Tridische Tragödie als Ur-Mythos (i.p)

In der psychotherapeutischen Praxis steht die Suche nach dem Gelingen des Seins stets auf der Kippe. Die Sorgen und Nöte unserer Klienten sind schwerwiegend und wollen uns oft selbst befangen machen im Wirken von Übertragung und Gegenübertragung. Zwar versuchen wir Therapeuten uns methodisch zu schützen in sorgenvoller Abgrenzung zum jeweiligen Leid der Hilfesuchenden. Dennoch: das Leid selbst muss "durchbrechen", denn wie sonst ließe sich Leid begreiflich machen? In gewissen Sinne werden Therapeuten angesprochen durch das Leiden anderer; Experten sind sie jedoch nur aufgrund eigener Leidensfähigkeit, und - trotz gegenläufiger Bestimmungen - deshalb Seelsorger. Seelsorger Anderer, gleichzeitig immer aber auch der ihrer eigenen Versehrtheit.

Damit Leid zu (Mit)Leid werden kann, muss es zunächst seine Wirkung entfalten. Aus einem zunächst banalen "Spiel" erhebt sich die Sorge um das Sein zu einer Art Mythologem, das aus der Tiefe von Gefühlslagen konstitutiv Wesentliches - und in gewissem Sinne bereits Weisheitliches - zu schürfen vermag. Allein aus tiefschürfender Kommunikation werden Gespräche wirklich, in dem es selten noch um die Sache der Empörung oder des Leidens an sich geht, immer aber zuallererst um ein Gehörtwerden. Und ist dieses Gehörtwerden gestört, zeigt es sich fast notwendigerweise als ein übergroßes Manko, als eine Fehlstelle des Seins. Die Beziehung zum eigenen Echoraum, die wichtigste Beziehung jedes Menschen, ist dabei betroffen. Leid zeigt es uns in Gestalt von Einsamkeit doch an! Und davon ausgehend sind alle anderen Beziehungen ebenso erkrankt bzw. gestört und befinden sich in prekärem Ungleichgewicht. Das zeigt sich deutlich an einer übersteigerten Erwartung an den jeweils Anderen, an ein projektives Du, das alsbald zu einer Übergröße aufgeblasen wird; währenddessen die Bereitschaft des Selbst, der Erwartung eines anderen Du gerecht werden zu wollen, hingegen im gleichen Maße schwindet. Der Andere muss liefern, damit das eigene Sein gelingen kann.

Zwischenbemerkung

All dies scheint unmittelbar mit einem anderen Phänomen unserer Zeit einherzugehen: die zu beobachtende Verdinglichung unserer Welt, in der wir es verstehen - fast ließe dabei sich von einem kühnen Akt der Sublimierung sprechen - den notwendigen sozialen Kontakt zu ersetzen. Wir umgeben uns mit schönen Dingen, Komfort und Sicherheit, Ersatzobjekte zur Aneignung einer ansonsten verschlossenen Welt, die letztlich auf berechenbarer Information beruht, digital reduziert immer mehr auf reine Zahlenwerte. 0 und 1. Der Zufall des Lebens droht dabei zunehmend ausgeschlossen zu werden, das pure Leben seiner natürlichen Anmut beraubt und zur ebenfalls puren Technik umgeschrieben. Interessanterweise und paradoxerweise aber zu höchst anbetungswürdiger Kunstfertigkeit stilisiert (griechisch τέχνη). Die so im Verlauf von Jahrmillionen komplex auswachsende Natur wird in Jetztzeit eingefroren zu einem Momentum des Augenblicks, zerlegt in ihre kleinsten atomare Bestandteile. Aus unerreichter Fülle des wenig berechenbaren Lebens entsteht bloßer Mangel, der durch vermeintlich virtuelle Schönheit, durch den Fetisch aus Komfort und beschworener Sicherheit  augenscheinlich wird. Mangel ist daher bereits zum Fetisch unserer Zeit geworden.

Alter Glaube - neuer Glaube





Es liegt daher offensichtlich eine Störung vor, eine Störung, die in der Verhältnismäßigkeit des Hörens und des Bestimmens liegt. Das Ego ist der glänzende Spiegel, der die Welt drumherum trüb erscheinen lässt. Oscar Wilde hat diesem Spiegel in seinen Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" ein denkwürdiges Vermächtnis gesetzt; ohne damals noch abschätzen zu können, welche Abgründe sich vor dem Narzissmus unserer Zeit noch auftun würden. Heidegger hat diese Störung mit seiner Schrift "Sein und Zeit" in philosophischer Tiefe analysiert. Und, findet sich in "abgrundtiefer" Tiefe, die nach Kierkegaard eine Tiefendimension der kratürlichen Freiheit aufweist, nicht eine Störung, die seit jeher zu einem Mythos der Menschheitsgeschichte geworden ist? Aus den Mythen erwächst Vielfalt des Wortes, das Wort wird zur Sprache, zu einer "so-geschaffenen" Dimension des Seins. Worte lassen sich zwar reduzieren auf semantische Zeichen, gesprochen zu einem Du aber entfalten sie sich zum ontologischen Sein, mit der alle Zeit beschrieben werden kann vom Ur-Beginn bis zu einer fernen, notwendigerweise offenen Zukunft. In gewissem Sinne kann sie sich zu einem sprichwörtlichen Gottesdienst der Sprache erheben, in der Gemeinsinn erfahrbar werden kann, denn "christlicher Gottesdienst wurzelt im liturgischen Gedächtnis der Passion", wie es Jan Assmann in seiner Untersuchung "Kult und Kunst" so trefflich herausgearbeitet hat. Solcherart eingeübt entfaltet sich Sprache zur musischen Kunst, die sich, "dienstbar" gemacht, zur einheitstiftenden Ethik erhebt und den Menschen Gemeinsinn stiften kann.

Im Folgendem soll zunächst (1.1) die Ätiologie der oben beschriebenen "Störung" definiert werden, dann (1.2) ihre unmittelbaren Folgen beschrieben und zuletzt (1.3) der Versuch unternommen werden, wie Vertrauen in Beziehungen wieder neu erfahrbar gemacht werden könnte.

1.1 Das triadische Prinzip von Beziehung

Einmal grundsätzlich gefragt: künden nicht heute - wie auch schon gestern - familiäre und gesellschaftliche Zustände von einer überwältigenden Störung der Beziehungen zueinander? Wie konnte es soweit kommen? Wird hier nicht - jeder für sich ist selbst gefragt - eine Schuld erkennbar? In unserer praktischen Arbeit zur Bewältigung familiärer Krisen zeigt sich, dass es meist vorschnelle Schuldzuweisungen sind, die Paare einander entfremden. Die "Schuld" wird vorschnell als etwas entlarvt, dass quasi von "Aussen" eindringt und unser inneres, je eigenes Gleichgewicht ins Wanken zu bringen scheint. 

Gelingt es uns in der Therapie mit Fragestellungen, die häufig einigermaßen paradox sein können, tiefer in das dynamische "Wesen" von Beziehung vorzustoßen, dann zeigt sich ein vielschichtiges Bild. Die eigentlichen Konflikte zeigen meist innere Konflikte an, die jeder von uns selbst in Beziehungen mit- und hineinbringt. 

Werfen wir einen Blick auf die kleinst mögliche Form von Beziehung. Diese beginnt in der Beziehung zu sich selbst; man könnte sie auch als einen "Wettstreit der inneren Stimmen" bezeichnen. Wie gehe ich selbst mit inneren Konflikten um? Spätestens mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds haben wir Kenntnis davon, dass das Ich nicht frei von begleitenden Stimmen zu sein scheint. Freud nennt sie Über-Ich und Unbewusstes. Das monadische Sein, die kleinstmögliche "Wesensheit", besteht also bereits aus drei mitunter in Konflikt stehenden "Stimmen". Ich nenne diese kleinste Beziehungsstruktur hier den "Innersten Zirkel" unserer Beziehungsvalenzen.

Sigmund Freud war ein österreichischer assimilierter Jude des Fin de Siecle Wiens. Studierter Mediziner, streng atheistisch gesinnt und naturwissenschaftlich forschend, war andererseits kulturell von jüdischem und christlichen Glaubensvermächtnis geprägt. Wie so viele seiner jüdischen Zeitgenossen in Wien seiner Zeit. So verwundert es nicht weiter, dass das von ihm entwickelte Konzept der Psychoanalyse triadisch aufgebaut war. An anderer Stelle werde ich versuchen, sein psychoanalytisches Konzept unter dem jüdisch-christlichen Vermächtnis vergleichend zu betrachten. Hier sollen vorerst lediglich holzschnittartig schematische Bezüge aufgezeigt werden.

Woraus besteht diese triadisch begründete Beziehungsstruktur theologisch angesichts der Lehre Freuds? Bereits im Alten Testament erscheint diese "triadische Erfahrung", am deutlichsten im Schriftwerk der Psalmen. Sie sind gleichermaßen Elegien (Klagelieder) ebenso wie Hymnen (Lobpreisungen). Beklagt und besungen wird meist die Gottesferne der individuellen wie kollektiven jüdischen Seele (als Volk Gottes). Die Lobpreisung gilt dem Herrn, dem göttlichen Vater allen Seins. So heißt es in den beiden ersten Versen, Palm 24: "Dem HERRN gehört die Erde und was sie erfüllt, der Erdkreis und seine Bewohner. Denn er hat ihn auf Meere gegründet, ihn über Strömen befestigt". Das "Ich" der Seele reflektiert ihren Anteil an der Seele des Gottesvolkes in Beziehung auf den Gottesvater, aus dem alles hervorgegangen ist. Die Seele ist (in Gottesferne) bedrängt von äusseren Feinden, die sich bei genauer Betrachtung (im Gebet, in der Meditation) als innere "Feinde des Unbewussten" entlarven lassen. Dieser Gedanke liegt zumindest nahe, wenngleich der innere Feind mit dem äußeren oft zur Deckung kommt. Der Feind (in Form von Sünde und Schuld) bedroht stets das Verhältnis zum Über-Ich, das unschwer mit dem Vater im Himmel, dem Allmächtigen Gott, zu identifizieren ist. Diese triadische Beziehungserfahrung beruht auf dessen mythischen Kern. Der zeugende, allmächtige Vater (aus Sicht des Kindes) "züchtigt" in Autorität seine Kinder, um nach Möglichkeit den Vatermord zu verhindern, der das familiäre (und gesellschaftliche) Band zerschneiden könnte. Das Kind schuldet dem Vater Anerkennung muss so seinen Ehrgeiz solange bezwingen, bis er, als Erstgeborener vom Vater gesegnet, an dessen Stelle tritt. Die vererbten Instinkte (Freud nennt sie Triebe) halten das familiäre und gesellschaftliche Band "durch Verzicht" auf das gewaltsame Überspringen von Rangfolgen zusammen. Bis hierher ist nur der "innerste Zirkel" beschrieben, denn blickt man in die reichhaltigen Aufzeichnungen der Schriftkulturen zeigt sich wesentlich größerer Zirkel an mythologischen Vermächtnissen, die unsere Kultur tragen. Auffällig zum Beispiel ist im jüdischen Schrifttum der Segen, der einige Male (zum Beispiel in der Thora Jakob und Josef) dem Urmythos, wie zuvor beschrieben, zuwiderläuft, interessanterweise zum Besten der weiteren Geschichte einer mythischen Heilsordnung, selbst wenn der Segen "erschlichen" scheint, aber dem Willen Gottes entspricht. Wie dieser Urmythos in der Schriftkultur der griechischen Antike erzählt wird, soll hier nicht weiter erläutert werden.

Mit dem Aufkommen der christlichen Glaubenskultur wird das der Schwerpunkt dieser Triade radikalisiert und daher anders gewichtet. Hier liegt der innere Zirkel von Beziehung trinitarisch begründet im Wesen der Dreifaltigkeit. Der Sohn, dem freud'schen Ich vergesellschaftet, erhält das Prinzipat bereits vor seiner "Zeugung" mit der Zeugenschaft durch seinen Vater. Deren Beziehung untereinander ist ungeteilt, weil von jeher ineinander "verschränkt" (eines Wesens mit dem Vater). Als die "wesensgleiche" dritte Instanz des triadischen "Innersten Zirkels" fungiert der Heilige Geist als Paraklet (Beistand), der die innergöttliche Liebe seinen Geschöpfen auf Erden vermittelt und ein erstes Mal in der Apostelgeschichte nach Lukas als Pfinstereignis in Form von "empfangenden Flammen", die sich über die Häupter der christlichen Urgemeinde legt.

1.2 Die Störung in ihrer Wirkung

Die These lautet nun: ist die Triade, gleichgültig ob psychoanalytisch oder theologisch betrachtet, gestört, sind Beziehungen leidvoll. Und exakt dieses Leid aufgrund der Störung des Innersten Zirkels führt zu einer Verwundung der Seele und weiter hinaus zur Störung des Gleichgewichtes in dieser Welt!

Und unabhängig davon, ob wir uns über die Psychoanalyse oder das jüdisch-christliche Vermächtnis dieser komplexen Störung nähern; beide Anschauungen vermögen ein stimmiges Bild ihrer inneren Beziehungswelt zwar aufzeigen, jedoch aufgrund der Last ebenso komplexer Mythen die wenigsten Menschen tatsächlich erreichen. Bald zwei Jahrtausenden Christentum waren unserem "Erdkreis", quasi als eine Art geistige Medizin, verordnet, heilen konnte sie die Störung deshalb keineswegs. Im Blick zurück würde die Mehrheit aller weltweit lebenden Menschen vor allem das Christentum dafür zur Rechenschaft ziehen wollen, um eine Begründung für die Herkunft von Kriegen, Kolonialismus und Machtmissbrauch zu adressieren. Nicht zu unrecht, dennoch gänzlich falsch, weil hier offensichtlich Äpfel mit Birnen gemischt verkauft werden. Recht, weil der Erfolg der zwei Millenien Christentum (noch) nicht das ursprünglich erhoffte "Letzte Gericht" gebracht haben. Unrecht, weil Herrschaft, säkulär oder nicht, ohne permanente Auseinandersetzungen (die in eskalierter Version meist in unselige Kriegshandlungen münden), ohne Einheitsdenken innen und aussen (Kolonialismus) und übergreifenden Machtanspruch (Missbrauch) denkbar ist.

"Gott ist tot" wird heute noch gerne postuliert; da aber Menschen leiblich kommunizieren benötigen sie ein friedliches Konzept des Miteinander. Horizontal im Miteinander, ebenso aber vertikal hinsichtlich ihres Mythos, der zur eigenen Geschichte geworden ist.

Wenn wir das triadische Prinzip unserem (fühlenden) Denken zugrunde legen wollen, dann finden wir dieses Prinzip im Allgemeinsten in der Triade Vater, Mutter, Kind verwirklicht. Alle Ursprungsmythen, und daraus hervorgegangen spätere Religionen, beinhalten dieses Beziehungsdreieck. Es sind die ursprünglichsten Prinzipien von Beziehung.

Diese fast urtümlich in unser Leben eingeschrienen Beziehungen standen ideologisch noch nie so in Frage wie heute. Je nach politischer Überzeugung können wir dies gut oder schlecht finden. Vor der Bewertung aber sollten wir wissen, was dabei auf dem Spiel steht: nicht weniger als die ewige Ordnung des triadischen Prinzips! 

Die Vaterrolle, die Mutterrolle, die Rolle des Kindes, seit ewig fast identisch angelegt, soll sich auflösen und einem neuen Prinzip weichen. Wie stets an solchen crossroads stellt sich die Frage. Wird das neue Prinzip das alte ersetzen? Und ist das neue tatsächlich besser als das alte? In der NZZ war kürzlich ein interessanter Artikel unter dem Titel Vaterland und Muttersprache zu lesen. Darin versucht der Philosoph und Publizist Reinhard K. Sprenger zu beschreiben, wie sehr das Wohl unserer Zeit durch neue Ideologien gefährdet scheint. Auch er diagnostiziert eine Störung des Beziehungsfähigkeit unserer Zeit.

"Auch mit Blick auf das Kindeswohl ignoriert man die Unterschiede der Geschlechter nicht straflos. «Vater» und «Mutter» sind nicht nur andere Wörter. Sie lassen in uns etwas Archetypisches anklingen, etwas überzeitlich Gültiges, das wir vom Schöpfungsmythos der Maori bis zu den Psychologismen der Neuzeit spannen können. Sind wir mutig und fassen das Wesentliche zusammen, dann repräsentiert der Vater das Zeigen ins Offene, in die Aussenwelt, in die Gesellschaft. Seine Stimme ist die Eindeutigkeit, die Gleichheit vor dem Gesetz, welches in einem Raum gilt, dem «Vaterland». 

Im Wort «Mutter» artikulieren sich hingegen Gefühlswelten, sie repräsentiert die Nähe, die Innenwelt, Gemeinschaft, das Geschlossene. Die Stimme der Mutter ist die Liebe, das Situative, die Mehrdeutigkeit. Insofern ist sie die Umfangreichere. Sie schafft die «Muttersprache» - es gibt keine «Vatersprache». Das mütterliche Prinzip ist das Sprechen, das Sprachspiel, das mehr Melodie braucht als Inhalt. Eben wie die Muttersprache, die nie wirklich in andere Sprachen übersetzt werden kann; in letzter Konsequenz entzieht sie sich dem Verstehen Fremdsprächlicher. Weshalb sich viele Schriftsteller damit schwertun, übersetzt zu werden. Mit ihrer Unschärfe unterwandert die Mutter auch die Regelsetzung des Vaters."

Aus seinen Worten spricht deutlich die Sorge um einen Kulturverlust, der Werte wie "Frieden, Freiheit, Recht, Anstand, Gemeinsinn, die Rollen von Vater und Mutter", - er nennt diese Universalien - vorschnell neuen Ideen aufgopfert werden soll. Er versucht dagegen zu argumentieren und schließt mit den Worten: "Alles Glück auf Erden besteht darin Unterschiede zu sehen." Werden wir blind oder sind wir es bereits?


1.3 Ein Lösungsvorschlag


Der Blick zurück 

Blicken wir einmal zurück in die Zeit der Zeitenwende vor 2000 Jahren. Nach der Katastrophe des babylonischen Exils blieb dem gottgesgläubigen jüdischen Volk nichts als die Hoffnung auf bessere Zeiten. Sie waren ein in alle Welt zertreutes Volk, dessen Tempel, ihr zentales Gebetshaus, in Trümmern lag. Was taten sie? Sie vertieften ihr Schrifttum und ihren Zusammenhalt in einer einzigartiger Gottesschau, das in der Diaspora vor allem von zwei Seiten her in Bedrägnis geraten war, und aus der heraus es seinen Glauben weiterentwickeln konnte: in Babylon mit der persischen Kultur und in Palästina und Alexandria mit der griechisch-römischen. Dort kamen sie in Berührung mit deren Ursprungsmythen, die ihr Denken, trotz aller Widerstände gegen fremden Einfluss, verfeinerte. Das babylonische Reich mit seinem imperialen Machtanspruch und das heitere Denken der Griechen, die mit ihrer Philosophie, ihrer skulpuralen Kunst, ihren Tempeln und Theatern reüssierte. Die jüdische Seele, in ihrer tiefreligiösen Identität, kultivierte sich (wurde "geläutert") paradoxerweise, ausgerechnet mit frevelhaften Ideen jener zerfallenden Großreiche, die an ihrer schieren "Genialität" scheitern mussten. Das Leben, auch in größeren Maßstäben von Völkern und Nationen, scheint sich einfach nicht "einspannen" zu lassen in große Theorien. Der jüdische Sonderweg verlief über andere Pfade.

Der Talmud, weisheitliche Schriften bereicherten das jüdische Schriftwerk, die Psalmen fanden seinen bis heute gültigen Ausdruck. Das schriftliche Vermächtnis der Propheten mit Warnungen und Heilsversprechen, die die Geschichte seit dem Tempelbau in der Blüte der jüdischen Königreiche unter Saul, David und Salomo begleiteten, schufen das Bild vom Kommen einer messianischen Kultur, die entstehen würde, sobald sich die Welt von ihren sündigen Verstrickungen zu lösen beginnen würden. Diese "Erlösung", in Erwartung und Hoffnung auf eine Zeitenwende, auch politisch in der Region musste bereits groß gewesen sein, als Rom damit begann seinen Machtanspruch über die Reste des bereits zerfallenen Alexanderreichs auszudehnen. Das jüdische Galiläa kam abermals in politische Knechtschaft, und musste Rom Tribut leisten. Die politische Stimmung wurde zunehmend explosiv, als jüdische Wanderprediger auftraten und vom Kommen eines neuen Königreichs kündeten. Unter Ihnen Jesus aus Nazareth, der eine Schar Gefolgsleute um sich scharte, die das Nahen des Messias verkündeten. Nachdem dieser Jesus als Christus am Kreuz der Staatsräson der Machthaber geopfert war, vor allem aufgrund seines provokanten Anspruchs, Gottes Sohn zu sein, der in Gottes Auftrag mit dem Ende aller Zeiten in ein neues Gottesreich zu führen, das von nun an ewig Bestand haben würde.

Erschöpft sich unsere Zeit aufgrund ihrer Hoffnungslosigkeit?

Wir wissen: die großen Hoffnungen jener Zeit haben sich heute erschöpft. Und wenn man genau schaut, ähnelt jene Zeit der unseren heute, obwohl sie uns so sehr anders erscheint. Das Ende der Geschichte wurde nach dem Fall der bipolaren Weltordnung mit dem Berliner Mauerfall vorschnell ausgerufen; Ein Ende der Geschichte? Wie soll das gehen? Welch ungeheurer Gedanke! Als wäre Leben an sich steuerbar! Es wäre unser Tod. Wohl auch deshalb streiten sich neue Mächte mit imperialen Absprüchen um das sich niemals erschöpfende Erbe, Regionen versuchen, sich nicht vom Furor neuer Kriege mit fortreißen zu lassen, und ausgerechnet dort, wo das Christentum mit seinen jüdischen Wurzeln seine Anfänge hatte, wird erneut von Andersgläübigen zur Rechenschaft gezogen. Ist das wirklich noch eine weltliche Krise?

Weil Gott und Religion tot sind (tot sein müssen!) tarnen sich machtpolitischen Heilserwartungen, quasireligiös, und bilden wie damals eine explosive Mischung angesichts weltpolitischer Ansprüche, wie sie die Bibel zum Beispiel mit den Makkabäerbücher gut darlegt. Machtansprüche sind immer zutiefst religiös konnotiert. Mit einer Erwartung, die allein Sache der Religion sein kann (relegere, lat. neu erzählen, oder religare, lat. sich beziehen auf). Oder, um es noch deutlicher zu formulieren, Politik ist machtlos und blind gegenüber jenem Verständnis von Religion, ganz in den Sinne, weshalb der säkuläre Staat Religion von Machtpolitik streng voneinander trennen muss. 

Glaube und Hoffnung von Toleranz und Mitmenschlichkeit im globalen Maßstab entlarvt sich ohne Religion politisch zusehends als Utopie. Das humanistische Ideal, das sich aus den Resten seiner religiösen Verstrickungen erlöst wähnte, kann seine friedlichen Absichten nicht durchsetzen. Die Präambeln in den Verfassungen freiheitlichen Ordnungen scheinen plötzlich wieder zahnlos geworden. Die Würde des Menschen wird aufgeopfert in neuen Kriegen, die den Globus überziehen. "Stellt Euch vor es ist Krieg und keiner geht hin!", so tönte es blind aus Lautsprechern einer sich bereits erlöst glaubenden Generation von beatniks, die ein friedliches Wassermannzeitalter mit "Sex, drugs and Rock'n'Roll" fantasierte.

Hat sich tatsächlich wenig geändert am Erlösungsgedanken in den Jahrhunderten kultureller Blüte vielerorts? Und hat die letzte Stimme notwendigerweise immer ein Kriegsherr, der seinem zuvor entwürdigt geglaubten Volk mit Machtanspruch und Hybris vorangeht, um Einheit innerhalb eines Grossreichs zu schaffen?


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