Die Hoffnung auf Unversehrtheit (i.p.)

Eine Betrachtung über den Glauben und die Sehnsucht "an eine unversehrte Welt" von Neugeborenen, Heranwachsenden, schließlich von Erwachsenen und über sie hinaus

Jedes fühlende Wesen dürfte spätestens mit Beginn seiner Individualisierung, seiner Geburt, jene Spannung an sich "erleben", die fortan sein Leben tragen wird. Im Gegensatz zum Leben noch im Bauch seiner Mutter, die es nährt und schützt. Kann man das so sagen? Und braucht es nicht noch (viel mehr) Zeit, bis sich jene Spannung erst einmal aufbauen wird, die aus dem Sein an sich, aus dem (noch ungewissen) Werden heraus als Leben entwickeln muss? Wäre die Geburt, metaphysisch betrachtet, nicht eher ein lebenslanger Prozess, als lediglich ein punktueller Moment?

Beginn der Individualisierung

Versuchen wir es mit einer These! Kaum in die Welt geworfen, scheint sich für den Säugling fundamental alles zu verändern. Wie könnte man sich diesen Vorgang auch anders vorstellen? Der konstante Strom an Nahrungszufuhr mit dem Schnitt der Nabelschnur jäh unterbrochen. Der erste Atemzug. Ab sofort geht's ums nackte Überleben! Wie und in welchem Zeitraum diese "Abnabelung" geschieht, ist hier nicht Gegenstand der Betrachtung. Allein dass sie stattfindet, müsste doch eine gewaltig-irritierende Erfahrung jedes Neugeborenen sein, oder etwa nicht?

Könnte sich aber hinter jenem "Geburtsvorgang" nicht noch eine gänzlich andere Gemütsbewegung verbergen? Ändern wir dazu die Blickrichtung. Mit dieser könnte es auch so betrachtet werden: vollzieht sich nicht Geburt (noch) in Einheit? Die Geburt, die seit jeher phylogenetisch in vielerlei Sprüngen und Schüben quasi in die DNA des Lebens so "eingeübt", quasi "verkörperlicht" werden konnte, dass sie für den "Geborenen" zunächst noch vorbewusst-undramatisch erlebt werden kann? Sich - frei noch von wertender Bedrängnis, weil ohne Wissen darum - einfach ereignen kann? Und je nachdem, ob der Säugling die Geburt als denkbar qualvoll erlebt oder eben undramatisch-folgerichtig einfach an und mit sich "geschehen-lassen" kann, was einfach notwendig zu sein scheint; änderten sich nicht unmittelbar auch alle Grundannahmen, die wir oft allzuschnell treffen? Steht nun ein Erschrecken, eine Not, am Anfang jeden neugeborenen Lebens? Oder steht das Neugeborene nicht unter dem Schutz des noch Unbewussten? Erfährt das neugeborene Leben nicht gar einen Akt ungeheurer Befreiung? Ein "ins Werk setzen", was die Geburt seit jeher ist? Aus dem heraus sich erst später ein emotionaler Bezug zu sich selbst, zum je eigenen Sein finden lässt, der sich im Durchgang durch Geburtsschmerzen zwar deutlich "einschreibt", aber erst in weiterer Entwicklung "schmerzhaft" zu einer "Wahrheit" für das eigene "ungeteilte" Individuum kondensieren wird? Sich erst anschließend noch entfalten wird müssen, hinein in eine Spaltung des Individuums, hin zu jenem religiös-ehrfahrbaren oder psychoanalytisch-deutbaren Modell der urmytischen Trinität aus Unbewusstem=Triebe (Götterhimmel), Über-Ich=Gott (Vater im Himmel) und Ich=das Individuum (inspiriert vom Heiligen Geist)? 

Eine steile These, gewiss! Es lohnte sich, dieses gewaltige Geschehen unserer "fleischlichen Geburt" einmal unter diesen Annahmen zu meditieren; zu verinnerlichen, indem wir den physischen Akt aktiv zu einem metaphysischem Wirken transzendieren. Wirkte das allein für sich nicht schon wie Balsam auf die Seele, eine Art "remedy", das uns in unsere Mitte zurückführt (lat. re-mediare zurück-vermitteln)?

Verlust der "ewigen" Einheit; ein Gewinn?

Darüber hinaus könnte anhand dieser These die große Fragestellung nach dem Anfang von allem, des Lebens an sich, das sich mit der Geburt aus der nährenden Einheit mit dem "Blut der Mutter" in ein eigenständiges Wesen, losgelöst von Nabelschnur in eigentümliche, weil nebulöse Freiheit entfaltet, neu gestellt werden. Denn diese Freiheit bleibt gebunden an die Ur-Erfahrung von Wärme, Schutz und Nahrung, eingebunden in den Puls und Tag der Mutter, dem schwankenden Schiff, das seit jeher ein Versprechen von Aufbruch und Ankommen in sich birgt und in dem sich Anfang und Ende bereits ankündigt. Bereits im Bauch der Mutter entfaltet sich jene Welt, die sich in den Sinnen, die sich gerade erst entwickeln, mit denen sich die Welt erkennbar lassen wird, in der wir unsere "Fahrt" aufnehmen und in die wir wieder versinken werden, individuell in kurzen, kollektiv in ewigen Zeiträumen, noch in hypnotischen Traumzuständen. Zustände, die weder einen punktuellen Anfang kennen noch eine Zeitdimension ihres Vergehens. Im Bauch der Mutter, zugleich behütet und gefangen, sollten sich im werdenden Kind jene Erfahrungen beginnen auszubilden, die es später einmal als je eigene Entwicklung begreifen wird.

Darf man - daher - solchen Gedanken folgend annehmen, dass dieses "zur Welt kommen" friedlich ablaufen kann, weil noch vor-bewusst erlebt? Es mögen wie bei der Mutter, auch auf Seiten des Kindes Schmerzen eine Rolle spielen; aber MUSS Schmerz nicht zunächst interpretiert werden, ein (geistig-seelisches) Verhältnis bekommen, die physische Erfahrung zu einer psychischen werden? Die erst auf der psychischen Ebene "wesenhaft" werden kann? Bedenken wir diese Umstände weiter.

Not und Fürsorge

Sollte man - so betrachtet - nicht davon ausgehen können, dass fürsorgliche Eltern dem Neugeborenen den verlorenen Schutz des Mutterbauches zum Teil, adäquat oder gar darüber hinaus, ersetzen können? Dürften, sollten wir nicht mit ganzem Herzen darauf vertrauen, daran glauben können, dass wir mit aufrichtigen Bemühen unseren Kindern von Beginn an Hoffnung mitgeben können? Fällt dann einmal die Antwort unserer Kinder - oft unter Mühen zwar - ebenso "aufrichtig" aus; sollte dann nicht auch das christliche Postulat aus "Glaube, Hoffnung und Liebe" in der Beziehung der Generationen zum Tragen kommen können? Stets prekär zwar, aber ausgestattet mit gewichtigem Fundament? Und läge man unrichtig damit, zu postulieren: dies beträfe alle Zeiten und alles jedweden Alters. 

In der Beziehung von Menschen  zueinander findet sich der Schlüssel (zum Himmelreich): die ewige Frage nach Heil, Glück und Gelingen wird stets neu verhandelt; in Beziehung zu- und aufeinander. Dem Schreien des Neugeborenen um Nahrung, Wärme und Trockenheit muss nachgekommen werden. Das Kind wird seine Eltern (unbewusst) belohnen, dann nämlich, sobald es (unter Aufwand) gestillt ist, und Eltern wie Kind für einen kurze Atempause zur Ruhe kommen. Oder liegt es nicht etwa auch in den Händen der Eltern, dass sie den Nöten des Kindes mit eigener Ruhe (bezogen aus dem Willen eines Über-Ichs?) begegnen und daher selbst zur Ruhe des Kindes beitragen können? Etwas gänzlich Neues für Kind UND Eltern in ihrer Beziehung zueinander wird nämlich von Beginn an eingeübt: Regung und Reaktion. Die (einzige) Antwort auf Not heißt (stets) Fürsorge.

Woher käme also dann die Not in diesem frühkindlichen Stadium? Die denkbarst einfache Antwort: weil es von jeher  in uns beheimatet ist! Aktuell im Ich-(Bewusstsein), aus der Vergangenheit genetisch verankert im Unbewussten und im Über-Ich als eine Art geistiges Vermächtnis. Man kann diese Trias nie abschneiden; man kann sich in ihr versöhnen oder gegen sie in den Krieg ziehen!

Und wäre es nicht, weiter gefragt, ureigentlich die Not der Eltern, die ihren Säugling nicht schreien lassen dürfen, weil sie uns dazu auffordert, etwas - sofort!!! - zu tun? Konkreter gefragt: das Paradigma des "Unheilvollen", woher kommt es, wann kommt es in unser Leben?

Exkurs

Ein Verdacht drängt sich auf! Er ist alles andere unerheblich und so gar nicht folgenlos. Die Altvorderen konnten es noch erleben, wenn sie Kühe auf der Weide beobachteten; wie entspannt Kühe es "laufen lassen". Ohne Scham rieselt und strömt es aus ihnen heraus! Die Entspannung der Muskeln, die diesen Strom regelt, scheint sich im ganzen Wesen einer Kuh abzubilden. Um wie viel anders geht es uns Menschenkindern bei der selbstverständlichsten Erledigung des täglichen Geschäftes. Spätestens mit dem Erheben des Kleinkindes zu ganzer Größe beginnen wir mit seiner Disziplinierung. Mühsam wird dem Kind vermittelt, die Entspannung der Beckenbodenmuskulatur doch möglichst hinauszuzögern. Eine Selbstverständlichkeit der Zivilisation, die bei nahem Beieinanderwohnen die Lösung des Problems der "hygienischen Entsorgung" unbedingt einfordert, da ohne entsprechende Hygiene Seuchen drohen, wie uns die Geschichte lehrt. Das ungehemmter Ausleben unserer Triebe, die Lust an sich (selbst), muss durch Triebverzicht gezügelt werden, damit das je größere auch zur Geltung kommen kann - zunächst das Wesen der Mutter, dann der Familie, der Gruppe, der Gesellschaft. Deren "Wesen"stehen dem "heranwachsenden Ich" notwendigerweise als (zunächst) Unbewusstes und (in Folge) als Über-Ich in Opposition. Die Lust an sich selbst (Eigenerotik), muss sich modulieren zur Lust am anderen, aus der schließlich (erotische) Liebe entstehen kann. Die Liebe vollzieht in "wachsenden Ringen, die sich durch alle Dinge ziehen" (Rilke), aus der Autoerotik, erwächst homo- und hetero-Erotik (Philia), die sich spätestens im eigenen Vater- und MutterSein zur Agape hin entwickelt wird, die höchste Form der selbstlosen Liebe, die zum Fetisch des christlichen Glauben erwachsen wird.

Die Lust sich selbst zu streicheln

Die Lust an ungehemmter Entspannung wich dem Postulat höchster Disziplin. Diese wiederum fordert ihre Opfer ein. Gut und Schlecht, krank und gesund sind quasi mit-geboren, Tabuisierung "gewisser" Themen führten zur Kodifizierung, das Wort regelt das Zusammenleben. Eine "hohepriesterliche" Elite bediente sich (notwendigerweise) einer kultischen Sprache um eine Herrschaft über das Gemeinwesen zu errichten. Weil unbedingt notwendig für den inneren Zusammenhalt, wich der freie Zugang zur Gemeinschaft einem Zwang, sich der Herrschaft zu unterwerfen. Eine austarierte Machtkomposition, streng orchestriert nach Vernunftsregeln, brach mit der Freiheit des Individuums; und musste notwendigerweise angebetet werden, weil eine zentralisierte Macht immerhin als Garant für eine relative Freiheit zugunsten der Gemeinschaft reüssierte. Grundsätzlich hat sich daran seit den ca. 7.000 Jahren "Schriftherrschaft" nichts geändert, wenngleich sich deren Umstände und ihr Gewaltmonopol innerhalb vielerlei Modifikationen vollzogen haben. Absolute Macht und Kontrolle wurde zum Fetisch jeder (frühen) Zivilisation.

Die notwendige "Schulung" des Kindes

Aber aufgrund der "Vielzahl der Naturen" scheint es notwendig, die Erziehung der Gemeinschaft zu einer gewissen Disziplin anzustreben, die anderseits widerum immer in Frage gestellt bleibt; treibt sie doch wie ihr Gegenteil, der individuelle Wille zur Freiheit, seltsame Blüten. Der bunte Strauß an Möglichkeiten droht uns, Kinder wie Eltern, zu überfordern. Dennoch: für die Eltern ein mühevolles, aber doch meist auch ein lohnenswertes Unterfangen. Nicht weniger als die zweite, eigentliche Geburt hin zum Menschsein steht dem Kind erst noch bevor! Aber wie können Eltern ihr Neugeborenes zur eigenen, die unbedingt zunächst die Ruhe ihrer Eltern selbst sein muss, anleiten? Sprechen, Summen, Singen, Spielen! Etwas zum "Erklingen" bringen, zum Beispiel Musik. Durch das Vorlesen einer schönen Geschichte, die das eigene Herz öffnet und so dem Kind ganz nahe kommt, körperlich, geistig, seelisch. Vertrauen schaffen, indem wir uns mit ihm - in erfüllenfer Ruhe - verbinden. Man könnte, das was notwendig ist, als eine "Symphonie" bezeichnen als Praxis des Geschehens zwischen Kind und Eltern, komponiert sowohl aus Dissonanzen wie höchster Harmonie.


Das "Geschichtenerzählen" vermag wie Musik für uns eine überaus wichtige Rolle für das seelische Gleichgewicht in sich zu bergen. Im (andächtig) Hören verbirgt sich ein Zauber, der sich entfaltet, sobald Worte durch "eine Stimme" Ausdruck erhält wie Musik durch Melodien in Höhen und Tiefen.

Sie regen unser Gemüt dazu an, sich vom reinen (irdischen) Sein zu lösen und sich (nach nirgendwo) zu verlieren. Der Säugling hört, das Kind, der Adoleszenz, der Erwachsene, der Greis. In unseren Geschichten und unserer Musik verbindet sich die Zeit ins Zeitlose, das innere Kind lebt in uns fort. Sind es einfache Worte und Melodien, die wir als Kinder gerne hören und vor uns hersingen, wird die Rezeption im Alter schwerer und bestimmter; die Last des Lebens findet darin ihren Ausdruck. Denn, wie heißt es so treffend in der Weisheitsliteratur der Heiligen Schrift: "Alles hat seine Zeit" (Kohelet 3, 1-15 EU oder Prediger in der Lutherbibel). So bedacht muss das Altwerden bis hin zum Sterben keine trostlose Zeit sein; sie kann eine Zeit der Hoffnung werden. Worte des Trostes und der Hoffnung finden sich reichhaltig in unseren Schriften und unserer Musik. Man muss nur den Mut dazu haben, für sich diesen Schatz zu bergen...

Cantata J.S. Bach BWV 82, Arie 3:

"Schlummert ein, ihr matten Augen,
fallet sanft und selig zu!
Welt, ich bleibe nicht mehr hier,
hab ich doch kein Teil an dir,
das der Seele könnte taugen.
Schlummert ein, ihr matten Augen,
fallet sanft und selig zu!
Hier muß ich das Elend bauen,
aber dort, dort werd ich schauen
süßen Friede, stille Ruh."



Grundlagen

All diesen Gedankengängen zugrunde liegt ein Interview der Literaturtheoretikerin, Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva mit dem befreundeten Verleger Carmine Donzelli unter dem Titel "Dieses unglaubliche Bedürniss zu glauben" (bisogno di credere. Un Punto di vista laico)¹. Für mich deshalb plausibel, weil Kristeva den Versuch unternimmt, die Wichtigkeit einer Geschichte aufzuzeigen, die uns als eigenständiges Wesen in Beziehung setzt zu unseren mythischen Wurzeln, den Ursprüngen des Monotheismus, über die Theologie des Mittelalters, der Scholastik und Mystik, bis hin zur Psychanalyse der Gegenwart. 

In dieser Geschichte findet sich Vergangenheit und Gegenwart, die sich (bestenfalls) psychisch "verdaut" um sich in weiterer Folge individuell und kollektiv in einer Wertegemeinschaft zu einer ungewissen Zukunft hin zu öffnen. 

Ausblick

"Die Hoffnung stirbt zuletzt"; wohl ein Sprichwort aus dem deutschen Sprachraum, vermittelt mir eine Gewissheit, die ich gerne als konstitutiv für einen wohlwollenden Blick in unsere Zukunft versucht habe in den Blick zu nehmen. Warum Panik? Warum Leid? Warum Endzeitstimmung? Jede Zeit aus der Vergangenheit war selbstverständlich auch problembehaftet! Ganz wie unsere, jetzt, heute! Eine simple Frage zeigt den Wahrheitsgehalt dieser Aussage: Gäbe es ein heute denn ein (kollektives) Heute, sollte eine einzige Untergangsphantasie, archtypisch in unserer Bibel verfasst als Sodom und Gommorra, einmal zutreffend gewesen sein? Individuell sieht das sicher ganz anders aus, kollektiv aufs Ganze bezogen, Nein, die "Welt" besteht noch und wir in ihr! Selbst nach unserem individuellen Tod besteht die Welt kollektiv ganz sicher weiter. Unsere Daimonen wohnen nirgendwo anders als in uns selbst, weil unsere Angst vor dem Tod so groß ist. Aber jede Geburt eines unserer Kinder verlängert unser Leben; extrapolieren wie diese Erkenntnis dann leben auch wir noch in Ewigkeit. Sollte nicht diese Gewissheit unser kollektives Bewusstsein tragen, damit wir uns selbst und mit uns unsere Kinder mit schönen Geschichten, mit sanfter Musik und unserer ganzen Hingabe dazu ermuntern sollten, ein Leben in Zuversicht zu führen

Hoffnung

So Gott will, werde ich bald Großvater der Tochter meiner über alles geliebten Tochter; möge sie ihre eigenen Daimonen schon bezwungen haben, wenn sie bald Mutter wird. Ich glaube fest daran: Ihr persönlicher Dämon wird sich nach der Geburt ihrer Tochter allenfalls noch als ein kleines Teufelchen zeigen!

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