Lüge vs. Unschuld

Lieber XXXXX,
danke für die Zeilen, die Du mir geschrieben hast. Selbst, wenn sich in diesen eher Belanglosigkeiten, ich korrigiere mich, eher Allgemeingültiges, finden lässt; ich hoffe, ich darf das bei allem Respekt und unter Vorbehalt selbstverständlich, so frei heraus formulieren. Wobei; die Deinen Gedanken innewohnenden "Bedenken" will ich sehr wohl teilen, hätte mir durchaus aber pointiertere, deutlicher formulierte, Einwürfe zu diesen Bedenken gewünscht. Weiter unten will ich mich bemühen, präziser zu formulieren,was ich damit sagen möchte. 

Du hast Dich also "Pieksen" lassen? Hoffentlich fühlst Du Dich jetzt sicherer und besser geschützt, befreit von der machtvollen Angst, die inzwischen die gesamte Menschheit vor sich hertreibt. Ich darf vermuten, dass nach kurzem Aufatmen, nach etwas Entlastung die Sorgen zurück gekommen sind? Allzu deutlich scheint mir von Beginn dieser Krise an ein Erwartungshorizont aufgebraucht worden zu sein, der sich niemals wird erfüllen lassen. 

Konkret: warum sollte sich nach dem versprochenen "Heil nach DurchImpfung" Entlastung einstellen? Mit dem Umstand von Leben und Sterben wird es ganz sicher so weitergehen wie zuvor. Jedoch mit gravierendem Unterschied: in diesen bald 18 Monaten Dauerkrise" wurde uns die Furcht vor dem Leben erst so richtig fest eingeimpft!

Angststörungen sind deutlich auf dem Vormarsch. Überall, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Politik, Gesundheit, Wirtschaft, Familie, soziales Leben sind in Geiselhaft und werden es auch nach der Impfung bleiben. Spontan- und Spätfolgen dieses ungeheuren Ausmaßes an Reduktion von Leben auf "nacktes Überleben" hin kann einfach nicht gesund sein. Psychisch wie physisch. Kinder zu Beginn ihres Lebens wird es weit mehr betreffen als uns alte Socken, die wohlübersättigt, in Puschen und unsinnig überhitzten Räumlichkeiten bequem kreuzgeplagt vor der Vertrottelungsmaschine "Abendnachrichten" mit Krämerseelen nach neusten News und Statistiken gieren. Leben schien einmal weit wertvoller inspiriert zu sein. 

Dein "geistiger Ouput" wägt gewiss ab. Einerseits sprichst Du von einem "fiesen Virus" um ihm wenige Zeilen später als wichtigen Baustein von Leben zu huldigen? Wie denn jetzt? Wie soll das zusammengehen? Der ene Virus ist "gut", der andere aber "schlecht"? Merkwürdig darf ich es doch schon finden, so darüber zu befinden. Warum denkst Du aber nicht gleich weiter, über diesen allzu einfachen Umstand hinaus? Radikal ließe sich doch formulieren: Leben an sich kann niemals falsch im Sinne von gut oder schlecht sein. Richtig wäre vielmehr der Gedanke: gut oder schlecht vorbereitet scheinen allenfalls wir als Zielpunkt jeglicher viralen Intervention. Der Virus wäre so gesehen die Provokation, der Mensch, als lebendiges System in all seinen Bestandteilen die Reaktion auf diesen  "Von süßem Spiele gesättiget" (Hölderlin im Brief an die Parsen) reagieren wir nun höchst panisch vor einem an sich nichtigen Virus? Da scheint doch vielmehr unsere Reaktion "überschießend" angesichts der allzu willfährig überantwortenden Autonomie zugunsten unseres allumspannenden Gesundheitsnetzes. Dieses reagiert panisch, weil seine Hausaufgaben schlecht erledigt; und mit ihm wir alle, versammelt vor den Abendnachrichten. Stimmen ein, laut mitrufend in deren Kassandrarufe! 

Lieber XXXXX, nun habe ich mich in einer Art unappetitlichen Diarrhö der verursachenden Viren zu entledigen versucht und will nun auf Dinge zu sprechen kommen, die mir aus unseren letzten Diskursen noch nachhängen. Ich sehe mich diesbezüglich gleich mehrfach in Bringschuld. Einerseits wurde ich das Gefühl nie los, dass unsere über weite Strecken gemeinsam erlebte Adoleszenz weiterhin nicht frei sind von Zuschreibungen und Vorhaltungen. Andererseits klingt mir Dein jüngster Verdacht nach, ich würde mich nicht authentisch äußern, sondern würde "feuilletonistisch" vom "Eigentlichen" ablenken wollen, indem ich "intellektualisierte"

Ganz falsch sind in Deine persönlichen Wahrnehmung dieser Zusammenhänge sicher nicht; würde ich mich denn sonst zu Ihnen äußern wollen, ja, fast müssen? Du forderst also "Seelenstriptease" meinerseits ein?

Gleich zu Beginn eine Einschränkung, die ich ganz bewusst mit der oben so kurz verdauten Viren-Mensch-Krise verschränken möchte, ohne sie gleichermaßen "diarrhötisch" unappetitlichen gleich wieder ausscheiden zu wollen. Ich will Dich dazu einladen, einmal zu versuchen, unvoreingenommen meinen Selbsterklärungsversuchen zu folgen. Ich glaube: dazu wäre ein gleichzeitiges Geschenk Deinerseits vonnöten um das ich Dich bitten möchte. 

Betrachte mich und meine Gedanken bitte als eine Art Virus, der Dich befallen möchte. Dabei möge ich ein Virus sein, der, weil er aufgrund seines Bauplans gar nicht anders  kann, sich mit ureigenen Gefühlen und Widrigkeiten, aus denen sich sein Selbst speist, in Dein Gefühlssystem einschleusen möchte. Er beabsichtigt sich dort neue Informationen holen, mit ihnen zu interagieren und Anregungen zu holen, die ihn wirksamer, selbstbestimmter, autononer werden lassen sollten. Dermaßen "angereichert" würde er Deinen Organismus wieder verlassen wollen um auch andere Organismen aufzusuchen. In aller Freundschaft und liebevollen Wohlwollen. Weisheit dagegen darf sich jetzt noch in Geduld üben. Diese Analogien ließen sich für alle "Tauschsysteme" definieren mit dem einzigen Ziel, dem Leben Zuträgliches zu etablieren und dem Leben Abträgliches abzuscheiden. Die Gefahr ist notwendigerweise stets ebenso groß wie der Benefit. Allerdings passt letzterer besser (wie der Name selbst), wird überdauern und somit selbst zum Lebensbaustein. Das Darwin'sche "Survival of the fitiest" einmal richtig interpretiert. Die Gefahr ist lediglich Provokation. Das System wird gestärkt. 

Seelenstriptease

Wie fängt man diesen an? An der Stange, sich aufreizend bewegend? Demütig und eher wohlgesittet? Ich werde versuchen beide Varianten zu spielen. 

Ich bin, wie ich bin. Wie ich schon als Kind war, so bin ich auch heute noch. Dazwischen wurde ich geschlagen, aber geliebt, gedemütigt, aber aufgefangen. Und deshalb ungebrochen. Widerständig. Provokativ. Humorvoll. Naiv. Träge. Eruptiv. Tiefsinnig. Scharfzüngig. "Einer allein kann gar nicht so ein Trottel sei, wie Du einer bist". "Bei soviel, wie an einem einzigen Tag, durch Deine Hände kaputtgeht, wirst Du einmal 10.000 DM pro Stunde verdienen müssen". "Vor Deinem Unsinn sind nicht einmal die Heiligen sicher", als ich einmal den Heiligen Drei Königen und andere Figuren des Krippenspiels meiner Aufmerksamkeit widmete. So, oder so ähnlich waren die wohlgesetzen, immer aber auch hinreichend liebevoll gemeinten Zuschreibungen durch meinen Vater. 

Dieser war machtvoll, spektakulär doppeldeurig, ironisch, gewaltvoll, zugewandt, körperlich; später zu meinem Missfallen bisweilen zynisch. Heute gewährend, zunehmend altersmilde, herrlich vergesslich, irgendwie ein Schussel vor dem Herrn, bisweilen etwas linkisch, aber auf seine Art immer erfrischend offen und ehrlich. 

Warum diese Auflistung? Diese Frage ließen such bestenfalls durch weitere Fragen ein wenig belichten: in welchem Fühlen, Denken, Handeln fände ich denn sonst Wurzeln? Aus welchem "Urzustand meines Selbst" Denn sonst Aufbruch? Böte mehr Eigenständigkeit, Vertrauen in ein "anderes Eigenes" bessere Aussichten? Wäre ein Blick mit anderer Aussicht gütiger mit mir selbst? Weiser in Hinblick auf Erkenntnis? Stünde - positiv gestimmt - Aussicht auf mehr "Erfolg"? Droht - negativ gestimmt - nicht gar ein wenig Selbstverleugnung? Wäre ein Aufblühen aus meine Wurzeln ohne jene Wurzeln denkbar? Wäre jedwedes Ergebnis nicht allein Änderung von Farbnuancen? Radikaler: Änderung allein zu anderer Farbe? Alles "Windhauch" würde mit Kohelet die Antwort wohl lauten: "Im Übrigen, mein Sohn, lass dich warnen! Es nimmt kein Ende mit dem vielen Bücherschreiben und viel Studieren ermüdet den Leib. Hast du alles gehört, so lautet der Schluss: Fürchte Gott und achte auf seine Gebote! Das allein hat jeder Mensch nötig." (Koh 12,12 EU 3016). Frei formuliert: egal, was Du tust, prüftest, fantasierest; lebe nicht am Leben vorbei! 

Warum aber kein Wort über meine Mutter? Sie hat sich stets hinter ihrem glanzvollen Gatten versteckt, niemals für sich, ausser ihrer uns stets vor Rätsel stellende Neurosen, etwas eingefordert. Sie war stets Trost für mich und meinen Unsinn, aber auch kritisch und doch auch oft deutlich, ohne dass wir über Gebühr gefordert waren. Seltsam: Rede ich über meinen Vater, spreche ich in Ichform, rede ich über meine Mutter, spreche ich in Wirform. 

Darf ich vermuten, dass es allen Menschen so gehen muss, wir mir selbst? Zumindest uns in der uns prägenden Kultur. "Fremd sind wir ins Leben gekommen, fremd werden wir wieder gehen" heißt es bei Kohelet. Dem mag ich zustimmen, aber wiederum auch nicht. Ebenso wenig, wie ich heute keinem "Mainstream" mehr zu folgen bereit sein will, den ich als junger Mensch geradezu erfüllen suchte. Höre ich heute: "So sollten wir es tun!" , fühle ich mich unmittelbar angesprochen, es gewiss anders tun zu wollen. Wird irgendwo allzu deutlich pro meiner eigentlichen Haltung argumentiert, fühle ich mich unmittelbar angehalten gleich conta dieser Haltung zu argumentieren. Ich mag fast alles zulassen können, will aber überall kritisches anmerken dürfen. Höre ich Musik, will ich sie spielen. Sehe ich einen Ball, will ich mich über "mein Tor" freuen dürfen. Verliere ich, macht es mich missmutig. Regen macht mich eher verdrießlich, in der Sonne leuchtet mein Herz. Ich will unschuldig sein dürfen! Es gibt keine Zeit, in der ich es jemals, auch nur gewesen sein könnte. Lügen sind eben auch nur so Wahrheiten. 

Gemobbt habe ich früher mit Inbrunst. Jede Abwertung, die ich gespürt habe, wollte ich doppelt zurückzahlen. Glanz anderer war eine Zumutung für mich. Weil allein ich sollte glänzen. Ich wollte hoch hinaus und durfte deshalb auch sehr tief fallen müssen. 

Das ist lange her. Heute bin ich diesbezüglich anders, aber der gleiche geblieben. Mehr als meine Frauen haben mich meine Kinder lieben gelehrt. Ich will nie mehr allein sein. Meine Melitta wird einmal die größte Herausforderung sein, die ich jemals gemeistert (herrlich chauvinistich) werde haben müssen. Niemand sonst versteht es mich bloßzustellen wie sie. Warum? Weil ich sie liebe. In aller notwendigen Inbrunst. Aber ich kann mich gut wehren. Ich kann ihr gegenüber richtig eklig werden. Fies, wie ein Virus. Ich kann laut werden. Auf den Tisch hauen. Wie Thor, gleich einem tumben Tor. Ich konnte und kann sie mit einem Lächeln für mich gewinnen und habe nie Angst davor sie zu verlieren. Sie verletzen sehr wohl. Sie ist so empfindlich! So empfänglich für meine Gunst. Wird weich wie Wachs in meinen Händen, ich dabei brettthart, höhöhö. Ich mag es zu sehen, wie sie leiden kann. Viel mehr als ich. Ist sie allein ehrlich? Was ich gar nicht so unbedingt anstrebe? Gar nicht so sein will? Vielleicht. Ich strebe vielmehr nach offener, nein öffnender Unschuld. 

Lieber XXXXX, ist das Striptease genug? Habe ich Dich für mich dadurch gewonnen? Dein Misstrauen gemindert? Dich zum Lachen bringen können? Oder aber ist zu fürchten, dass ich Dich in Not getroffen habe und Dich in meinem Unschuldswahn "übersehe", gar "überfahre"? Bist Du gewillt, mir ob meiner Nabelschau nunmehr einen Freifahrtsschein in Sachen "Unschuld" auszustellen? Kann sich jemand für "unschuldig" erklären, obwohl er für sich so viel Raum reklamieren will, wie ich es jetzt soeben in Worten, wie sonst gerne in Taten, für mich herausnehme? Was ist das: "Unschuld"? Machen wir uns schuldig, schon allein, indem wir Räume allein schon durch Metaphern und Worten für uns besetzt halten wollen? Ist das besetzende, für sich in Besitz nehmende Wort, schon zu narzisstisch? Und deshalb unerträglich? "Im Anfang war (doch) das Wort", mit dem alles begann. Das Gespür von Zeit, von Macht und Ohnmacht, von Ende und Beginn, von Leben und Tod. Ohne Wort kein Leben, im Sinne des menschlichen Seins im Geiste? Wie hieß es doch in Folge des Urknalls? "Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort ist nichts, was geworden ist". 

Worte sind es, die uns schuldig machen, indem sie unseren Geist infizieren, sich selbst immerfort zu affizieren suchen. Sie werden schuldig im gleichen Moment, an dem sie unseren Mund verlassen. Sie wirken als "Meme", wie Viren wirken. Das unselige "cancel culture" ist ein unsinniger Versuch, unser Geschichtsbild vor den Folgen ihrer eigenen Geschichte wegimpfen zu wollen. Erbärmlich! Sollten wir nicht viel mehr endlich zu lernen versuchen, indem wir in Kontakt mit dem vermeintlich "Bösen" als "Erfolg" von Geschichte zu treten versuchen, als durch Impfung mit neuem "mind setting" immun gegen sie werden zu wollen. Insofern ist die aktuelle Pandemie pandemisch in noch weit größeren Zusammenhängen. Schuld geht niemals verloren. Alle Leiden wir daran. Nur wer sich zur Unschuld bekennt, durch das Wirken von Worten erkennen lernt, was Schuld von Unschuld wirk-lich trennt, begibt sich auf den Weg. 


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