter verabschiedete sich und der Glöckner fragte: „Wollen Sie bis zur Laterne hinauf, Caballero?‘ Er hatte eine fast kindliche Gestalt, seine rosigen Wangen zeigten kaum wahrnehmbare Runzeln und sein jugendliches Aussehen stach seltsam von seinem weissgelockten Greisenhaar ab. Aber die eigentümlich glanzlosen, von einem weisslichen Ueberzug bedeckten Augen öffneten sich übermässig weit in den tiefen Augenhöhlen. Er war blind.. 

Er streckte seine Hände wie zu einer schüchternen Frage aus und wenn er sprach, schien sein Mund ängstlich zu zögern, ja selbst die Worte auf seinen Lippen suchten nach dem unsichtbaren Hörer. Die Stimme des Blinden hatte den Klang unschuldiger Knabenstimmen. Mautoucher fasste für den Armen sofort Interesse. Er versuchte ihn während des Gehens zum Reden zu bringen, aber der Blinde antwortete nur kurz und einsilbig. Er schritt voraus, nahm behend die Stufen, während der atemlose Henri kaum nachkam. Als er endlich Halt machte, konnte Henri eine Frage anbringen. ‚Seien Sie unbesorgt‘, sagte der Alte, „ich kenne die Giralda wie meine Tasche. Mein Vater war hier schon Glöckner. Ich bin hier geboren und werde hier, so Gott will, auch sterben!“ 

„Und Sie können Ihren Beruf... trotzdem ausüben?“ 

„Warum nicht, Caballero? Man braucht keine Augen, um zu sehen!“ 

Ein gutes Lächeln erhellte seinen kleinen Mund. Man sah das Zahnfleisch. Und die Stimme des Blinden schien Mautoucher noch entfernter zu sein als vorhin. 

Schon wehte von oben ein starker Luftzug herab. Die Seile für die 26 Glocken liefen durcheinander und die gewaltigen Bronzemünder schienen eine ewige Wehklage zu verhalten. Die kleinsten Glöckchen baumelten schwach wie müde Vögel vor dem Abflug... Nach weiteren 69 Stufen erreichten sie endlich die viereckige Plattform. Als sie hinauf kamen, peitschte ein heftiger Wind Mautouchers Gesicht. Es brauste und tobte um ihn her und unter dem Druck der Luftmassen klammerte er sich mit den Händen an die kreisrunde Balustrade. Aber der Blinde stand ganz ruhig und aufrecht. Er warf den Nacken zurück und nahm mit der Nase Witterung. Er presste die mageren Arme an den Leib und drückte seinen Rock, den der wütende Wind aufblies, an die Lendengegend. „Da kann man atmen, nicht wahr, Caballero? Das ist nicht wie unten! Uebrigens haben wir Ostwind, Es wird also heute nicht regnen!“ 

Der weite Rundblick verlor sich in unzugängliche Tiefen. Gereinigt von Wolken nahm der Himmel eine smaragdgrüne Färbung an, die sich . gegen Osten zu in ein durchsichtiges Kristallschimmern wandelte. Die ungeheure andalusische Ebene breitete sich ganz rötlichblond bis zu den Schneegipfeln der Sierra aus. Ein leichter Nebelschleier verwischte die Klarheit der Aussicht, aber unten lagen zum Greifen nahe die Dächer der Stadt, die ihre von der Sonne weissgebrannten Ziegel zeigten. Das blendende Weiss der Häusermauern bildete am Ufer des Guadalquivir einen milchigen See, während gelbliche Wasser sich in breiten Streifen um die kahlen Hügel von Triana breiteten. 

„Sevilla ist schön, nicht wahr, Caballero?“ fragte der Blinde. „Unser Sprichwort hat wohl Recht: 

„Quien no ha visto Sevilla No ha visto maravillal“ 

Und als Henri seine Begeisterung bestätigte, nahm er ihn an der Hand und führte ihn behutsam zum Mittelpunkt der Laterne. "Schauen Sıe! Dort der Palast San Telmo! Die Plaza de Toros! Die Brücke von Triana! Dann dort, die Säulen der Almeda... das Denkmal des Velasquez! Dort, sehen Sie, das Denkmal des Velasquez...!“ 

Mit einer seltsamen Sicherheit der Gebärde, mit einer fast mathematischen Genauigkeit streckte er den Finger in die Richtung, die er angab. Seine Augenlider waren geschlossen. Henri beobachtete diese unbewegliche Gesichtsmaske. Eine gewisse Beunruhigung ergriff ıhn. Dieser Blick nach innen, der ihm mehr zu durchdringen schien als der seine, diese aus der Ferne kommende Stimme — alles verursachte ihm ein nicht in Worte zu fassendes Unbehagen. Er machte daraus vor dem Blinden kein Hehl. Der aber erwiderte ganz ruhig: „O, nichts ist einfacher, Caballero. Ich schliesse die Augen, wenn ich sehen will, denn sonst ist es wie ein Nebel um mich herum. Verstehen Sie? Ich habe die ganze Stadt in meinen Augen, das ganze Bild. Es sind jetzt ungefähr ı2 Jahre her, seit mir das zustiess, Es kam von einer Erkältung, sagten die Aerzte. Sie verstehen? Hier auf der Giralda, im Winter, wenn es regnet... Es ist sehr feucht bei uns!"

Er lächelte mit gewissermassen zufriedenen, glücklichen Mienen. Um den kindlichen zahnlosen Mund legte sich ein Ausdruck von Sanftmut und Güte. Plötzlich rieb er seine Hände. Dann sagte er mit einem jovialen Akzent: „Heute abend wird es schön. Ich spüre es. Man wird gut schlafen. Das kommt vom Ostwind und ist eine Gnade der Purissima. Morgen ist ja, wie Sie wissen, ihr Fest... das Fest der Immaculata. Da werden ihr zu Ehren die Glocken geläutet. Sie haben es sehr gut getroffen, Caballero, Sie können einem grossen Feierläuten beiwohnen...“ 

Er brach ab. Mit seinen feinen Sinnen bemerkte der Blinde ein Erzittern des Gebälks, das von unten kam. Alsbald hörte man es auch knarren. „Schnell, schnelll“ rief er, „die Burschen fangen schon anl“ Mit einem Satz war er bei der Treppe und verschwand mit solcher Eile, dass Mautoucher ihn erst unten auf der letzten Stufe, auf der Schwelle der Glockenstube einholen konnte. 

Die Glockenzieher besetzten ihre Posten. Es waren ungefähr zehn junge Leute in Hemdärmeln, die Füsse in schwarzen, am Spann freien Lederschuhen, die wie Ballschuhe aussahen. Geringschätzig musterten sie Mautoucher als Menschen einer andern Art und wandten den Kopf wie der Matrose, wenn er eine Landratte erblickt. Langsam zogen sie an den Seilen der Glocken, die noch stumm waren. 

Die Winden begannen zu ächzen. Die schweren Schwengel schwangen im Innern der Bronzemäntel, die sich kaum rührten. Unter ihren enormen eisenbeschlagenen Halsbändern wiegten die Glocken ihre grossen Schlünde hin und her wie schwere Zugpferde, die ihre Hälse unter dem Gewicht des Kummets schütteln. Der Klöppel schlug wie eine Metallzunge dahin und dorthin, die Riesenhülle begann allmählich zu stöhnen, wie wenn ein ungeheurer sprachloser Mund mit aller Anstrengung einen übermenschlichen Laut her vorstossen wollte.

Die Windstösse trugen die Kommandorufe des -Blinden davon. Jetzt sties er einen Pfiff aus. Er blieb dabei nicht auf seinem Platz stehen, erging vielmehr unruhig auf und ab, in allen Winkeln ungeduldig herumschnüffelnd, als ein dicker, wohlfrisierter Bursch, einen Zigarettenstumpf im Mund auf der Stiege auftauchte und nachlässig ein "buenas noches“ hinwarf. 

“Immer zu spät, Candido!‘ schrie ihm der Blinde zu, „ich wusste, dass Du nicht da bist!‘ 

Ohne sich aufzuregen, drehte sich der Bursche eine neue Zigarette und zündete sie sorgfältig an. Dann hing er sich an das Kabel des Cantor, des "Sängers‘‘, wie die mächtigste Glocke nach der Campana mayor hiess. 

Der Blinde feuerte die Glockenzieher an. Bald durch Pfiffe, bald durch Zurufe. Und ihre Arme hoben und senkten sich in immer schnellerem Rhythmus, den er selbst immer noch beschleunigte: "Vorwärts, Leute! Zur Santa Rufina! Zur Gordal Zur Santa Maria!" Henri folgte dem Ausholen der schweren tiefen Glocken mit dem Auge. Plötzlich schrie der Alte mit voller Lungenkraft: „Zur Campana mayor!‘“ Wie eine Lawine von Mctallklang brach es mit Donnergetöse hervor und verlor sich in betäubenden Schwingungen. Von der Wucht des Tons physisch erschüttert, hielt sich Mautoucher die Ohren zu. Er spürte im Kopf einen zermalmenden Schlag. Es schien ihm, als schwinde der Boden unter seinen Füssen und als würde der Turm in allen Stockwerken von oben bis unten gespalten werden... 

Ein kurzer Pfiff und durch die Seile emporgetragen, sprangen die Glockenzieher hoch. Sie flogen bis zu den in die Wände eingelassenen Klammern, an denen sie hin und her turnten, wie die Spinnen, die quer über die Mauer liefen. Die Glocken waren im Gang. Sie schienen jetzt leichter: zu schwingen, wie erfreut darüber, dass sie ihr Gewicht überwunden hatten. Die Schwingungsweite vergrösserte sich. In dem grossen SchlagwellenDurcheinander, das den Raum Sevilla Gnadenpforte erfüllte, war nichts mehr klanglich zu unterscheiden als der durchdringende Pfiff des Blinden. Wie Steine, diesich von einem Felsen loslösen, lösten sich die Körper der Leute von der Mauer und fielen auf die Fliesen hinab, um von neuem noch höher aufzuspringen. Das Gebälk zitterte wie ein menschliches Knochengerüst. Durch das Gewicht des Candido ausgelöst, gab der Cantor seine furchtbare Stimme von sich. 

Mit einer unerwarteten Geschmeidigkeit schwang sich der beleibte Bursche plötzlich auf die letzte Stufe, ganz nahe den Balken der Gesimskrönung. Unmittelbar darauf warf er sich mit schiefer Bewegung schwalbenhaft zu Boden. Seine Füsse schleiften über den Boden des Campanile. Die Spitzen der grossen Zehen krümmten sich in den Ballschuhen, die Kniekehlen beugten sich, Der Mann wartete die horizontale Lage der Glocke ab, dann schwang er sich gegen den Giebel, die Füsse um ihren Hals geschlungen wie auf dem Brett einer Schaukel. Und dort blieb er, mit der Zigarette im Mund, mit halb eingebogenen Beinen lächelnd eine Minute sitzen, um Luft zu schöpfen, hoch über den Dächern der Stadt, dreihundert Fuss oberhalb des Bodens der Kathedrale. Plötzlich hoben sich seine Fersen über den Rand und er liess sich ins Leere schwingen. Mautoucher sah ihn durch die Fensteröffnung hinausstürzen. Unwillkürlich schloss er die Augen, um den grauenhaften Sturz nicht zu sehen. Aber Candido flog durch das Spiel der Gleichgewichtskräfte wieder ins Innere des Campanile zurück und landete ungestüm auf dem hohen Bogen des Gesimses. Wie vom Himmel gefallen glitt er in den Raum, blies den Staub von den Spitzen seiner schwarzen Lederschuhe, dann, wie losgerissen von der Erde durch das ungestüme Hin und Her der Glocke, sprang er noch einmal auf die Stufen. 

Mautoucher wollte schreien. Seine Stimme aber war ohnmächtig in diesem Inferno von Klang, das noch vom tiefen Aufheulen des Windes verstärkt wurde. Schliesslich hörte er überhaupt nichts mehr in dieser Orgie von Schall. Wenn möglich wuchs die noch an. Das ganze Gebäude schien von diesem bronzenen Orkan zu zittern wie ein Schiff in schwerem Wetter. Seine Stimmung schlug um. Emporgetragen durch diesen Gewaltatem der Elemente fühlte er sich als Beute eines fast physischen Jubelsturmes. Es schien ihm, als knistere sein Blut von tausend Feuertropfen, dann wieder kam er sich wie eine Kristallvase vor, an die man mit dem Glockenhammer schlug, bis sie klingend zersprang. Dann war ihm wieder, als würde er sich ganz in Klang auflösen... Eine masslose Lachlust bemächtigte sich seiner, ein wahnsinniger Krampf packte ihn in der Magen-. gegend, stieg hinauf, schnürte ihm die Kehle zu. Und: gleichzeitig musste. er alles aufbieten, um die Tränen zurückzuhalten. 

.Sein Herz schlug in der Brust in grossen, dumpfen Schlägen und bei jedem Schlag. der Campana mayor zog" sich seine Stirn, zusammen, als wollten seine Schläfen zerspringen. Ganz unzusammenhängende Bilder wirten durch sein überreiztes Hirn. Bald hörte er das Geprassel eines glühenden Ofens, bald das Geheul eines den Wald schüttelnden Sturmes, dann umbrausten ihn die Wellen eines tiefen Meeres, in das er versank. Eine wilde Symphonie von Klängen durchdrang ihn und erschütterte sein Trommelfell. Es war furchtbar und wüster als er je Klänge gehört. Aber in diesem fast qualvollen Chaos war doch etwas Grosses, ja etwas Elementares. Und plötzlich begriff er: es war die andalusische Erde, die „Erde der Maria Santissima“, die durch die Stimmen der Glocken tönend wurde, die Erde, die aus allen Kehlen zu Ehren der Virgen sang. Und diese feierliche Vigilie der Glocken, die auf den Flügeln der metallenen Schwingen die mystische und inbrünstige Ausströmung ihrer Liebe hinauf zum Himmel trug — dies war wirklich das Fest der Immaculata... 























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