Gedanken jenseits Corona

"Er gehört gar nicht zur Welt, er tritt ihr nur gegenüber" liest man im aktuellen Buch Pascal Merciers "Das Gewicht der Worte" und weiter "Keine Ahnung, ob das einen Sinn ergibt, aber das dachte ich."

Wenn man die Schriften Pascal Merciers liest, dann kann man bald ein Gefühl dafür bekommen, wie sehr Sprache und deren Wortkonfigurationen den Sinn des Gesagten tragen. Ein Sinn könnte sich etwa darin finden, dass man Gesagtes hinsichtlich seiner vielen inhärenten Botschaften de(kons)truiert und dann neu (konstruktiv) zusammensetzt. 

Der Satz "Er gehört gar nicht zur Welt, er tritt ihr nur gegenüber", macht so gesehen sehr wohl Sinn. Denn: träten wir der Welt nicht gegenüber, könnten wir sie, weil "ihr angehörig", ohne diesen Kunstgriff nicht in den Blick bekommen, da wir Teil ihrer selbst wären. Erst im Zustand der Distanz erscheint mit um so größerer Wahrscheinlichkeit ein etwas anderes Bild von Wahrheit  ausserhalb unserer selbst. 

Nun aber: wozu könnte uns ein Blick von "Aussen in die Welt hinein" statt von "Innen in die Welt hinaus" verhelfen? Innerhalb eines geschlossenen Systems fällt es schwer, mit Methoden, die nicht Teil dieses Systems sind, zu denken. Vielleicht plädiert deshalb der Philosoph Karl Popper für das Offenhalten gesellschaftlicher  Systeme (und aller Systeme generell), damit Ihnen die Kraft zur ständigen Erneuerung impliziet erhalten bleibt....(Ergänzungen später). 

Machen wir die Probe auf ein Exempel. Nehmen wir uns den mächtigsten Angriff auf die Sicherheit unserer Zeit vor. Die pandemisch angelegte Reduplikationsfähigkeit von Viren im menschlichen Wirt bedroht die Gesundheit der Welt. Wieder einmal. Aus dem kapitalzinseszins beschleunigten Überfluss heraus hat die die Menschheit unter massivem Recourcenverbrauch ein Gesundheitssystem etabliert, dessen inhärente Vernunft sich - wie die pandemische Weltkrise aktuell aufzeigt - gleich einem Virus alle anderen Systeme (Gesellschaft, Wirtschaft, Verkehr, Pädagogie, Anthropologie usw.) befallen hat und deren Logik zu beherrschen sucht. 

Jenseits der Pandemie eröffnet sich  mit Hilfe einer Analogie ein neuer paradoxer Deutungsraum. Der Philosoph Slavoj Žižek verwendet dieser Analogie, mit der er einer Idee des Evolutionsbiologen Richard Dawkins folgend behauptet, dass Viren in ihrer Auswirkung auf Menschen als "denkende Systeme" nicht nur physische sondern ebenso psychische Komponenten in sich tragen, die uns Menschen als parasitäre Entitäten besiedeln und uns als Mittel zur eigenenen Vermehrung nutzen. Dawkins nannte diese Entitäten in Analogie zu Viren und ihrer Botschaft Meme - Ideen, Überzeugungen, Verhaltensmuster - die sich "virulent" im Zeitgeist ausbreiten und diesen derart mitgestalten. "Der Mensch ist qua Geist tatsächlich immer schon Virenträger - anders wäre die moderne Massengesellschaft überhaupt nicht denkbar" (Der Geist ist ein Virus - NZZ in der Printausgabe vom 28.08.2020).

Hieße das nun, dass wir mit unserer Perzeption auf die Gefahren der Pandemie deshalb falsch liegen? Mitnichten. Allerdings steht zu befürchten, dass die Antworten, die wir auf die Fragen, die das Virus an uns richtet, ganz im Sinne jener Meme konstruiert sind, die das Virus selbst in uns verbreitet. Dabei verfügt das im Menschen etablierte - im Hinblick auf neuste Mutation des Virus - noch sehr unspezifische Immunsystem vermutlich bereits über alle notwendigen Antworten darauf, indem es gegen das Virus eine spezifische Immunabwehr erlernen wird. Die hierfür notwendige Zeit ist durch die Verengung des Raums in der weltweiten menschlichen Interaktion derart verkürzt, dass eine natürliche Immunreaktion auf das Virus allein vermutlich nicht mehr genügen kann. 

Hier hat sich bereits ein autodynamischer Prozess etabliert, der sich fast apokalyptisch überall dort verstärken wird müssen, wo die Menschheit in Abläufe der Natur nachhaltig eingegriffen hat, damit die unmittelbaren Auswirkungen dieser Eingriffe wiederum eingedämmt werden können. Man denke an die Auswirkungen des Klimawandels. Die Apokalyptik dieser Kreisläufe wirkt fatal und kann gleichfalls als viral induziertes Mem aufgefasst werden. 

Diese Meme wirken in weiterer Folge als kultureller Verstärkungsmechanismus, in deren neuer Wirklichkeit wir uns gleichsam wie in eine Art Schutzhöhle vor der Bedrohung einer kaum zu fassenden absoluten Wirklichkeit zurückziehen können. Eine Wirkung auf absolute Wirklichkeit außerhalb unsere Höhle ist nur scheinbar erzeugt, die eigentliche Problematik bleibt weiterhin im Aussen der absoluten Wirklichkeit, die für uns unverfügbar bleibt, weil allein durch menschliche Erkenntnis nicht entschlüsselbar. Welch eine Kränkung! 
Der von uns gemeinsam so erzeugte Kulturraum steht auch deshalb paradoxerweise zwar in Widerspruch zur stets absolut wirkenden Natur, ist allerdings im Schutz der "kulturellen" Höhle scheinbar entkoppelt von ihr. 

Bei Franz Josef Wetz in seiner Einführung zum Werk Hans Blumenberg ist die Hybris dieses Zusammenhangs im Kapitel Zwischen Himmel und Hölle deutlich formuliert: "Selbst wenn man jedoch auf die beschriebene Weise die Härte des Weltabsolutismus gelindert hätte, ganz aufheben lässt sich dieser nicht; die gesuchte Geborgenheit bleibt ein unerreichbares Ziel. Denn regelmäßig dringen durch die Schleusentore der Kultur, hinter die sich die Menschheit zurückgezogen hat, um Leben und Welt leichter zu ertragen, die unbändigen Kräfte der Natur ein, welche sich manchmal nur mit größter Anstrengung zurückstauen lassen." Die aktuelle Diskussion um Klimawandel und Pandemie wird mit Blick aus der Höhle seltsam irreal. Jedenfalls lässt sie sich mit dem Blumenberg'schen Weltabsolutismus kaum assoziieren. 

Was wäre also notwendig? Denken wir nochmals an die von Popper angemahnten offenen Systeme und dem hierdurch möglichen Blick von außen. Solange Systeme offen sind für systemfremde Inputs, also etwa für virale Meme, so bleibt Hoffnung. Für die Umwelt. Für die Gesundheit. Für unsere Gesellschaft. Entscheidend werden allerdings die anzuwendenden Methoden sein. Sind es Methoden, die auf von ihnen selbstformulierte Systeme (innerhalb derselben Höhle!) gründen? Oder werden es Methoden sein, die eine Mutation der bisherigen aufweisen? Gar gänzlich neu begründete? 

Blicken wir mit der obigen Metapher von Raum und Zeit auf diese Zusammenhänge, dann öffnen sich neue Perspektiven. Es ist nie zu spät für weitere Anläufe zu neu formulierten Etappenzielen auf dem Weg der unmittelbaren Erkenntnis. Selbst wenn diese laut Blumenberg weiter unverfügbar bleiben. Manchmal jedoch ist der Blick von außen unabdingbar: ""Er gehört gar nicht zur Welt (so wie wir sie sehen wollen), er tritt ihr nur gegenüber." 

Denken wir an den irrlichternden Hölderlin. Das gleißende Licht der Sonnenscheibe in seinem Turm gedimmt, Corona im Blick; hätte sich ihm das Virus nicht in einem etwas anderen memetischen  Kleide offenbart? Die Ambiguität in seinem Empfinden legt davon Zeugnis ab: "Wo aber der Abgrund droht, wächst / das Rettende auch". 

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