Mensch, wolltest Du Dich nicht aus dem Staube erheben?

Lieber XXXXX,

glaube nicht, dass ich nicht der Letzte wäre, der nicht in Erstaunen gerät, dass der Mensch darauf beharrt, sich nicht aus dem Staube des ICHS erheben zu wollen! 

Der Satz mag sich einer semantischen Logik entziehen; dennoch verbirgt sich in sprachlicher Negation ein Schlüssel zum Verständnis des Seins, und in weiterer Folge des Ichs, das sich aus dem Staub der Nichtigkeit erheben und in Freiheit entfalten möchte. Wodurch aber kann es sich aus dem eigentlich scheinenden  Existenziellen erheben?

Lasst die heilsame Sprache sich entfalten!

In erster Linie ist es die Sprache, die den Menschen formt und gestaltet. Das, was seinen Mund verlässt, zeichnet ihn aus oder stellt in bloß. Aus seiner Mitte heraus - aus dem Herzen, wie man früher sagte - entfaltet sich der Mensch; und erhebt sich aus seiner Nichtigkeit. Durch die Möglichkeitsform entfaltet sich in Sprache eine Welt voller Paradoxien und (hinterfragbarer) Wahrheiten. Der Satz "scio! (Ich weiß!)", ist nicht mehr als eine Behauptung; der Satz aus der Apologie des Sokrates "Scio, nescio! (Ich weiß, dass ich nicht weiß!) erhält in der Negation den Schlüssel höherer Erkenntnis, denn er behauptet nicht nur, sondern trägt seine Behauptung zur Schau in die "crisis", in der er einer kritischen Betrachtung unterzogen wird. Dem antiken Verständnis war klar: reine (apollinische - sic!) Erkenntnis ist nur einer Gottheit zugänglich, niemals der menschlichen Kreatur, der sich ihr immerhin bei aufrechter Gesinnung anzunähern vermag! Eine Bitte zum Höchsten für die notwendige Kraft dazu ist allerdings dazu unumgänglich! (Weiteres dazu: Sokratische Denkwürdigkeiten)

Der Geist des Menschen, der Weisheit sucht - nicht Wissen zur Macht! -, entfaltet sich anhand seiner sprachlichen Fähigkeiten. Stilmittel finden sich in reicher Zahl: Metaphorik, Konjuntiva, Futura, Negation der Negation (Adorno), überall dort, wo sich Sprache und Denken in Möglichkeitsräumen bewegt, statt in Festlegungen und Behautungen. Eine Behauptung erweist sich erst dann als mögliche Wahrheit, wenn ihr widersprochen ist! Erst im Widerspruch erhält Sprache und Denken eine raumzeitliche Dehnung, die in die Tiefe der Erkenntnis führen kann, aber nicht notwendigerweise muss; Oh heilige Kontingenz, bleibe uns erhalten!

Der mühselige Weg zum Heil

Der Mensch allein, im Staube seines Werdens ist zunächst auf der Suche nach Bestätigung dessen, was sich im Erlebten bislang als wahr bewiesen hat. Die Glaubenssätze seiner Jugend, - man kann mit Fug und Recht vom Geist der Ahnen und Urahnen sprechen - suchen bzw. sucht deren Bestätigung, obwohl jene inzwischen wieder in den Staub zurückweichen mussten. Nach Nietzsche befindet sich der Delinquent noch im Zustand des Kamels, nach Kant in der selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Um im Bild zu bleiben, hört, frisst und scheißt das Kamel Wiedergekautes. Die Frustration ist erheblich. Also erhebt sich das Kamel fast notgedrungen (infolge von Negation dessen, im Sprachmodus des Konjunktiven, sich selbst in Zukunft denkend!) aus dem Staube seiner Existenz.

Es beginnt den Existenzkampf seines Lebens, heraus aus der Unmündigkeit, und schlüpft schließlich in das Gewand des Löwen.

Dieser jedoch verschuldet sich (am Nächsten), wird habgierig, sucht den Vorteil (zum Nachteil seines Nächsten), will alles beherrschen, erhebt sich zum Ebenbild seines selbstgerechten Gottes.

Doch paradoxerweise fühlt er sich nun noch frustrierter. Dem Schutz des Kindes enthoben, drohen ihn die Schlachten des Löwen zu erschöpfen; falls noch nicht, strebt er weiter, blindlings nach vorn, unter Selbsthingabe an seinen Gott. Er billigt die notwendigen Blutopfer. Weil Herzensblut muss fließen, ein aufrechter Löwe sucht Nahrung.

Und dann wird's interessant!

Der Mensch, immer in den Stäuben seiner Begierden, findet sich an einem existentiellen Scheideweg. War der erste Scheideweg Kamel-Löwe existentiell bedroht durch die Nichtung des bislang Geglaubten (durch Suizid oder Rückzug ins Wahnhafte), gerät der zweite Scheideweg ebenso existentiell. Führte nicht der Krieg des Löwen gegen sich selbst das Ich ins Extrem? Unter Nichtung alles jeher Geglaubten muss das Ich im Staube eine weitere Verwandlung seiner Existenz vollziehen, damit es erneut Hoffnung schöpfen kann!

Er verlässt seine zweite Unmündigkeit, wird endlich mündig, indem sein verwundetes Herz damit beginnt glaubhaft zu suchen, wie er als Kind bereits tat, und entwickelt sich ... zum Kind. Er fällt erneut zurück in das kindliche Sein, in naivem, ja törichten Glauben an Hoffnung und Liebe, übersteigt sich selbst, wird gleichsam materiell-substanzlos, ideel jedoch endlich substanzhaft. Er findet zurück ins mythische Ich, in dem er sich selbst erneut, gleichsam wie ein Gott der Morgenröte, aufgehen sieht!

Und in jener Welt tritt aus der Zukunft mythisch Erwartung in die vergehende Vergangenheit hinein, verschränkt sich mit dem Möglichen des Künftigen, und jenes in Polarität zerissene Ich wird neu "ergriffen" und lernt sich in Einheit inniglich einzuwohnen.

Was nun hat das alles mit Negation, Konjunktiv und Futur zu tun? Diese drei Modi sind die (sprachliche) Methode, mit der wir uns aus dem Staub zu erheben beginnen; war doch im Anfang das Wort! Dieses Wort immer wieder...immer wieder...immer wieder...immer wieder hören, verdauen (als Kamel), in Nichtung zu verdichten (als Löwe, der so sehr geliebt werden wollte, dass er in Liebe erlegt werden konnte!!!), um schließlich sich selbst, durch das Wort befreit, herausgehoben aus dem Staube, sich im Kinde wiederzuentdecken.

Wort ist Beziehung! Beziehung durch das Wort strebt paulinisch nach höheren Gnadengaben, die sich in der Ur-Beziehung alles Bezogenen mythisch neu verdichtet. Parzival, der verwundete Tor, der gläubig, hoffend und liebend, sich selbst verloren hat, findet mythisch sein Ziel, diese absolute Indifferenz in allem Lebendigen, das er in vorherigem Ausgestoßensein in die Vereinzelung verloren glaubte.  Mythisch lebte der Mensch in unbedingter Beziehung zu seiner Sippe. Dort war er aufgehoben, fand seinen Lebens-Grund, seine Wurzeln. Dorthin muss er zurück, kann sich sonst nicht erheben aus der Gefangenschaft seiner Vereinzelung. "Als Einzelner, als Individuum und Ich ist er nichts" (Kurt Hübner in Die Wahrheit des Mythos). Er verbliebe hinter jener Bestimmung zurück: Mensch, willst Du ewig Wurm bleiben; oder Dich endlich aus dem Staube erheben?

Das Numinose in einer mythischen Beziehung gibt Gestalt, Gemeinsinn und göttliche Kraft, die den Menschen durch die unsterbliche Genealogie seines Menschseins trägt! Von der Ur-Schöpfung olympischer Götter im Himmel herab ins Menschsein des Heute auf Erden. "Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt!", gefallen und berufen, wie diese Zusammenhänge Goethe in seinem Egmont ins Wort setzt.

XXXXX, ich meine das alles erst. Nicht erhebe ich damit Anspruch an Wahrheit; ganz sicher aber ist, was ich vermeine, nicht gänzlich NICHT wahr....also zumindest tautegorisch, wie es Schelling nannte?

Ohne gelungene Beziehung jedoch (als Mann zu Frau, Es zu Ich) bleibt alles bloße Theorie, also alles Nichts. Die mensch-höchste ist die körperlich erfahrbare, innige Liebe. Sie wird mythisch gespiegelt in der geistig-transzendentalen zum Numinose göttlich-höchsten!

Das Schöne daran: zwar könnte man vermuten, das man sich in solchem Glauben verlöre...? Ja! ... aber? Nun, in der Negation des negativ gedachten, entfaltet sich in letzt denkbarer Negation eine Wahrheit, in die hinein alles offen gerichtet bleiben muss! Jede Erwartung, jeder Wunsch, jeglicher Gedanke! Nicht Verschlossen bleibt, was nicht verschlossen werden muss, alles darf geglaubt werden und erhofft werden, auch jenes, an das man nicht mehr zu glauben und zu hoffen wagte ... und findet sich ein in die immerwährende Wiederauferstehung des Geschaffenen!

Den Mut solches zu denken, kann allein ein Kind! Wer denn sonst wäre so töricht, wenn nicht ein Kind?!

Zuletzt: welche Verheißung stünde dem törichten Kind denn bevor? Wohl nicht weniger als jene Verheißung aller Verheißung, die seit Menschendenken heilig genannt werden kann und daher tatsächlich heilig ist; den Gott seines Lebens, der in richtiger (richtig=demütiger) Erfahrung, metaphorisch auf dem Weg des (mythischen) Lebens wandelnd das geheilte und somit geheiligte Sein zu sich herauf ins Leben ruft!

Zuvor aber sollte alles menschen-mögliche bedacht sein, erwogen werden, geläutert daherkommen! Die förmlich im Stahlbad geläuterte Menschheit aus dem Staube erweckt, indem sie sich vorab jeder unwahren wie unwirklichen Gottesvorstellung entledigt hat. Zu Gott erhoben und sich zu dessen Rechte in Christus (in Beziehung) gesetzt.

Mensch, hast Du Dich aus dem Staube erhoben? Willst Du wieder Kind werden und leben? Oder tragisch doch noch als Held sterben?

Der gängigste Weg (des Kamels - sic!) durch das Nadelöhr gelingt dem Psalmisten. In betender Meditation des Psalters und des Schriftwerkes erniedrigt er sich vor Gott, um in Gnade wieder erhoben zu werden. Beispielhaft in jenen beziehungsreichen Worten im Psalm 77 (76):

(1 Für den Chormeister. Nach Jedutun. Ein Psalm Asafs.)

   Ich rufe zu Gott, ich schreie,* ich rufe zu Gott, dass er mich hört.
   Am Tag meiner Not suchte ich den Herrn; † unablässig erhob ich nachts meine Hände,* meine Seele ließ sich nicht trösten.
   Denke ich an Gott, muss ich seufzen; * sinne ich nach, dann will mein Geist verzagen. [Sela] 

   Offen gehalten hast du die Lider meiner Augen; * ich war aufgewühlt und konnte nicht reden.
   Ich sann nach über die Tage der Vorzeit,* über längst vergangene Jahre. 
   Ich denke an mein Saitenspiel, † während der Nacht sinne ich nach in meinem Herzen,* es grübelt mein Geist.

   Wird der Herr denn auf ewig verstoßen * und niemals mehr erweisen seine Gunst?
   Hat seine Huld für immer ein Ende? * Hat aufgehört sein Wort für alle Geschlechter?
   Hat Gott vergessen, dass er gnädig ist? * Oder hat er im Zorn sein Erbarmen verschlossen? [Sela]

   Da sagte ich: "Das ist mein Schmerz,* dass die Rechte des Höchsten so anders handelt."
   Ich denke an die Taten des HERRN,* ja, ich will denken an deine früheren Wunder.
   Ich erwäge all deine Taten * und will nachsinnen über dein Tun.

   Gott, dein Weg ist heilig.* Welche Gottheit ist groß wie Gott?
   Du bist die Gottheit, die Wunder tut,* du hast deine Macht unter den Völkern kundgetan.
   Du hast mit starkem Arm dein Volk erlöst,* die Kinder Jakobs und Josefs. [Sela]

   Die Wasser sahen dich, Gott, † die Wasser sahen dich und bebten,* ja, die Urfluten gerieten in Wallung.           Die Wolken gossen Wasser aus, † das Gewölk ließ den Donner dröhnen,* auch deine Pfeile flogen dahin.
   Dröhnend rollte dein Donner, † Blitze erhellten den Erdkreis,* die Erde bebte und wankte.

   Durch das Meer ging dein Weg, † dein Pfad durch gewaltige Wasser; * doch deine Spuren erkannte man nicht.
   Du führtest dein Volk wie eine Herde * durch die Hand von Mose und Aaron.

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