Der Schleier des Nichtwissens; Bob Dylans lyrische Prophetie (i.p.)

Ein guter Redner zeichnet sich auch dadurch aus, dass er sein Thema auf den Punkt zu bringen vermag. Er will in den meisten Fällen Einverständnis zwischen sich und dem Publikum herstellen, man kann auch sagen "etwas auf den Punkt bringen", obwohl doch Wirklichkeit meist zwielichtiger, komplexer und widersprüchlicher ist, als wir sie gerne hätten. Dennoch ist es wichtig jener vieldeutigen Wirklichkeit voller Aporien und Widersprüche tragfähige Konzepte gegenübergestellen zu stellen, die den Anspruch an sich selbst haben müssen, "Wirklichkeit abzubilden" um ihr jene "Zerrissenheit" auszutreiben, die sonst weder konsensfähig noch erstrebenswert wäre. Aber wie verhält es sich nun mit der Wahrheit in Zusammenhang mit der hervorgerufenn Wirklichkeit?

Wahrheit und Erkenntnis

Wenn nun ein Redner sein Publikum dazu auffordert, sich seiner Betrachtung anzuschließen und (zum Thema) Einverständnis herzustellen, so bleibt meist der Wahrheitsgehalt "unterkomplex", weil die Wirklichkeit, um die es geht, aus einer (geschlossenen) "Argumentationslinie" stammt. Komplex wird Wahrheit dann erst, wenn zwei "Wirklichkeiten" aufeinanderprallen. Und zwar "Wirklichkeiten", die zuvor noch nicht einer genauen Abwägung unterzogen wurden, worin Einigkeit herrschen soll. Jedes weitere Argument erhöht dabei die Komplexität um ein Vielfaches. Die Wirklichkeit, um die es hier geht, ist nicht jene Formel einer klar umrissenen, definierbaren mathematischen Gleichung, nach der Prozesse verlaufen, die jeweils nur innerhalb ihrer strengen Definition untersucht werden. Sondern um die "Welt" der sinnlichen Wahrnehmung, der phänomenologischen Natur ihrer ganzheitlichen Erscheinung individueller Erfahrung, die den Nächsten "mit-geteilt" werden soll.

Im Folgenden soll hier ein Blick geworfen werden, (1.1) warum Wahrheit dem in singulärer Anschauung gefangenen Individuum nicht zugänglich sein kann und selbst für ihn allein aufs eigene Selbst bezogen banal und unwirklich erscheinen muss, dann (1.2) wird der Versuch unternommen zu begründen, warum alle Erkenntnis, die Wahrheitsaspekte "für sich allein" betrachtet, an sich nichtig sein dürfte. Wie eine Art Konsens aus beiden Gegankengänge wird schließlich ein notwendiger "Weg zurück" (1.3) vorgeschlagen, der Aporien und Widersprüche, wie zum Beispiel gesellschaftstheoretischer Utopien, die zur Durchsetzung dieser eingeführt wurden, erneut in den Fokus ihrer Betrachtung nimmt. Der Weg führt zurück hinter den "Schleier des Nichtwissens".

1.1 Singularität und Wahrheit

Jeder Mensch sollte jenen seltenen, weil singulären Moment kennen, in denen absolutes Einverständnis herrscht, mit sich und der Welt. In der alle Widersprüche und Aporien aufgehoben scheinen. Ein Moment höchster Klarheit und Aufgehobenseins. Ein Momentum, so überaus hell, dass wir unsere Augen förmlich vor jener Klarheit schließen müssten, weil sie uns sonst wie die Helligkeit eines Blitzes blendete und unsere Sinne verwirrte, wie etwa den Jüngling aus der Schiller'schen Ballade "Das verschleierte Bild zu Saïs", den des Wissens heißer Durst" nach (unbekannter) Wahrheit streben ließ, und kaum sie je geschaut, "des Lebens Heiterkeit" war er beraubt. Wissend zwar, aber von "tiefem Gram zu frühem Grabe" hingerissen; "Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld (nicht schon früher oder in unzureichender Anschauung gehandelt zu haben). Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.". War sie, jene von ihm "dechriffierte Wahrheit", zu groß, zu unerbittlich, oder etwa zu gering, allzu banal, als dass er sich daran noch erfreuen könnte? Zu eindeutig, als dass sie sich noch lebenswert in der komplexen Zerissenheit seines Lebens zeigte? Wahrheit ohne "Zukunftsaspekt", die sich erst noch entfalten wird, muss einerseits schal schmecken und andererseits scheint sie nur dann erträglich zu sein, solange sie Geheimnisse in sich birgt. Weil deren Fehlen Hoffnungslosigkeit erzeugte; so in etwa muss Schiller gedacht haben, als er dieses Gedicht schrieb. Warum also nach Wahrheit streben?

Freak (der Du wissen willst!), step back!

"You try so hard,
but you don't understand.

Just what you will say
when you get home

Because something is
happening here

but you don't know
what it is

Do you, Mr. Jones"


1.2. Das Ich und das Nichts

Das lyrische Ich in dieser Ballade ringt gefühlsmäßig um jenes Bewusstsein, dass das singuläre Ich gegenüber dem Anspruch des Vollkommenen, das stets ein Zeichen von Wahrheit ist, zurücktreten muss, "weil etwas geschieht, du aber nicht "wissen" kannst, was (wessen Essenz) es ist; kannst du das sehen?" So verbietet sich jeglicher Anspruch des denkenden Ichs im Besitz aller Erkenntnis zu sein; Erkenntnis, die in Ermangelung daran nichtig sein muss und daher zum Nichts der Innenschau wird. Ließe sich metaphysisch betrachtet, nicht formulieren, dass sich erst hinter dem "Nichts"  jene Vollkommenheit offenbart, die allein der Lyrik im Ich zugänglich ist, sich also rein sprachlich begründet?

Ein Schritt von vielen zurück

Treten wir also zurück und richten an uns die Frage, warum Erkenntnis notwendigerweise niemals eindeutig erscheint, sondern vieldeutig, ausschweifend in Widersprüchen verfangen und in Aporien verstrickt. Nun, ich würde denken, dass sich in unserer individuellen und kollektiven Geschichte ein Lehrmeister verbirgt, der uns zu verstehen geben sollte, dass "Wahrheit" als solche zwar existieren muss, sie uns jedoch kaum je dauerhaft zur Verfügung stehen kann, weil sich Wahrheit "im Blitzlicht" offenbaren will und einmal geschaut sich sofort wieder zu entziehwn sucht, weil sie als solche sonst nicht wahr sein kann! Isn't it, Mr. Jones?

Im Augenblick der Betrachtung mag dem Betrachtenden eine Antwort förmlich auf den Lippen zu liegen; sobald ein Nachbedenken darüber gelegt wird, wird (unsere) Wahrheit schal, als legte sich ein trüber Schleier des Unglaubens über jene Erkenntnis, die wieder zerfällt in "Vielheit", gerade weil sie uns zunächst zur einfachen Antwort inspiriert haben mag.

Es liegt auf der Hand, dass sich hinter diesem trüben Schleier der Selbst-Zweifel (der Innenschau) verbirgt, den Paulus im 13. Kapitel des 1. Korinther Briefs als einen Spiegel beschreibt, in den wir Menschen schauen und nur "rätselhafte Umrisse sehen; dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht", in einer Art Aussenschau. "Durch und durch" wie es Paulus beschreibt.

Statt nun weiter von Ungewissheit zu Ungewissheit vorwegzueilen empfiehlt es sich daher mindestens einen Schritt zurück zu tun; finden wir auch dahinter (trotz neuer Perspektive) zu viele Widersprüche, einen weiteren zurück, und so fort.

Das Gegenteil von dem zu tun, wozu uns die Triebe, unsere Leidenschaften, reißen möchten; fällt zwar schwer, genau deshalb aber empfiehlt es sich, das noch fehlende Glied unserer Gedankenketten neu zu bedenken. Haben wir uns mit unseren Deutungen in Aporien verstrickt, nicht reflexhaft weiter nach vorne denken (wo das Unbekannte wohnt), sondern eher den Zustand der Gegenwart (hervorgegangen aus unmittelbarer Vergangenheit) befragen. Es empfiehlt sich die Lösung NICHT einer unbekannten Zukunft zu überlassen sondern in der Vergangenheit zu forschen. Nicht nach dem nächst Höheren (Zähler) streben, sondern nach den nächst Niederen (Nenner). Beide Wege in gleichen Schritten haben mathematisch gesehen denselben Effekt. Sie verbessern nämlich theoretisch das Ergebnis (eines höheren gemeinsamen Gutes). Mit einem elementaren Unterschied: die Zukunft, das Nächsthöhere ist entweder (noch) unbekannt oder unerreichbar, die Vergangenheit, das Niedrigere aber erscheint oft wie eine Verheißung auf Künftiges.

1.3 Erkenntnis hinter dem "Schleier des Nichtwissens"

So jedenfalls müssen die Gedankensprünge verlaufen sein, denen sich der politische Philosoph John Rawls in den 1970er Jahren unterzogen hat, um den Liberalismus wieder auf jenes Fundament zu stellen, die ihn mit der Aufklärung hin zur Moderne so alltraktiv hat werden lassen. Der aber zum Ende des 19. Jahrhunderts in seine bislang größte Krise kommen sollte, aus vielerlei Gründen, die noch nicht in ganzer Tiefe aufgeklärt scheinen. John Rawls brachte 1971 mit "A theory of justice" jedenfalls ein paradoxes Gedankenexperiment in die philosophische Diskussion seiner Zeit ein, indem er die abgründige Frage stellte, für welche politische Ordnung sich Menschen "hinter dem Schleier des Nichtwissens" entscheiden würden, hinter dem sie ihren späteren Platz in der Gesellschaft (noch) nicht erahnen konnten? Die Menschen würden darin 
1.) die Chancengerechtigkeit betonen, 
2.) soziale Institutionen in den Mittelpunkt stellen und sich
3.) im Unterschied zum Utilitarismus am Nutzen nicht nur für die Gesamtgesellschaft, sodern zuerst für die $chwächsten orientieren.(¹)

Erkenntnis verläuft, so ausgerichtet, dynamisch in rückläufigen Kaskaden. Zukunft ist immer Utopie, ein "Nicht-Ort", weil sie sich erst noch ereignen, entschleiern muss, um sich erst im Ereignis zu offenbaren, wie sie denn "wirklich" ist. Je weiter wir das über viele Jahrhunderte angesammelte Wissen zu einem Problem befragen, desto "sicherer" wird sein Ertrag. Utopien dagegen blenden notwendigerweise Aporien und Widersprüche aus, damit sie umso glanzvoller erscheinen. Sie selbst scheinen attraktiver, als die in ihren Widersprüchlichkeiten gefangene, gegenwärtige Menschheit. Und müssen dennoch bald wieder zuschanden werden, weil sich die inhärenten Aporien nicht länger verbergen lassen. Jede immanente Heilsutopie, die den Weg in eine bessere Zukunft denken lässt, droht sich zu einer Gewaltherrschaft zu wandeln, wenn sie nicht bereit ist ihr Erbe in zureichendes Maße zu bekennen.

Wenn wir, aufgewachsen in einer Generation von Beatniks, die prophetischen Worte ihrer Verkünder nicht hören, sondern nur noch verklären wollen, beschmutzen wir unser eigenes Erbe. Die Moderne war eine nie zuvor gedachte Utopie, die spätestens heute an ihren eigenen Aporien zu scheitern droht, und mit Bob Dylans "desolation row" ihren verzweifelt-melachcholischen Wendepunkt bereits gefunden hat. Ihre unheilvolle Paradoxie: je deutlicher wir an ihren aporetischen Mängeln leiden, desto stärker werden wir sie zugleich verklären wollen, damit wir uns nicht darin verfangen!


Die Versprechungen der Moderne müssen unheilvoll bleiben, deshalb, weil sie, die Moderne, vergeblich versuchen müsste, unseren Blick auf sich selbst zu verklären. Ein vergeblicher und endloser circulus vitiosus, der erst dann wahr wird, wenn er sich selbst in seinem "endlosen Ausgang" verfangen haben wird! Im Ausgang endlich finden sich jene Aporien, die zur Durchsetzung ihrer eigenen Utopie von Beginn an enthalten waren. Werden wir ihn wiederfinden, den Notausgang?

Viel zu verstrickt das Ganze? Ja, denn an diesem Punkt gelang es dem Jüngling aus der Schiller'schen Ballade nicht mehr sich zu befreien. In seiner Betrachtung hatte alles gesehen, alles durchmessen, was zu durchmessen war; war aber über den Punkt nicht hinausgekommen, den er zu überwinden gedachte. Alles vergebens also? Nein, was der Kopf nicht mehr aufzuschlüsseln vermag, da tut es Not, das Herz zu befragen. Hier, im Zentrum jeder Individualität, wird das größere Ganze erst sichtbar: hinter dem "Schleier des Nichtwissens" öffnet sich der un-endliche Raum des Utopischen, der weiterhin Leben verheißt in Liebe, Glaube und Hoffnung. Isn't it, Mr. Jones?


Eine letzte Wendung zum Schluss. Worum geht es nun wirklich? Ist es nicht unsere Sprache, unsere Musik, dieser übervolle, sinnlose Luxus, dem wir bereits sind, unserer Vernunft zu opfern, ein "tätiges" Opfer, das zudem bereits alles enthält, um was es wirklich geht?

"Musik und Bücher sind der Inbegriff des Glücks, und sie sind ein einfaches, für die meisten Menschen erreichbares Vergnügen. Die zwei Wochen, die wir in Salzburg verbringen, entschädigen uns für all die Entbehrungen und schlechten Zeiten des restlichen Jahres, denn sie sind den von Menschen geschaffenen reinen Unwirklichkeiten und Illusionen gewidmet. Mit ihnen entfliehen wir der schmutzigen und falschen Zeit und stossen dank solchen Träumen in reichhaltigere und gehaltvollere Bereiche vor als jene des Alltags. (...) Denn Romane lassen uns immer ein Stück über das Nächstliegende hinausdenken."
Mario Vargas Llosa - Mein Paradies ist Salzburg (Artikel in der NZZ vom 14. September 2023

Gedanken und Träume erschließen jene Räume, die unsere Vernunft in steter Rückbesinnung durchmisst


Fußnote:

¹NZZ vom 4. August 2024 "Hetzjagd auf den Liberalismus". Ein Artikel über die deutsche Philosophin Elif Özmen, die den freiheitlichen Weltentwurf von links und rechts gefährdet sieht.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Hochzeit Max&Nadine

Der Teufel fährt aus frauJEDERmann - und ist doch noch nur eine vage Idee vom Geschehen...