Egmont - Macht und Poesie


Als Dichter konnte sich Goethe im Spätsommer 1787 in Rom auf einem Höhepunkt seiner neu belebten Schaffenskraft fühlen, denn Anfang September war er mit dem »Egmont« fertig geworden. Es war eine unsäglich schwere Aufgabe, die ich ohne eine ungemessene Freiheit des Lebens und des Gemüts nie zu Stande gebracht hätte. Man denke, was das sagen unll: ein Werk vornehmen, was zwölf Jahre früher geschrieben ist, es vollenden ohne es umzuschreiben. 

An dem Stück hatte er im Herbst 1775, in den Wochen vor der Umsiedlung nach Weimar geschrieben, weshalb denn auch das letzte Buch von »Dichtung und Wahrheit«, worin das Ende der Frankfurter Zeit und der Aufbruch nach Weimar geschildert wird, mit den kühnen und schicksalsgläubigen Worten Egmonts abschließt: Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts als mutig geSaßt die Zügel zu erhalten, und bald rechts, bald links vom Steine hier, vom Sturze da die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich kaum woher er kam. 

Diese Worte Egmonts am Ende der Autobiographie deuten die starke Identifikation des Autors mit seiner Figur an. Das Stück war so lange liegen geblieben, und Goethe hatte bis dahin zahlreiche vergebliche Anläufe unternommen, es abzuschließen, nicht etwa weil es ihm in der Zwischenzeit fremd geworden wäre, sondern weil es ihm allzu nahe blieb. Einmal nannte er es Charlotte gegenüber ein wunderbares Stück. Fast zu gut erkannte er sich in seinen wilden Jahren darin. Ich will nur das allzuaufgeknöpfte, Studentenhafte der Manier zu tilgen suchen. 

Egmont ist ein Mensch mit Lebenskraft und Lebenslust, spontan und hingebungsvoll, genießerisch, frei und gelassen, unbekümmert, freundlich und energisch. Ein Mensch, der es versteht zu leben und leben zu lassen. Er habe ihm, schreibt Goethe in »Dichtung und Wahrheit«, die ungemeßne Lebenslust gegeben, das grenzenlose Zutrauen zu sich selbst, die Gabe alle Menschen an sich zu ziehn (attrativa) und so...

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...die Gunst des Volks, die stille Neigung einer Fürstin, die ausgesprochene eines Naturmädchens, die Teilnahme eines Staatsklugen zu gewinnen; ja selbst den Sohn seines größten Widersachers für sich einzunehmen. 

Diese attrativa, das wußte Goethe, besaß er auch selbst, und er verlieh sie Egmont, seinem Liebling, in einem so vergrößerten Maßstab, daß sie an das Dämonische rührt. Unmittelbar an die zitierten Sätze über Egmont schließt in »Dichtung und Wahrheit« die berühmte Reflexion über das Dämonische an, dessen Bedeutung im modernen Sprachgebrauch ungefähr dem Charismatischen entspricht. Welche Begriffe man auch verwendet, es bleibt etwas Rätselhaftes an diesem Magnetismus der Lebensmacht, die von solchen Personen ausströmt, im Guten oder auch im Bösen. Von diesen dämonischen oder charismatischen Menschen, schreibt Goethe, gehe eine ungeheure Kraft aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe. 

Egmont hat diese Ausstrahlung, doch er ist zu liebenswürdig, um sie mit Berechnung einzusetzen. Er lebt sie aus. Anziehend oder gar überwältigend ist nicht so sehr, was er tut, sondern was er ist. Egmont ist nicht nur der Liebling der Frauen, ganz besonders von Klärchen, er ist auch sonst beliebt im Volke. Die Niederländer in ihrem Befreiungskampf gegen Spanien haben ihn zu ihrem Freiheitshelden erkoren. In Goethes Darstellung ist er eigentlich kein politischer Mensch, vielmehr gerät er in die Politik und kommt am Ende darin um. Der Herzog Alba rückt an. Wilhelm von Oranien, der Politiker, durchschaut die Pläne Spaniens, die auf die Beseitigung der unzuverlässigen niederländischen Aristokratie hinauslaufen. Oranien warnt Egmont und fordert ihn auf, sich, so wie er, in Sicherheit zu bringen, um eine günstigere Gelegenheit für den Widerstand abzuwarten. Doch Egmont schlägt die Warnung in den Wind: Er vertraut dem König, seinem Volk und vor allem vertraut er sich selbst. Er verachtet Schleichwege, Intrigen und Kalkül. Und darum geht er in die Falle, die ihm Alba stellt. Das geschieht im vierten Akt, dem Höhepunkt des Dramas. Hier zeigt sich Alba als eine ebenfalls grandiose Gestalt, kalt, berechnend, rational. Alba verkörpert die Dämonie des Politischen. Von ihm geht eine andere Art von Macht aus. Bei Egmont entspringt sie aus der Persönlichkeit, Alba indes verkörpert ein Machtsystem; er verkörpert es wirklich, und das ist mehr, als wenn...

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...er es nur repräsentierte. Es sind die Antipoden der Macht, der persönlichen und der überpersönlichen. 

Goethe hat sich mit diesem vierten Akt des Dramas, bei der Ge. genüberstellung der beiden, sehr schwer getan. Hier blieb er in all den Jahren, in denen er daran schrieb, immer wieder hängen, beispielsweise Ende 1781, als er an Charlotte schrieb: Mein Egmont ist bald fertig und wenn der fatale vierte Akt nicht wäre den ich hasse und notwendig umschreiben muß, würde ich mit diesem Jahr auch dieses lang vertrödelte Stück beschließen. Im Sommer 1787 in Rom war es endlich so weit. Am 1. August ist der vierte Akt fertig. Damit war die größte Schwierigkeit bewältigt. Worin aber bestand diese Schwierigkeit denn nun eigentlich? 

Goethe wollte es sich nicht zu leicht machen, indem er Alba auf die Rolle des politischen Bösewichts reduzierte. Im Gegenteil, Alba sollte die Sphäre des staatlich-politischen Lebens auf durchaus würdige und in sich notwendige, wenn auch, von Egmont her gesehen, erschreckende Weise zur Geltung bringen. Das glaubte Goethe seiner eigenen Lebensstellung in Weimar schuldig zu sein. Seine Amtstätigkeit war zwar gänzlich undämonisch, und zumeist ging es dabei auch nicht um Leib und Leben, aber daß in der staatlich-politischen Sphäre eine andere Logik herrscht als im Privaten und Poetischen, das konnte Goethe auf Schritt und Tritt erfahren, und es mußte lebenspraktisch bewältigt werden. Der poetische Sinn schätzt beispielsweise das Lebendige in seiner Einmaligkeit und nähert sich ihm individuell; im staatlich-politischen Raum aber gelten allgemeine Regeln, und das Einzelne muß vom Generellen her gesehen und behandelt werden. Das Poetische ist das Anarchische, es duldet keine Herrschaft über sich, noch nicht einmal die der Moral; Politik dagegen ist Ordnungsstiftung und Herrschaft. Vor allem aber ist die staatlich-politische Sphäre durchherrscht vom Geist der Sorge. Dafür ist ste ja da, um Sorge zu tragen für die Sicherheit und das Wohlergehen des Gemeinwesens im gefährlichen Getümmel der Zeit. Deshalb hoffte Goethe, als er nach Italien floh, seine Lage werde glücklich sein, wenn er diese Sorgen eine Weile lang endlich los wäre, went ich das, wie er an Charlotte schreibt, was ich solang für meine Pflicht gehalten, aus meinem Gemüte verbanne und mich recht überzeuge: daß der...

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...Mensch das Gute das ihm widerfährt, wie einen glücklichen Raub dahinnehmen und sich weder um Rechts noch Links, vielweniger um das Glück und Unglück eines Ganzen bekümmern soll. 

Nun läßt Goethe Egmont im großen Dialog mit Alba nicht etwa als anarchischen Poeten auftreten, doch immerhin als eine sympathische Figur vitaler Sorglosigkeit. Da er sich selbst vertraut, vertraut er auch seinen Mitmenschen und verzichtet darauf, sie zu bevormunden. Leicht kann der Hirt eine ganze Herde Schafe vor sich hintreiben, erklärt er seinem Widersacher Alba, der Stier zieht seinen Pflug ohne Widerstand; aber dem edlen Pferde das du reiten willst, mußt du seine Gedanken ablernen, du mußt nichts unkluges von ihm verlangen. Dagegen Alba: die Menschen wissen nicht, was gut für sie ist, sie sind wie die Kinder, deshalb sei es des Königs Absicht: sie selbst zu ihrem eignen Besten einzuschränken ihr eigen Heil, wenn's sein muß ihnen aufzudringen, die schädlichen Bürger aufzuopfern damit die übrigen Ruhe finden. Das ist die Stimme des Absolutismus, und Goethe läßt im Gegensatz dazu Egmont so argumentieren wie der von ihm bewunderte Justus Möser, der in seinen »Patriotischen Phantasien« die altständischen Freiheitsrechte verteidigt. Egmont erklärt, wie Möser, der Bürger wünsche seine alte Verfassung zu behalten, von seinen Landsleuten regiert zu sein, weil er weiß wie er geführt wird, weil er von ihnen Uneigennutz, Teilnehmung an seinem Schicksal hoffen kann. Für Egmont entspringt Herrschaft aus den Gewohnheiten und Üblichkeiten, sie schmiegt sich dem Leben an; sie steht nicht, wie bei Alba, dem Leben abstrakt gegenüber und unterwirft es sich. Egmont argumentiert zwar politisch, aber deutlich wird auch, daß die Politik nicht sein eigentliches Element ist. 

Egmont ist kein Künstler, aber ein Lebenskünstler, der allerdings am Ende seine Sorglosigkeit mit dem Leben bezahlt. Aber hätte er sich das Leben schon vorher verdrießen lassen sollen - durch Sorgen? Im Kerker, kurz vor der Hinrichtung, ist Egmonts Vermächtnis an Ferdinand, den Sohn Albas: ich habe gelebt, so leb auch du mein Freund gen und mit Lust und scheue den Tod nicht. Egmont scheut in diesem Moment den Tod nicht, weil er zuvor die Schrecken der Todesangst so sehr durchlebt hat, daß der Herzog es für nicht standesgemäß hielt und als weibisch tadelte. 

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Bei einem Spaziergang im Park der Villa Borghese entwirft Goethe im August 1787 die Schlußszene mit der Traumsequenz: Süßer Schlaf! Du kommst wie ein reines Glück ohngebeten, ohnerfleht am willigsten. Du lösest die Knoten der strengen Gedanken, vermischest alle Bilder der Freude und des Schmerzens, ungehindert fließt der Kreis innerer Harmonien, und eingehüllt in gefälligen Wahnsinn, versinken wir und hören auf zu sein. Goethe war erleichtert, als dieses Werk vollbracht war und er Egmont selig entschwinden lassen durfte. Er hatte schon fast nicht ınehr daran geglaubt, daß er es noch zustande bringen würde. Der in Italien erworbenen Freiheit des Gemüts habe er das zu verdanken, schreibt er. 

Quelle: Rüdiger Safranski - Goethe




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