Werden und Vergehen - Gedanken zur Zeit des Advent

"Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.     
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süsse in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben."

Mit dieser einerseits rührend melancholischen, andererseits den Blick darüber hinaus weitenden Dichtens an der Vergänglichkeit allen irdischen Seins, gelingt es Rainer Maria Rilke die Botschaften des Herbstes durch die besondere Rhytmisierung dieser Reime dem vermeintlichen Ende des Vergänglichen einen Impuls hin zu einer viel größeren Wirklichkeit hin zu öffnen. 

Wir leben hier und jetzt in der Zeit und diese Zeit ist vergänglich, weil Teil der Schöpfung. Was aber "letzen Früchten" selbstverständlich ist, auf die Vollendung hin zu gedeihen und zu reifen, damit sie erst zu dem werde, wofür sie in ihren Anfängen einmal geschaffen war, ist für uns beseelte Wesen eine höchst schmerzliche Erfahrung, die im Gedicht Rilkes allerdings eine geradezu erlösende Anmutung erfährt. 

Wie könnten wir uns das Ziel unseres Lebens, ein Leben, das Vergehen und Verschenken in den Tod hinein geradezu von uns einfordert, als geschöpften Willen begreiflich machen? 

Kaum legen sich die Herbststürme, kaum haben wir das zur Ruhe gekomme Laub aus den Alleen geklaubt, beginnt etwas Neues, weit größeres. Erst indem wir zur einsamen, nach innen gekehrten Ruhe finden, in einen Zustand des kontemplativen Werdens, "wachen, lesen, lange Briefe schreiben", weichen die Wolken der Trauer um das Vergängliche dem Licht der Hoffnung auf einen neuerlichen Schub zur Vervollkommnung erneuerten Lebens. 

Ohne dieses immerwährende Opfer des eigenen vergehenden Lebens für neues Leben, das sich in Sphären noch nicht eigentlich belebten Lebens hinein erheben möchte, wäre Leben und somit die Schöpfung nichts als ein toter Gedanke. Durch die Hingabe des Leibes erst erfahren wir derart das Sakramanent des Lebens. Noch ist Ostern zu dieser Zeit in weiter Ferne, aber durch die Hingabe Christis durch seine Geburt hindurch in sein Sterben hinein ist der lebensspendende Zyklus des Jahres bereits angelegt, der anders gar nicht geschaffen sein könnte. Ohne Tod kein Leben. Ohne Leben kein Tod.

Uns so wird nach dem Vergehen im Herbst die Hoffnung, dass das Kind, unser Kind, auch dieses Jahr wieder geboren werde, neu belebt. Und mit immerwährender Wiederholung durch alle Zeiten hindurch sich einst das Ziel der Schöpfung erst erfüllen wird: "...wenn die Blätter treiben....ist es Zeit" - und erst geworden!

Im Gebet des Mystikers und strengen Gegenreformers Angelus Silesius klingt diese Bewandtnis in einer seltsam paradoxen, jedoch ebenso hoffnungsvollen, zur Ewigkeit hin gesprochenen Kadenz:

"Gott ist ja nichts als gut: Verdammnis, Tod und Pein,
und was man böse nennt, muss, Mensch, in Dir nur sein.

Das Licht der Herrlichkeit scheint mitten in der Nacht.
Wer kann es sehn? Ein Herz das Augen hat und wacht."

Das Vergängliche muss sich erst in Ewigkeit erfüllen, bis das andere, in unsere Welt geboren werden kann. Vergehen und Werden. Werden und Vergehen; mit unserem Verstand nur in Paradoxie begreifbar, kann als Mysterium in unseres Herzens Mitte zugänglich werden, damit es in aller Ewigkeit, zum Ende aller Tage hin, einst nicht mehr weiter vergehen muss. Erst dann wird die Schöpfung zu ihrem Ziel gekommen sein. Wer kann solches begreifen?

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