Der Rosenkavalier - Grundlagen zeitgemäßer Inszenierung

E-Mail vom 9.Juni 2022

Ihr Lieben,

Ein denkwürdiger Abend, der Pfingstmontag vor einigen Tagen! Wie rasch sich doch im "Sturm von Gedanken" ein grobes Vorkonzept zu einem neuen Projekt entwickeln lässt. Etwas Gutes zu essen, ein guter Wein; aber noch viel mehr, Freude und Spass an Ideen!

Ich denke, wir sind alle mit frischen Bildern, einer sehr vagen Ahnung zwar noch, zu einer möglichen Gestalt des Rodauner Rosenkavaliers auseinander gegangen. Gibt doch das Stück, wie es von Hofmannsthal und Strauss angelegt ist, und wie es über die Jahre in vielerlei Inszenierungen zum allgemeingültigen Kulturgut werden konnte, auch so unglaublich viel her. Und ist seinem "Wesen" nach "ur-österreichisch"! Einfach zum Verlieben! Eine Komödie, zugleich grob und trivial, und doch auch geistig und federleicht. Zum Schmunzeln und zum Nachdenken.

Es geht um die Liebe, um Leidenschaft, um das Begehren, aber auch um Anerkennung, um Eitelkeiten UND vor allem auch um die Frage, wie gesellschaftliche Zustände Menschen prägen und leiten, Machtverhältnisse etablieren, die wiederum allzuleicht zu "Übertreibung" und "Übergriffen" verleiten. 

Zeitebenen der Inszenierung

Wir hatten uns darauf verständigt, dass wir mit unserer Inszenierung einen erweiterten Zeithorizont eröffnen wollen. Unter Aufführung eines Kernthemas, das Thema der Handlung im Original, in der Sprache Hofmannsthals, in der Ausstattung Rollers und mit musikalischem Bezug zu Strauss, eingebettet in ein Rahmenthema der Jetztzeit, am Set einer aktuellen Filmproduktion, mit zeitgemäßen Dialogen, Bühnenbild und Ausstattung, geleitetet von und rückbezogenen wiederum auf eine höhere Metaebene, in der dramaturgische Absichten der Autoren, Hofmannsthal/Strauss/Kessler verhandelt werden. Die Metaebene wäre hierbei eine zeitlose Ebene, in der zwischen der Vergangenheit, die Zeit Maria Theresias, und der Jetztzeit am Filmset jeweils "umgeschaltet" wird. Das könnte höchst spannend werden und in der künstlerischen Umsetzung äußerst herausfordernd sein.

Und ist das Geschehen in gesellschaftlichen Konstellationen nicht einerseits zeitlos und doch auch wiederum konkret zeitbedingt? So gesehen ließen sich die Umstände aus der Rokoko-Zeit, ihrem Ursprung nach eine quasi bodenlose wie himmelstürmende Übertreibung, in ihrer figürlich-bildlichen Opulenz, der modernen, nüchternen, weil aufgeklärten, gegenständlichen Jetztzeit, unserer Rahmenhandlung, gegenüberstellen. Ein Rausch an Farben, an Gesten, an Distinktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse aus jener Zeit im Gegensatz zu einer präzisen, faktischen, in naturwissenschaftlicher Stringenz kontrollierten Nüchternheit dieser Tage.

Merkwürdig gleich geblieben sind Machtverhältnisse, die von jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen konstituiert sind und in einer Art Bewegungsspielraum münden, die gesellschaftliche Interaktionen "ihrer Zeit" ermöglichen. Die Rückschau erkennt und reflektiert diese Umstände, kann sie wenden und auch ändern, getragen von der Hoffnung "verbesserter" Verhältnisse in der nahen Zukunft. 

Aus der Perspektive "Metaebene" im "prophetischen Jetzt", erscheint die Kernhandlung als Vergangenes, und die Rahmenhandlung als ersehntes Zukunftsprojekt. Im Spiel aus Macht, Ohnmacht und Verführung am Set einer aktuellen Filmproduktion. Mitnichten wird sich dieses Spiel als "endgültiger" Entwurf einer Wendung zum "Perfekten" erweisen. Das ganze Konstrukt wird somit erneut zur komödiantischen Fiktion. In der Sprache Hofmannsthal'scher Prägung, "würd' gar zurückgehen in der Zeit!"

Wie sich das eine zum anderen im Verlaufe der Zeiten entwickelt, wie es sich in immerwährenden Schleifen stets aufs Neue vollzieht, das macht die zeitlose Aktualität des Rosenkavalier aus. Die Reflexion dieser "Zeitschleifen", auch ihrer Notwendigkeit, ist übrigens ein Kernthema im Schaffen Hofmannsthals, beim Jedermann, beim Rosenkavalier, beim Turm.

Formen der Identität im Zeitgeschehen

Wie bei der frauJEDERmann werden wir auch alle Personen im Rosenkavalier mit Biografien "ihrer Zeit" ausstatten müssen, die sich als "Identitäten" im Zeitgestehen des Stückes begegnen. War Sophie im Rokoko noch eine weitestgehend rechtlose Person, die deshalb dominanten Männern, Söhnen wie Vätern, ausgeliefert war, sich bestenfalls als "neurotisch" in ihrer Entrüstung gegenüber solch Übergriffen verhalten konnte, so "muss" sie dieses Verhalten heute nicht mehr zeigen. Sie darf eigene Ecken und Kannten ausbilden, sich gegen Übergriffe wehren und sich in eigener, selbstbestimmter Rolle definieren. Sie ist stark geworden und weiß, was sie will, ist aber andererseits Übergriffen weiterhin nicht gänzlich enthoben, weil das Altvordere nichts an Gewicht verloren hat und weiterhin sein Wesen und Unwesen treibt. Und sie weiterhin in Verzweiflung zu treiben vermag, jedoch nicht mehr in neurotisches Abwehrverhalten zwingt. Das "Rollenspiel" um Freiheit hat neue Ausdrucksformen gefunden, die sich in Stil, in Kleidung in der Art der Kommunikationsfähigkeit auszudrücken vermag.

Schuldlos, weil noch nicht ausdifferenziert, scheint mir die hybride Figur des Octavian. Er/Sie/Es wird (gerade aufgrund ihrer Konturlosigkeit?) begehrt, von der Marschallin und dem Ochs (nomen est omen - im Bild eines wilden Stiers, seiner "Urgewalt" jedoch längst enthoben). Octavian muss sich gegen die Begehrlichkeiten selbst erst einmal wehren lernen müssen, bis er angesichts Sophiens die Rolle tauschen wird, indem er selbst sein Begehren aufkeimen spürt. Er erhält mit zunehmender Leidenschaft "Kontur" und beginnt den Spieß (der "mit'm Spadi fuchtelt") mit Unterstützung Sophiens gegen seine Peiniger auszurichten. Die widerständige Sophie wird so zum Bezugspunkt und schließlich zum Fluchtpunkt. In dieser jungen Beziehung ist Zukunft noch offen, der Stern von Marschallin und Ochs dagegen bereits am sinken. Das eine wächst, indem das andere vergehen wird. 

Warum aber das Taschentuch, das der Sophie ganz am Ende auf die Bühne fällt? Ein Sinnbild einerseits für unschuldige Hoffnung für eine noch mögliche "freie" Entfaltung ihrer Liebe, die sich in der Leidenschaft zu Octavian manifestiert, andererseits bereits für die bald aufkommenden Tränen der Vergänglichkeit, die jedem Leben innewohnt?

Die Zeit der Marschallin und Ochs, ihrer Typologie nach, gehört bereits in ihrer Gegenwärtigkeit der Vergangenheit an, nähert sich der vergänglichen Zukunft. Indem sie sich bildlich gesprochen "in der Zeit verklammert", sich gegen das Vergehen in der Zeit stellt, wird jener auf seine, jene auf ihre, irgendwie "übergriffig". Und das in permanenter Wiederholung. Es sei denn? Es sei denn? Es sei denn, als sie frühzeitig erkennen wollten, dass sie dem Strom der Zeit wenig entgegenhalten können, nicht einmal durch die Aufrechterhaltung ungerechter Machtverhältnisse, die nur aufschieben, aber nichts zu lösen vermögen. Verstünden sie diese Zusammenhänge, dann böte sich ihnen auch selbst noch Zukunft; die Marschallin immerhin, eine fühlende Frau, ahnt es und wird sich - schweren Herzens zwar - Octavian nicht in den Weg stellen. Der Ochs, der eigentlich tragische Held der Komödie, versteht nicht. Und wird bald scheitern. Jeder andere kann es erkennen, nur er selbst nicht. Er ist der wahre Bajazzo. Er wird sich treu bleiben. Und darüber alles andere verlieren. Schließlich mit leeren Händen die Bühne verlassen.

Aber in seiner ganzen Tragik ist er nach Hofmannsthal/Strausscher Lesart ein "Held", eine ikonografische Figur, über die man allenfalls milde richten sollte. Er tut, was er kann; er traut es sich (als tragende Figur) zu! Immerhin!

Interessant sind auch noch die Figuren von Valzacchi, dem Italiener, und seiner Begleitung, Annina. Ihre Figuren bedienen ein anderes, sich im Schaffen Hofmannsthals wiederholenden Bildes. Ein Abbild des Intreganten, des Mitläufers, Mammon stets im Blick, verführbar, willfährig, chamäleonartig. Sie wahren ihre Interessen durch Anpassung. Sind allgegenwärtig und werden eigentlich verachtet. Niemand will so sein. Alle aber tragen auch wir ihre Züge. Großartig, mit welchem wohligen Entsetzen Hofmannsthal versteht sie in Bilder zu setzen. Auch sie sind eben "besonders heut".

Und die Duenna? Sie wirkt als "Alter Ego" der Sophie, die in grenzenloser Bewunderung für die "Form" plädiert. Das Schillernde, das Protzige, das Übergriffige. Das Vergehende am Höhepunkt seiner Gestalt. Wie im kurzen Aufflackern des Fin der Siécle, auf das wir mit Hofmannsthal bereits zurückblicken konnten. Die Duenna aber bewundert das, was ihr fremd erscheint, ihr fremd bleiben wird, Sophie es aber bereits überreich besitzt. Einen starken Charakter, mit dem sie sich in die Ausprägung ihrer Zeit hinein Zugang und Freiheit verschaffen wird. Wie einst der Ochs, die Marschallin, alle Figuren gemäß einer Rolle, in sie schlüpfen werden. Octavian muss noch weiter ausholen, indem er sich zunächst klar machen wird, für welche Geschlechterrolle, innerhalb welcher Gefühls- und Gedankenwelt, er eigentlich geboren ist. 

Soweit nur erste Erwägungen und Gedanken nach unserem Austausch am Pfingstmontag, die natürlich noch roh und fragmentiert daherkommen. Aber vielleicht einen Beitrag liefern zur Entwicklung eines plausiblen, erkennbaren Rahmens für die Aufführung, der ihr Halt und Form geben soll. Wie sich das Ganze in Sprache, in Bewegungen, in "Musik" der Einzelcharaktere zur gesamten  Gestaltung des Stücks, zu seinem Wesen formen lässt? Das wird zu unserer Arbeit werden, in den Monaten bis zur Aufführung am Rodauner Sommertheater, oben vor der Bergkirche.




Email vom 10.Juni 2022

Lieber XXXXX,

der Gedanke kam von Dir: finden sich im Werk von Hofmannsthal homoerotische Tendenzen? Ich persönlich meine: unbedingt! Wobei es mir keineswegs sinnvoll erscheinen will, etwaige Tendenzen herauszuarbeiten und in unserem Rosenkavalier unterzubringen zu wollen.

Ich halte es grundsätzlich für viel wahrscheinlicher, dass Hofmannsthal es verstand Homoerotik in seinen Stücken unterzubringen, ohne sich deshalb gleich "outen" zu müssen (sofern deine Vermutung einer Homoerotik Hofmannsthals überhaupt zutrift). Allein der Umstand, dass er das Mittel der "Verwechslungskomödie" beim Rosenkavalier verwendet, legt dies nahe. Das Begehren Octavian's durch den Ochs kann derart quasi "legitimiert" werden, weil es auf Verwechslung beruht. Nur über "Verwechslung" kann Homoerotik in der Zeit des Entstehens vom Rosenkavalier dem Publikum verkauft werden.

Heutzutage ist dies nicht mehr notwendig. Homoerotik kann als Bereicherung künstlerischens Schaffen wahrgenommen werden. Ich will deshalb auch weiterhin nicht davon ablassen, dass ein offenes homoerotisches Begehren des Ochs dem Octavian gegenüber sehr wohl in unserer Zeit tadellos funktioniert. Als Spannungsbogen braucht es keinen Kleidertausch als Mimikry mehr, die Spannung entsteht allein durch das Begehren auf ein bestimmtes Geschlecht hin!

Interessantetweise ermöglicht es geradezu der Gebrauch des generischen Maskulinums unserer Sprache um Verwirrung zu stiften. Die Liebe zu eineM Menschen trifft die Gattung Mensch, noch nicht sein Geschlecht. Wir haben diese Fülle dem generischen Maskulin als komplexen Träger unserer Botschaften zu verdanken. Andere Sprachen wie das Persische zum Beispiel, die den Gestus zur Distinktion nicht kennen, schaffen die Vielfalt durch Weglassen, wir in unserer Sprache durch komplexen Bezug. Eine "phantasmagorische" Wirkung, aus der gute Komödien geboren werden!

Weiterführendes zur Wirkung des generischen Maskulinums siehe:

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Navid_Kermani/Werk/Stellungnahme zum generischen Maskulinum

Liebe Grüße
Georg







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