Zustand und Wahrheit - eine Unterscheidung

Lieber XXX,

danke für die höchst amüsante Darstellung Deiner aktuellen "Befindlichkeiten"; gewohnt schwungvoll, witzig, durch das Ausholen in die Narrative unserer gemeinsamen Jugendjahre verbindend und verbindlich reüssierend. Und doch scheint mir durch diese Ironisierung hindurch ein wenig auch Wehmut und zeitliche Verklärung mitzuschwingen.

Nun ja, das beginnende Alter. Zipperlein, die uns plagen. Auch mich haben sie bereits mit Macht in Händen, in Form erheblicher Eintrübungsschüben an Sehkraft links (das einzige Auge, das mich in der Vergangenheit sehen ließ), tiefes dauerhaftes Brummen im Gehör rechts, spontaner, aggressiver Ausfall, in ganzen Büscheln, meiner Kopfbehaarung im vergangenen Monat. Was will mir das sagen? Was will es uns sagen? Nun, wohl nichts anderes als: Dein Weg hier auf Erden geht - hoffentlich in ruhigem, gemächlichem Gang - seinem Ende zu.

Es wird allmählich Zeit, dieser Wahrheit ins Auge zu blicken. Ich habe unlängst irgendwo den Satz gelesen, "Wahrheit ist kein Zustand, sondern eine Unterscheidung." Und durch Unterscheidung wächst in mir, dem Verfall trotzend, Zuversicht. Ich lerne allmählich gut zu unterscheiden.

Lieber XXX, du hast dein therapeutisches Ich entdeckt? Du hast gelernt, Worte genau abzuwägen, bevor Du sie sagst? Eine wichtige Unterscheidung. Auch mich treibt das Erwachen eines therapeutischen Bewusstseins vor mir selbst her. Quasi als Begleiter meines Weges. Ruhe zu finden, so ganz, will mir aber (noch) nicht gelingen.

Notwendig für therapeutische Bewusstwerdung scheint mir unverstellte Rückschau. In seiner Unterscheidung. Nichts mehr beschönigen müssen, keine Wiederholung des ewig Gleichen. Neu bewerten. Unterscheiden.

Blicke ich zurück auf den Georg mit 17 Jahren, dann sehe ich einen sensiblen, oft melancholischen, bisweilen auch tollkühnen, "Blödmann". Blöd nicht im Sinne von dumm, das nicht oder nicht sehr, dafür aber im Innersten "verstellt". Eine wichtige Unterscheidung. Eine unsägliche, weil nicht in Worte zu fassende Unsicherheit, die mich wie einen Knecht im eigenen Gefängnis gefangen hielt, brach triebgesteuert ihren Bann, indem sie mich "Menschennatur" huldigend für sich arbeiten ließ; benennen wir sie, wie sie in ihrer Essenz wirkt: eine brutale Selbstermächtigung! Unterschiedslos, ohne Unterscheidung - gegen Freunde, Familie und auch immer gegen mich selbst gerichtet. Ohne Einsicht in mein Tun. 

"Childhood living
Is easy to do
The things you wanted
I bought them for you"
Wild Horses / The Rolling Stones

Ich nehme mein Elternhaus in den Blick; auch dort unsagbare Unsicherheit, die mein Wohlbefinden zu jedem Moment meiner Kindheit vollständig destabilisieren konnte. Gelegentliche Gewaltexzesse haben diese Kindheit terrorisiert, demotiviert und destabilisiert. Mit den üblichen Mitteln von Terror, mit tiefgreifender Demütigung. Diesen Terror, verursacht im Innern, habe ich damals als Terror nach außen in unsere "Margaretenhöhe" getragen. In Wort, Herz und Taten. Es ist bereits zu lange her, als dass Abbitte mir noch Erleichterung verschaffte. Reuen tut es mich sehr wohl.

Aber ich will die Unterscheidung versuchen. Aktives Aufarbeiten statt drohende Altersdemenz.

Diesem Terror diametral gegenüber stand eine tiefe Liebe meiner Eltern zu ihren Kindern; eine allzu übergriffige bisweilen, weil unbewusst und unausgesprochen. Unschuldige Liebe, deshalb oft in demütigender, entrechtender Verkleidung. Eine Art doppelt gebundenem angelus viciosus. Inzwischen glaube ich zu wissen: jedes Schweigen, jegliche Tabuisierung von Worten infolge einer traumatischen Erfahrung trägt das Potential von Terror und Tod ursächlich in sich. Das Fanal der NS-Zeit legt ein unrühmlichen Zeugnis für derlei Zusammenhänge ab. Verleugnen hilft nicht.

"Faith has been broken
Tears must be cried
Let's do some living
After we die"
Wild Horses / The Rolling Stones

Die Unterscheidung des Terrors und der Wohltaten aus unsäglicher Liebe tut Not. Eine Unterscheidung will mir, so jetzt, als ich diese Zeilen tippe, gelingen. Und mit einem spontanen Gefühl tiefen Friedens mein Gemüt besänftigen. Aber es gibt auch Tage in meinem Leben, auch jetzt noch, da trotz aller therapeutischer Einsichten die an mir (missbrauchte) Natur, dieser an Leib und Seele verübte Terror, vor mir aufbricht. Ein Wort nur; reicht oft. Aller Missbrauch aus Terror und Liebe wirkt ohne dieses wichtige  Unterscheiden, immer noch wie damals, unmittelbar und hemmungslos, unter Entbehrung jeglichen Sinns und Verstands. In Unterscheidung jedoch vermag ich Missbräuchliches anzunehmen, auf mich zu laden, um es schließlich zu wenden.

Melitta und ich sind, auch deshalb, "in Therapie". Zurzeit wieder einmal auf ARTE. Es lohnt sich. Dort wird verabreicht, was zur Unterscheidung Not tut. Therapie, Worte gegen das Schweigen, Fürsorge statt Terror. All das gibt es dort in kleinen, konsumierbaren Portionen zu unterscheiden.

Und, so unterschieden, verweile ich heute als Georg mit 65 Jahren, zwar häufig immer noch im Schmerz der verordneten Natur, DENNOCH in altehrwürdiger Furcht der "christlichen Trias" aus Liebe und aus Hoffnung, in einem tiefen Glauben an das Gute in uns, in uns als Menschheit und ihrer Schöpfung. In Unterscheidung aller aktuellen "Blödheiten" dieser Welt, den "bösen Mächten", die urplötzlich wieder aufbrechen, und die schon den jungen Georg so häufig tief hinunter in den "Sündenpfuhl" seines Kerkerverlieses fallen ließ. 

Damals noch als ein recht "eitler Gockel" heute will ich mir als ein gutmütigen "Esel" erscheinen. Den Schafen hinterherlaufend, störrisch aber auch gütig. Damals musste ich mit einem lauten "kikerikiiiii" ganz hinaus auf den obersten Platz auf den Turm der "Stadtmusikanten"; heute versuche ich mich als Esel gleichmütig als geduldiges Fundament dem Turm anzudienen, um die Last meiner Jugend besser (er)tragen zu können.

Unterscheiden heißt eben auch: Aushalten. Ertragen. Widersprüchliches in Einklang bringen. Ambivalenz, Ambiguität zu ermöglichen. Das Feld der Unterscheidung ist heute mein Acker, den es zu bestellen gilt. Mein Name trägt in seiner griechischen Wortwuzel den Bauern "Γεώργιος" in sich. Auch das passt: Ein Esel in seinem Königreich. Das Bild will mir gefallen. Eitelkeit hin oder her. "Die Messschnur fiel mir auf liebliches Land * ja, mir gefällt mein Erbe", wie ich heute in Psalm 16,6 zu lesen verstehe.

Ich will mich keineswegs "reinwaschen". Eher das Wasser in mir klären. Die Natur (mein Leib) schafft mir Erfahrung, die Vernunft (mein Geist) ermöglicht daraus Einsicht, die mein Herz (meine Seele) in Einklang zu bringen vermag. Als Unterscheidung aller Wesensarten "Du lässt mich den Weg des Lebens erkennen. / Freude in Fülle vor deinem Angesicht, Wonnen in deiner Rechten für alle Zeit." (Psalm 16,11) klingt es wie in einer Mediation.

Es gibt nur einen Ort, an dem uns dies alles zugänglich werden kann. In unserem Körper, dem Ort der Erfahrung, in der Natur.

Überlassen wir es schließlich der Natur, ihrer selbstlosen Arbeit, ob auch XXXXX und der holde XXXXX sich noch zu uns gesellen, weil "Göttern kann man nichts vergelten, schön ist's (allenfalls) ihnen gleich zu sein", wie es Friedrich Schiller in der "Ode an die Freude" gedichtet hat. Und "Freude trinken alle Wesen an den Brüsten der Natur", F(riedrich) S(chiller), also F.S. transkribiert in den Jargon unserer Jugend: F.I.! Allesamt sind wir doch am Ende immer noch überaus liebenswürdige F.Is, aren't we? Damals, wie auch heute noch!

"Wild horses
Couldn't drag me away
Wild, wild horses
Couldn't drag me away"

Die "Wilden Pferde" in mir versuchten mich einmal mit aller Macht fortzureißen. Mit der Wahrheit einer Unterscheidung sollte es mir gelingen, sie einmal noch zu reiten. Ohne sie deshalb in ihrem Willen, in ihrer Natur, bezwingen zu müssen. Und seien sie in meinem Fall auch nichts mehr als nur ein Esel!...

Dann sehen wir uns also alsbald, oder?

Liebe Grüße
Georg

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