Der stete Wandel; ein Zeichen göttlichen Mysteriums?

Jeden Morgen füllt sich der Raum christlicher Kirchen vom Chorgestühl aus durch Gesänge dort im Wechsel sitzender oder stehender Mönchen und Nonnen. Pünktlich ertönen ihre Stimmen zum Invititorium (lat. Einladung) und beginnen somit den Tag. Mit einem ewig gleichen Ablauf wird der Tag liturgisch nach Horen (Stunden) geteilt, festgeschrieben im sogenannten Stundenbuch. Das Invititorium ist somit das erste Gebet des Tages, das gemeinschaftlich zelebriert wird. Im Laufe der Geschichte des Christentums und seiner zahlreichen Konfessionen haben diese Riten vielerlei Ausprägungen und Veränderungen erfahren. Eine Konstante allerdings bleibt, wie das Wort bereits sagt, unveränderlich. Der geregelte Ablauf dient der Verherrlichung Gottes durch die Gebete der Gläubigen.

Menschen moderner, aufgeklärter Gesellschaften scheint dieser Ablauf je nach Befindung folkloristische Tradition oder aber nach wie vor sinnstiftende Kultur. Unabhängig davon scheint die Strukturierung des Tages eine wichtige Funktion aller größeren Wertegemeinschaft innezuhaben. Ob seit dem Mittelalter die Kirchenglocken diese Aufgabe übernehmen oder Muhezinne ihre Gesängen von den Minaretten herunter ins Volk streuen; die Einteilung des Tages in Stundenzeiten hat sich letzlich in jede noch so entfernte Weltregion hinein durchgesetzt. Sie dient der Strukturierung aller Lebensbereiche bis heute.

Dabei überlagern und durchwirken sich auch zwei sich widersprechende Zeiterfahrungen. Die linear sich vollziehende Geschichte von Beginn zu ihren Ende hin, aus einer fernen Vergangenheit in eine gleichermaßen ferne Zukunft gerichtet. Und dann, die Zeit in Stunden, Tagen, Wochen, Monaten, Jahreszeiten, Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten und so fort. Man erfährt in diesem Zeitempfinden eine zyklische, permanente Wiederholung, die niemals allerdings identisch ist, nur eben in ihrer ewigen Wiederholung, womit sie wiederum in die Zeit von Geschichte einfließt.

Genau unser Gefühl über verschiedenen "Qualitäten" von Zeit, werden auch im Inhalt der Stundengebete nachvollzogen, die in Form von Psalmen erzählt werden. Zu Beginn des Tages am Morgen nach der immer gleichen Eröffnung mit den Worten „V/ Herr, öffne meine Lippen. R/ Damit mein Mund dein Lob verkünde.“ und anschließend meist das Rezitieren des Psalm 95 ("Kommt, lasst uns jubeln dem HERRN,  jauchzen dem Fels unseres Heils!"). In diesem Fall wird in groben Zügen und wenigen Worten der Inhalt der gesamten Offenbarungsgeschichte des jüdischen Volkes erzählt, das Gott den Schöpfer von Himmel und Erde preist, sich als Volk zu ihm bekennt, das er aus dem Sklavenhaus Ägyptens in die Freiheit ("in die Wüste") geführt hat. Das Volk jedoch fällt im Laufe seiner Geschichte immer wieder von Gott ab ("Dort haben eure Väter mich versucht"), wird für diesen erneuten "Sündenfall" bestraft, bekennt sich erneut und erfährt wiederum das Heil, um aber erneut abzufallen. Dieses Geschehen wird in einer Abfolge von 40 Jahren erzählt ("Vierzig Jahre war mir dieses Geschlecht zuwider"). Zum Ende der Tage dieser ewigen Wiederholung steht eine unheilvolles Prophezeiung: "Darum habe ich in meinem Zorn geschworen: Sie sollen nicht eingehen in meine Ruhe", nur bedeutet dieser Zustand nicht das Ende der Geschichte, sondern ganz im Gegenteil deren "Neubeginn".

Die jüdische Tora ist ein Geschichtsbuch, in dem dieser ewige Wandel im Geschick des jüdischen Volkes dargestellt ist. Aufgezeichnet und in seine heutige Form gebracht wurde sie erst im babylonischen und alexandrinischen Exil um die Jahre 200 a.C. (in der Wüste sozusagen, nämlich fern des Tempels von Jerusalem!). Sie wird sozusagen als erlebte Geschichte erzählt, die sich in der Zeit ewig wiederholen wird. Wäre da nicht gleichzeitig ein gänzlich anderer Blick auf die Zukunft, begleitend zur Ursprungsgeschichte, eine andere Form von Zukunft sprachlich entfaltet und dokumentiert. Die Jesaja-Prophetie, die schließlich im Christusgeschehen eine gänzlich andersgeartete Zukunft erhoffen lässt. So erhält die christliche Bibel schließlich seine abgeschlossene Geschichte, die von seinen Ursprüngen in der Genesis bis zu seinem geschichtichen Ende in der Offenbarung (zum Ende aller Zeiten) entworfen wird.

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