Lässt sich nicht in jedem Verlust auch ein Gewinn erkennen?
Welch seltsame Frage. Wie könnte ein Verlust Gewinn sein? Nun, es kommt darauf an. Etwa Materielles zu verlieren kann im Grunde keine große Sache sein. Aber selbst diese Aussage wäre zu hinterfragen. Das Wohnhaus, das vor eigenen Augen abbrennt? Die Heimat, die vom Krieg verwüstet wird? Ja, selbst das Auto, das, obschon garagengepflegt, nach einer kleinen Unaufmerksamkeit nur noch ein Schrotthaufen darstellt? Eine Katastrophe!
Andererseits: "Alles ist ersetzbar", lautet doch heute das Credo unser versicherten Gesellschaft. Oft wird zu Recht, wenn auch ebenso oft nicht frei von Bigottrie, hinzugefügt, »solange kein Mensch zu Schaden kommt.« Die Bigotterie zeigt sich deutlich im heutigen Sprachgebrauch. Sie zeigt sich im 'bösen' Wort vom 'Kollateralschaden', zur Begründung und Durchsetzung persönlicher oder kollektiver Interessen. Wenn etwa, fast wie eine Beiläufigkeit, Menschen zu Schaden kommen. Bei Kriegshandlungen, beim Straßenverkehr, beim Verbau hochwassergefährteter Gründe. Beim Errichten von (Atom)Kraftwerken zur Sicherung unseres (Energie)Hungers. Ebenso zeigt sie sich in der Huldigung tragisch agierender Menschen bei deren Scheitern: Rennläufer, Bergsteiger, Zugsurfer, Celebrities, Selbstmordattentäter. Vor Gericht. Im täglichen Konsum von Nachrichten, die in ihrer aktuellen Präsentation — auch in ihrer Wirkung — bereits herabgestuft sind zu reiner Unterhaltung (dem stets ein Schrecken innewohnt), den news.
Wäre die These, dass je gewaltiger das Projekt (schon vom Begriff her ist dies eine Projektion), desto eher wird es durch den Einsatz von Leben 'legitimiert', falsch? Dabei ist der frühe Tod seit jeher die größte Tragödie menschlicher Gesittung. Liegt darin das Bemühen begründet, unser Leben, als Projekt betrachtet, koste es, was es wolle, zu verlängern? Ist die Ermöglichung zu langem Leben, so gesehen, nicht längst zu einem modernen Mythos geraten? In der die Opferung frühen Lebens mit einer mystischen Überhöhung einhergehen muss? Und die öffentlich entsprechend zelebriert wird? Der Schmerz der Betroffenen wird in öffentlicher 'Zurschaustellung' gefeiert, und, kunstvoll medial aufbereitet, frei Haus geliefert. Als eine alltägliche Soap von tremendum et faszinosum?
Beim realen Verlust eines geliebten Menschen, abseits von Zurschaustellung und Öffentlichkeit, stellt sich die Frage in einem ganz anderen Licht dar: in extremum. Dann nämlich, wenn dieser Mensch aus der Masse heraustritt und mit Namen benannt ist. In der Geburt, in Familienchroniken, auf Grabsteinen in Friedhöfen. Auf den Tafeln zum Gedenken von Mahnmalen.
Ausserhalb christlich-eschatoligischen Heilsversprechens wird der Verlust eines geliebten Menschen himmelschreiend. Und selbst versuchter Trost bei Verlust gerät hier oft zur Bigotterie. Allein das Denken über den eigenen Tod hinaus, schafft hier ein Medium, das Trost verschaffen kann. Im gnadenvollen Bild etwa der Pietà. Im Kreuz Christi, als Ruf von ewigen Sohnes des Vaters, der früher gehen muss als seine Vorgänger. »Vater, vergib Ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! (Lukas 23, 34). Dieses Wort hat Gültigkeit für alle. Täter und Opfer.
Wie aber all dies darstellen, nicht nur fakultativ trostspendend, sondern lehrreich und von Dauer? Im Mythos aller Erzählungen, schriftlos wie verschriftlicht, findet sich der Nukleus tragischen Geschehens, wenn der Mensch die Referenz ist. Im Geschehen — nicht nur, aber auch, in einer Erzählung — einer Mediengeschichte. In einem Geschehen von Präsenz und Re-Präsentation. Dafür hat ein jedes Volk eine eigene Gründungserzählung. In Genesis und Exodus das Judentum. Im Kreuz Christ das Christentum, als Neues Testament errichtet auf den gewaltigen Pfeilern des AT. In der Poetik seiner Suren der Islam. In der Vergeistigung des Subjekts im Nichts Daodejing der Buddhismus. Im Nationalmythos die Nation. Im Absolutismus des Wissens die Wissenschaften. In einer nackten 'Garage' die Künstliche Intelligenz. Und so fort.
Oben stand der Versuch, zwischen dem Wesen und dem Materiellen des Verlustes eine Unterscheidung zu treffen. Was aber, wenn dem Materiellen etwas Wesentliches eingeschrieben wird. Im Denken des Aristoteles ist dieser Gedanke philosophisch-hermeneutisch begründet. Ein Gegenstand enthält Bedeutung, aufgeladen in einer Erzählung oder als bloßes Ding mit einer besonderen Bedeutung.
Beim Pilgern zum Beispiel — sofern nicht auch diese organisiert und durchgetaktet — erscheint das Phänomen der Zeit in einer anderen Wirksamkeit seiner selbst. Denn es ist gleich gültig, ob ich die Wegstrecke schnell oder gemächlich durchschreite. Das Tagesziel wird in gewissem Sinne aufgehoben, dadurch, dass es sich verschieblich präsentiert. Ganz konkret: kommt etwas auf dem Weg dazwischen; zum Beispiel, dass ein Ort besonders einladend ist fürs Verweilen. Dann kann das Verweilen wichtiger werden als irgendein Tagespensum. Der Ort suspendiert durch seinen Reiz die Zeit. Der Genuss tritt anstelle eines Zieles. Optional. Ich bin jederzeit frei zu entscheiden.
Aufgehoben in der Erfahrung, dass das Setzen von Zielen Zeit quasi vernichtet, indem sich alles 'Erleben' dazwischen bis zum Erreichen des Zieles diesem als untergeordnet erscheint. Anders beim Pilgern. Hier ist das Dazwischen die wesentliche Erfahrung, das Ziel richtet sich hier nach dem Dazwischen aus.
Selbst der Verlust eines Gegenstandes auf dem Weg, erhält hier eine andersgeartete Bedeutung, wie ich lernen durfte auf meinem Pilgerweg. Es ist nämlich nicht so selbstverständlich, dass alles, was zum Pilgern mitgenommen wird, sofort seinen besten Platz in Rucksack und Taschen findet. Man ist im Grunde permanent die ersten Tage mit 'Umpacken' beschäftigt. Die Trinkflasche zum Beispiel sollte erreichbar sein, ohne dass deshalb der Rucksack vom Rücken genommen werden muss. Dieser hängt am Rücken, also außerhalb eigener Sichtfläche. Dafür sind auf Rucksäcken gewöhnlich beidseitig Tascheneinschübe vorgesehen, in die man bald lernt ohne große Verrenkungen die Trinkflasche zu entnehmen und ebenso — dafür braucht es Übung — sie wieder sicher zu platzieren.
Der Gaskocher. Im Rucksack? Unförmig ist er, daher benötig er relativ viel Platz i m Rucksack. Daher liegt die Präferenz im Befestigen außerhalb. Hierfür bieten sich Schlaufen an, in die der Handgriff des Gaskochers eingeschoben, festgezurrt und zusätzlich gesichert werden kann durch einen kleinen, leichten Karabinerhaken.
Das mobile Solarpaneel. Damit es das elektrische Equipment beiläufig beim Wandern auflädt, braucht es den besten Platz, flach ausgerichtet oben auf dem Rucksack bei hochstehender Sonne, und hängend bei Sonne im Rücken. Diverse ausgeklügte Systeme wie Klemmen, Zurrbänder, Karabiner dienen zu jeweils adäquaten sicheren Verwahrung.
*Fotos fehlen*
Wie es die Aporien unseres Seins wollen, nützt Vorsicht allein nicht zwingend. Ein schlecht gesetzter Knoten, der sich in ständiger Bewegung nach und nach lockert; ein Karabinerhaken, der nicht vollständig einhakt; die geleere Trinkflasche, die von der Schwerkraft nicht zwingend in der Tasche gehalten wird, sie alle tun das, was Ziele beim Wandern rasch ins Reich schöner Träume schickt: es geht etwas verloren. Die Überraschung wird meist erst beim Absetzen des Gepäcks bemerkt. Dabei haben bereits viele Kilometer den Standpunkt verschoben.
Oder beim Packen. Ein Gegenstand findet nicht rechtzeitig in die Hand, die allein befestigen kann. Der Gegenstand bleibt liegen oder stehen. Die Trinkflasche das erste Mal unter den Tisch beim Wirt. Der Gaskocher, vermutlich abgestreift beim Durchschlüpfen durch eine schmale Lücke eines Weidezauns. Der Toilettbeutel nur scheinbar, weil die Hand entschied, der bessere Platz sein im Innern der Rucksack, was der Kopf nicht mitdenken konnte. Selbst der tiefe, letzte Blick zurück vor einem neuen Aufbruch, den man sich rasch angewöhnt, aber doch nicht immer alles im Blick haben kann.
Dies alles, könnte man sagen, bliebe eigentlich ohne Bedeutung. Ist nicht jedes Einzelteil ersetzbar? Der Gang ins Einkaufszentrum nicht ohnehin geboten, schon w e i l es den Umsatz steigert, der unseren Wohlstand begründet, wie es uns der Mythos vom Wohlstand aufzwingt? Der Einkauf: eine heilige Handlung? Das Aufsuchen des Arztes, nicht länger (nur) zwecks Erhaltung der Gesundheit, sondern als eine Art heilige Handlung? Die Versammlung vor den Bildschirmen zur täglichen Verkündigung zureichenden Maßes an Nachrichten: die Huldigung aufrechter Gesinnung? Weitere Beispiele ließen sich finden.
Auch deshalb wir der Landstreicher, der als peregrinus (Pilger), ohne Konsumkosten frei durch die Lande streicht, weiterhin vertrieben. Denn er stört die öffentliche Ordnung, die den Umsatz, dem Mehrverbrauch, dem Willen zur Leistungserbringung jederzeit h u l d I g e n muss! Mein Pilgerweg liefert den Beweis. Denn nicht vertrieben wird man allein aus dem Tal der Gesetzlosen oder aus geschützen Räumen von Klöstern.
Weil aber das Pilgern seines Wesens nach ein Heraustreten aus Gewohnheiten beinhaten s o l l , denn das ist sein Anliegen, stellt sich selbst der Verlust beim Pilgern anders dar. In meinem speziellen Fall musste eine Entscheidung her — wie es sich vermutlich auf jedem Pilgerweg ohne Unterlass gebietet. Die Entscheidung fiel mir erstaunlich leicht. Ich würde nach Möglichkeit versuchen, den Verlust des Gegenstandes in einen Zugewinn zu verwandeln, einfach i n d e m ich ihn wiederfinde. Der Einsatz dabei ist marginal: Kilometer, die man so weit zurückgeht, bis der Gegenstand schließlich wieder eingeholt ist. So geschehen, gleich zweifach mit meiner Trinkflasche, die sich diesen Aufwand längst verdient hat, da sie mich bei ausgiebigen Fahrradtouren meiner Studienzeiten — durch Deutschland von der Ostsee bis zum Bodensee, über die Alpenpässe in Schweiz und Österreich nach Italien durch die Toskana, an Rom und Neapel vorbei bis zum Golf in Sorrent, einige Jahre später gar bei meiner Radtour durch Israel — begleitet hat. Sie ist ein wertlos Ding, aber mir sooo wertvoll, aufgrund der Jahre, die uns quasi zusammengeschweist hat. Der Verlust wäre nur groß. Der Zugewinn dagegen übergroß.
Ein Taschenmesser, das einen besseren Ort der Handhabung suchte, dabei in der Seitentasche meiner kurzen Hose landete und bei einer kurzen Rast vorwirzig herausschlüpfte; der erneute Zugewinn erforderte Kilometer Wegstrecke und viele Höhenmeter, zunächst wieder hinab und dann erneut herauf, wo ich zuvor schon war. Die Erfahrung aber lehrt: Die Dinge erhalten geradezu einen "wesenhaften" Wert, wenn sie gesucht und wiedergefunden werden. Sie wachsen sprichwörtlich ans Herz!
"Aus Verlust wird überreicher Zugewinn", einer der Merksätze des Pilgers.
Selbstverständlich war die gegenteilige Erfahrung notwendig, damit sie sich in ganzem Ausmaß zeigen konnte. Den Gaskocher, der einem dafür zu schmalen Durchschlupf zum Opfer fiel, wurde zu einem Verlust, weil ich mich nicht zur Mühe aufraffen könnte, ihn zurückzuholen. Die Wege, einen neuen Gaskocher zu besorgen, bedeuteten nicht nur etliche Kilometer mehr, neben den schmerzlichen Verlust. Und mehr Gewicht, durch die kommenden Berge zu schleppen; dennoch aber würde diese Geschichte mir zu einer weiteren wichtige Erkenntniss wrrden. Dies jedoch ist eine eigene Geschichte, die noch erzählt werden muss!
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