Kommt am Ende wirklich immer der Schluss?

Die Proben zu frauJEDERmann wurden - deutlich gezeichnet von der verordneten Distanz - wieder aufgenommen. Und das war wichtig und so wohltuend! Unser wahrlich unermüdlicher Impressario Marcus Marschalek steht und lebt für das Gelingen des ehrgeizigen und herausfordernden Projekts und alle Beteiligten leben dadurch weiter mit frauJEDERmann. Vermutlich niemand, der dabei war, konnte sich dieser positiven Energie entziehen. Und es war wirklich erstaunlich, mit welch "virulentem" Schwung das "geistig Spiel" nach der Pause wieder in Gang kam. In Kleinstgruppen mit viel Freude und Elan erarbeitet, nimmt das Projekt weiter Fahrt auf.

So ganz nebenher hat Marcus in einer Pause zwischen zwei Proben einen kurzen Diskurs über die (mögliche) Wirkung des Jedermann-Themas in unserer Inszenierung in den Raum gestellt. Die Argumentationslinien lassen sich hier in Kürze nicht darstellen. Jedenfalls ist ein Auftrag an uns Schauspielerinnen damit verbunden. Haben wir Marcus in seinen Ausführungen recht verstanden, geht es ihm um die Darstellung des Stückes und seiner Figuren im Hinblick auf seine immanente Wirkung, seine Wirkung im "Hier und Jetzt" der realen Welt, in der uns (als JEDERMANN) in Androhung des Sterbens der Tod einmal heimsuchen wird. "Und das in Eil'.

Marcus' Worte sind noch nicht verhallt. Sie sind lebendig, weil sie einen entscheidenden Punkt treffen. Was nützt alles transzendente Sinnsuchen, wenn sich die Botschaft dahinter nicht im alltäglichen Leben offenbart? Es wäre schlicht sinnlos, wenn sie keine immanente Wirkung ins Leben zu rufen vermag. Aber - hier drängt sich eine wichtige Frage auf - benötigt nicht die Erfahrung von Immanenz einen Anstoß durch ihr Gegenstück, die Transzendenz? Muss nicht im Menschen selbst eine Kraft angestoßen werden, die ihn dazu befähigt, den Dingen so etwas wie Bedeutung beizumessen? In unserem naturwissenschaftlich geprägten Ursache-Wirkungs-Denken sollte man davon ausgehen können. Worin findet unser Handeln seinen Ursprung? Ohne Anfang gibt es kein Ende. Ohne Geburt kein Sterben. Thematisch geht es in unserem Stück um nichts weniger als um die Freiheit im Denken und Sein und um den Umgang mit der Angst vor dem Faktum des Todes. 

FrauJEDERmann wird sich dieser Zusammenhänge innerhalb weniger Szenen ihres Lebens und der ihr eigenen Ausrichtung von "Geselligkeit" bewusst. Ist es Empathie gegenüber den Verlierern ihrer vielen Erfolge? Ist es das bigotte Verlangen nach ihrem Buhler? Das ewige Anhaften am Zurschaustellen ihres Reichtums, der sie innerlich erschüttert? Der zersetzende Neid ihrer frivolen Verwandtschaft? Das Missbehagen weitet sich zur Sinnkrise. Der Atem es nahenden Todesboten droht ihr den eigenen zu nehmen. Fordert sie zunächst noch aufbegehrend, bittet sie dann flehentlich um mehr Zeit. Ein "ledig Stündlein" davon. So lange und insistierend fleht sie, bis der Tod förmlich einlenken muss. Nicht allerdings ohne die Dringlichkeit und den Rahmen seines Auftrags neu anzumahnen: "Nur merk vertu nit diese Frist / Und nütz sie klüglich als ein Christ". Aus der Tragik sich widersprechender Gefühle heraus entwickelt sich das Spiel zu einer packenden Dramatik, der man sich nur schwer entziehen kann. FrauJEDERmann erwacht plötzlich wie aus einer selbstverschuldeten kUnmündigkeit, aus deren Enge heraus sich sämtliche Vorzeichen ihres Lebens umkehren. In einem puren Akt an großer Menschlichkeit fast wie aus dem Nichts! 

Woher kommt nun der Impuls für frauJEDERmanns plötzliche Wandlung? Und vollzieht sich dieser glaubhaft tatsächlich innerhalb einer derart gerafften Zeit des Theaterstücks? Verhält es sich nicht vielmehr so, dass frauJEDERmann bereits seit vielen Jahren ein schlechtes Gewissen mit sich herumträgt? Fühlt sie es nicht bereits seit langer Zeit, dass etwas fehlt? Ist sie nicht gefesselt in Verlustängsten, Größenwahn und Einsamkeit? Sie spürt es angesichts sich überschlagender Ereignisse plötzlich und überdeutlich in sich selbst aufwallen! Schon bald wird sie ihrem Leben gegenüber Rechenschaft schuldig sein. 

Die im Stück allegorisch angelegten Figuren Tod, Teufel, Werke, Glaube, sie alle als Gott und seine Helferwesen, sprechen wie aus einer anderen Sphäre zu frauJEDERmann. Bildhaft quasi aus einem Raum, zu dem sich eine Tür zwar auftut, die ihr allerdings keinen unmittelbaren  Zutritt ermöglicht und unverfügbar bleiben wird. Ganz anders verhält es sich mit den weiteren Spielfiguren. Diese hat sie in der Hand, und sie sind ihrer Macht mehr oder weniger ausgeliefert. "Wie ihr da seid hereingelaufen, / So könnte ich euch alle kaufen / und wiederum verkaufen auch, / daß es mir nit so nahe ging / als meines Fingernagels Bruch." Plötzlich spürt sie aus ihrer eigenen Machtfülle heraus, wie sehr sie selbst ebenso, aber einer um so vieles mächtigeren Gewalt, ausgeliefert ist. Eine Gewalt, in der ihr eigenes Leben zwischen Werden und Vergehen förmlich ausgespannt scheint. Und sie nun gar mit dem Tode bedroht! Die Ohnmacht der von ihrer Entscheidung abhängigen Gestalten ist der Spiegel, in den sie blickt und der das Licht unerbittlich zurückwirft auf ihre eigene Ohnmacht. Wie Hiob wird ihr schon bald alles genommen werden, was ihr bis anhin Bedeutung verschafft. Nackt wird sie stehen. Ihren eigenen Ängsten ausgeliefert. 

In dieser existentiellen Angst befällt sie ein ungeheurer Schwindel. Sie blickt hinein in den Rachen des Todes. Und genau hier an dieser entscheidenden Stelle - so steht zu befürchten - fällen wir mit unserer Inszenierung eine in ganzem Sinne fatale Entscheidung. Der Tod erhält in unserer Lesart alle Macht und triumphiert über das Leben! Sein Todesstoß feiert bei uns im hohepriesterlichen Gewande den Einzug der Angst ins Leben. Eine Angst, die keinen Ausweg kennt und die uns ab sofort in einem totalen Regime gefangen halten wird. Bildet nicht die aktuelle Pandemie das schauerliche Passepartout für diesen Zusammenhang? Die Angst vor dem Tod feiert auch in unserer Inszenierung ganz immanent Hochzeit. Und lässt uns und die Zuschauer ratlos und ohne Ausgang zurück. 

Ganz anders im Textgefüge Hofmannsthals, in dem das Ende offenbleiben darf. Gott ruft alle seine Engelwesen zusammen. Tod, Teufel, Werke, Glaube und stellt sie JEDERMANN zur Seite. Er darf jetzt die ihm anbefohlene Reise antreten. 
In jenem Moment bezeugt Gott mit einer souveränen Geste seine Macht über Leben und Tod, indem er dem Tod in dessen richtende Hand fällt und ihn an seinen ursprünglichen Auftrag erinnert: "Geh du zur Frau Jedermann / und zeig in meinem Namen ihr an, / sie muß eine Pilgerschaft antreten/ mit dieser Stund und heutigem Tag." FrauJEDERmanns Pilgerschaft hat mit dem Ende allerdings erst begonnen. 

Das "geistig Spiel" findet an dieser Stelle erst seinen ureigentlich transzendent inspirierten Ausgang. Ob es im Leben und Sterben FrauJEDERmanns von dort aus einen Neubeginn gibt? Einen Impuls für ein Sein mit neuer, immanenter Bedeutung? Wir wissen es nicht und täten gut daran, diesen Zusammenhang auf der Bühne nicht weiter zu deuten. Die Hoffnung allerdings findet bei Hofmannsthal nicht ihr Ende. Nicht für JEDERMANN und nicht für JEDEFRAU im Hier und Jetzt. 

Und dem allzumenschlich agierenden Tod wird jede Macht genommen. Nicht Du, Bot, bist der Souverän. Über Leben und Tod entscheidest Du nicht. Auch deine Macht ist hier zu Ende, BOT. "War alls dir nur geliehen" 

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