Über den Sinn der alten Schriften

"Im Anfang war das Wort". Es gibt wohl keinen Satz, der dem gesprochenen und aufgezeichneten Wortsinn mehr Wahrheitssinn verleihen könnte. Einschränkend muss allerdings hinzugefügt werden: dieser "Wahrheitsinn" betrifft nicht naturwissenschaftliche Erkenntnis. Allein das Sinnieren über Gesprochenes oder Geschriebenes an sich soll hier betrachtet werden, konkret hier als Möglichkeit der Bibelexegese, im weiteren Sinne jedoch auch jedweden "Sinngehalts in Wort und Schrift".

Wir haben es dem französischen Jesuiten Henri de Lubac, einem der Begründer der Nouvelle théologie, einer französischen Aufbruchstheologie nach dem Zweiten Weltkrieg, zu verdanken, dass wir dem Sinn des Wortes einen tieferen "Deutungsrahmen" zubilligen können (weiteres zu Henri de Lubac).

Es geht um das Verständnis von Geschichte, nicht allein in kritisch-historischer Betrachtung, sondern in einem "Vierfachen Schriftsinn", wie dies de Lubac bezeichnet. Er postuliert, dass die Schriftdeutung neben der textkritischen Betrachtung von Sinn her weit vielfältiger zu betrachten sei. Zunächst 1. buchstäblich, als konkret historische Aussage, dann aber auch 2. allegorisch im Sinne von "Glaubenswürdigkeit" des Betrachteten, sodann 3. moralisch als "Handlungsanweisung" für den Betrachteden und zuletzt 4. anagogisch als Ausdruck von Hoffnung (richtige Erkenntnis des Betrachtenden und der Betrachtung). Weiteres zum Vierfachen Schriftsinn.

Ebenso wie dieses Gedankenmodell das Entwickeln und Verstehen von Schrift erweitern kann, wird in der modernen Kommunikationspsychologie oft ein recht ähnliches Modell herangezogen, um Sprache zu deuten bzw. "verständlicher" zu machen. Das "Vier-Seiten-Modell" von Friedemann Schulz von Thun. Beiden gemeinsam ist die Suche nach einem tieferen Verständnis von Wort und Schrift. Denn auch die Schrift, obwohl ihr Stimme und Gestalt des Erzählenden fehlt, transportiert diesen Gehalt sehr wohl, allerdings auf Seiten des Empfängers, des Lesers. Er wird quasi dazu aufgefordert den Subtext des Gelesenen, nämlich Absicht und Ziel des Schreibers "mitzulesen" um es in ganzem Verständnis zu verstehen. Die Botschaft trägt eben weit mehr, als dessen semantischer bzw. semiotischen Gehalt allein.

Hierin könnte man ein Manko unserer Zeit sehen, die Geschichtlichkeit allein im Gegenständlichen und Beweisbaren sucht. Geschichte aber will weit mehr vermitteln, wie oben beschrieben in einem (mindestens) vierfachen Sinn. Denn nur so wird der Zeitgeist, in dem sich Epochen entfalten, verständlich für die Nachwelt. Und ohne diese Fähigkeit im vierfachen Sinne zu lesen, zu sinnieren und zu kommunizieren, wird uns das Vergangene fremd und verliert seine Bedeutung. Und seinen Wert für kommende Zeiten.

In diesem Verständnis wird auch deutlich, woran es unserer Zeit fehlt: sie schränkt ein, wo Weite der Auslegung zur Verfügung stünde. Sie definiert und versucht das "große Ganze" in Axiome zu zerlegen, und verliert sich immer tiefer in Fragmenten, die zwar für sich betrachtet, stimmig sein können, für das Ganze jedoch eine verheerenden Verlust mit sich ziehen. Fragmentisiert, vereinzelt, geschieden, atomisiert; eine Welt ohne inneren Zusammenhalt, in der Wahrheit im bloßen Sinnes des Beweises zur Vetrottelung des Denkens, zur Idiotie verkommen muss.






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