Von Menschen und Namen, und vergehender Zeit

Von Menschen und Namen, und vergehender Zeit


Liebe Irene,
Lieber Ernst,

noch einmal ein großes Dankeschön für die Einladung zu den schönen Tagen, an denen sich unsere Familie wieder einmal um ihren "Ahnherren" versammelt durften. Die Tage wirken nach und werden ihre Wirkung noch lange behalten.

Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die seinen Ausgang nimmt in der Erzählung vom Mut eines abtrünnigen Soldaten, aber eigentlich berichtet über das Wunder der einfachen Mechanik auf dem Weg zum Geheimnis eines einzigartigen Automobils.

Die Geschichte trägt sich zu bei der Suche nach einem neuen Armband für eine alte, verdiente seit vielen Jahren zuverlässig funktionierende Uhr, auf die Nanosekunde genau getaktet durch den Impuls einer Atomuhr nahe Frankfurt am Main. Eine mechanisch recht einfache, wenngleich fein gefertigte Uhr; ein Wunderwerk der Technik.

In Hietzing findet sich ein Geschäft von Uhrmachern, die es dort seit k.u.k-Zeiten gibt. Weitergegeben vom Vater zum Sohn über viele Generationen, vom Urgroßvater damals auf den Urenkel heute, einer aus der Reihe, der dort noch tätig ist. Ein alter Mann, vermutlich weit älter als seine Väter, da sie das Geschäft an ihre Söhne weitergegeben hatten. Sie alle hielten und halten den Gang von Uhren aufrecht, indem sie diese reparieren und dabei die immer gleiche Geschichte erzählen.

Eine Geschichte von Vätern, die einst jung waren und dann selbst zu dieser Geschichte werden. 

Der Uhrmacher in Hietzing erzählt diese Geschichte so: sein Vater muss im Zweiten Weltkrieg im Alter von 17 Jahren als Soldat einrücken und wird in der Hohen Tatra auf den geplanten Einsatz in der 6. Armee vorbereitet, die dann später als Teil der Heeresgruppe B in der Schlacht um Stalingrad im Winter 1942/43 fast vollkommen aufgerieben wird (rund 6.000 Überlebende von über 1 Millionen Soldaten zu Beginn der Schlacht auf deutscher und 500.000 Todesopfern auf russischer Seite).

So umfangreich und gut die Ausbildung zum Soldaten auch ist - Führerscheine vom Motorrad, Auto, LKW bis Panzer und einer Ausbildung zum Funker -, so regt sich bald der Widerwille gegen den Drill und die Ideologie zum Krieg an sich. Schließlich desertiert der kaum erwachsene Mann mit einigen Kameraden und flüchtet unter großen Gefahren zurück in die Heimat. Dort angekommen, verbringt er zwei weitere Jahre, weitgehend untergetaucht in Auen der Donau südlich von Wien. Mehrmals wieder gefangen und einmal fast gehängt; immer wieder gelingt ihm aufs Neue die Flucht, begünstigt durch Hilfe von Bekannten aus der Gegend dort.

Aber nicht die Gräuel oder die Ohnmacht der Kriegsjahre stehen im Fokus seiner Erzählung; sie bilden eher den dramatischen Rahmen, in dem das Faszinosum von Technik die Hauptrolle spielt. Die Präzision sich drehender Rädchen im Uhrwerk, die mechanische Automatik, die zwar niemals eine war, aber unsere Zeit bis vor kurzem gestaltet hat. Der Uhrmacher fügt sich ein in die Riege seiner Vorfahren, indem er ebenfalls, zögernd noch, die Lehre zum Uhrmacher absolviert. Seinen Traum, den er in der Berufung zum Automechaniker gesehen hatte, gibt er dabei schweren Herzens auf. Auf Nachfrage seines Kunden, was ihn am Automobil denn so sehr mehr fasziniert als Uhrwerke, nennt er einen Namen: VW-Gold Typ 1!

"Das beste Auto seiner Art bis heute", wie er mit leuchtenden Augen und etwas rührselig berichtet. Einfachst gebaut, aufs Notwendigste reduzierte Technik; gut motorisiert, klein, rasch, wendig. Und wie günstig der Verbrauch! Weder vorher noch nachher gibt es ein besseres Fahrzeug, in dem Technik und Vernunft im rechten Maß aufeinander treffen! Bis heute ist sein erster Golf fahrtüchtig!

Als der Uhrmacher schließlich die Uhr, mit einem neuen Armband aus schwarz gefärbten Leder versehen, fast zärtlich mit einem flauschigen Tuch poliert, fragt ihn der Kunde: "Dann sagt Ihnen der Name Fiala etwas?" Der Uhrmacher blickt auf, ein freundliches Grinsen legt sich über sein Gesicht: "Sie meinen den Autokonstrukteur Fiala, den von VW?" "Ja, genau den meine ich, denselben Namen trage auch ich, und dieser Fiala ist mein Vater. 95jährig hat er soeben im Kreise seiner Enkel und Urenkel gefeiert. Sein Vater wiederum war Bäcker, "Hofbäcker" in der Fasangasse, Nähe Belvedere."

Die Geschichte kommt zu ihrem Ende mit der Bezahlung des neuen Armbandes für die Uhr am Arm des Kunden. Seltsam, wie verschieden die Geschichten der beiden Familien verlaufen und doch ein gemeinsames Ende finden bei einem Uhrmacher, einem Ort vieler, ähnlich erzählter Geschichten im alten Hietzing. Der Kunde verlässt das Geschäft des Uhrmachers und geht frohgemut seiner Wege. Währenddessen tritt der nächste Kunde - aus einer inzwischen länger geratenen Schlange - das Geschäft. Ganz sicher dehnt sich dort erneut die Zeit durch eine weitere Geschichte beim Uhrmacher; jenem Wächter über die Zeit, diesem Herold unserer Werke, die erzählt werden, damit sie einst weniger eilig vergehen.

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Liebe Grüße
Georg

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