Brief an den Sohn

Lieber Sohn,

Wie geht es Dir? Du lässt nichts von Dir hören. Gesehen haben wir uns vor Monaten das letzte Mal. Gespräche verweigerst Du kategorisch. Welchen Grund gibt es dafür? Was habe ich damit zu tun? Sagst Du aber zu Recht: "Hättet Ihr mir doch bloß MEHR geboten, dann könnte ich mein Leben unbeschwerter Leben!" Ich müsste diesem Anspruch entgegnen: "Richtig! Blickst Du aber mit einem anderen Auge darauf, dann erst wird es um vieles unbeschwerter!" Es geht doch um Dein Leben, wie Du es führst. Dass Du es überhaupt führen kannst, ist Dir durch unser Leben geschenkt worden. Mit aller ihm innewohnender Verantwortung! 

Nicht, dass es nicht dein gutes Recht wäre, auf Distanz zu gehen. Distanz ist wichtig, wie sollte man sonst ein selbstbestimmtes Leben führen? Man könnte sogar sagen: ohne Distanz kann man kein Mensch sein. Ein jeder ist seines Glückes Schmied. Sagt es uns doch schon der Volksmund. Wobei? Glücklicher kann Dich eine radikale Abwendung vor deinen Wurzeln kaum machen. Erleichterung verschaffen für das Momentum einiger Jahre vielleicht schon. Aber das ist keineswegs sehr viel. Und ganz sicher ein weit beschwerlicherer Weg, den Du mit Abkehr wählst. Willst Du ihn in Deinem Stolz (ist Er es?) wirklich konsequent beschreiten?

Auch das wäre Dein gutes Recht. Es gibt Tage, da bin ich wahnsinnig stolz auf Dich, weil ich erkenne, wie widerborstig und kompromisslos mutig Du Dir zutraut aufzutreten. So wie ich es mir niemals zugetraut hätte und mir es immer noch nicht zutrauen könnte. Um welchen Preis auch? Liegt es daran, dass ich Mutter, du aber Sohn bist? Dann gibt es Tage, die mich ratlos zurück lassen. Tage, die wie Blei verrinnen und die mich - ja und wieder ja - mit viel Traurigkeit bestürzen. Da nützt all meine mühsam angelernte Rekexionsfähigkeit nichts, da "überfraut" mich schmerzhafte Ratlosigkeit.

Es sind dies Momente, in denen ich mich frage, was zwischen uns liegt. Deines Bruders irrsinnige und für immer unbegreifliche Tat? Das ganz sicher. Und lag auch dieser Tat ein gutes Recht? Wenn es denn so wäre, was geht es Dich also an? Ausser vielleicht, dass es Dir geht wie mir. Mir fehlen einfach geeignete Worte, die mir helfen würden gegen diese Tat auf Distanz zu gehen, weil meine Gefühle gegen jedes Wort rebellieren müssten. Vor allem gut gemeinte Worte! Die machen die Sache weit schlimmer. Selbst ich, die sich nie traut, aus sich heraus zu gehen, sich wirklich gehen zu lassen, spüre dann tief in mir einen Zorn aufwallen, der aber doch nie einen Adressaten fände. Den gibt es nicht unter uns Menschen. Dennoch; bin ich für Dich etwa ein geeigneter Adressat? 

Aber, selbst unter diesen Umständen gibt es Licht. Das Licht, unsere Hoffnung, ist unser eigenes Leben, dem gegenüber wir schuldig sind, es nicht zu einem Trauerspiel verkommen zu lassen. Du, mein Sohn, bist früh erwachsen geworden. Ich kann nicht sagen, zu früh. Wer könnte sich auch eine derartige Aussage anmaßen? Ich sehe Dich, mit welcher Hingabe Du an Deiner Zukunft arbeitest. Mit welchem Elan, mit welchem Spirit! Pass auf Dich auf, dass Du den Motor nicht überdrehst. Wieder Herunterkommen ist weit schwieriger, lass Dich nicht täuschen. 

Du hast alle Chancen. Soweit Deine Träume nicht bodenlos werden. Alle schleppen wir unseren Rucksack an Versäumnissen, Unrecht und Sprachlosigkeit mit uns herum. Und ja, mit zunemendem Alter werden noch weitere schwere Steine mit hineingepackt. Das will man noch nicht glauben, wenn man das Leben noch vor sich sieht.

Der Stein der Sprachlosigkeit wird mit den Jahren schwerer nicht etwa leichter. Lass Dich auch hier ja nicht täuschen! Dein Cousin auf dem Lande hat vor einigen Tagen in vermutete Unverletzlichkeit schwerst alkoholisiert sein geleastes Fahrzeug zu Schrott gefahren und ein anderes gleich mit dazu. Verklagt, verschuldet, Führerscheinfrei und gedemütigt wird er das nächste Jahr und wohl auch die Zeit darüber hinaus begrüßen müssen. Gottlob ist nichts schlimmeres passiert. WIR wissen das besser als jeder andere. Ein Stein in seinem Rucksack. Möge es diesbezüglich auf diesem Feld zumindest der letzte sein.

Gib Dir, gib uns eine Chance es besser zu machen als die letzten Jahre, in denen es das Schicksal ganz gewiss nicht nur gut mit uns meinte. Glaubst Du wirklich, ich habe unser Haus und damit Euch verlassen aus selbstsüchtigen Erwägungen? Allein pure Not vollzog sich zu einem verzweifelten Schritt und pure Not wird es immer bleiben. Und sie war, so glaube ich, wenn auch mit einigem Zweifel hie und da behaftet, für uns armselig Verlassenen unbedingt überlebensnotwendig. Ja, so muss ich es sagen. Das Leben aber will fortschreiten. Sonst bliebe nichts weiter als der Tod, der dort für mich unbarmherzig immer präsent sein wird! Ich habe es mir SO ganz gewiss nie gewünscht. Jetzt atmen wir wieder. Immerhin.

Sollten für Dich ähnliche Beweggründe - Luft zum Atmen - dafür sprechen, deine Eltern zu meiden, dann soll es so sein. Ich selbst halte Distanz, wenn auch mit Mühen an beschwertem Herzen, gut aus. Distanz selbst zu Dir, mein lieber Sohn! Schwer aber zu ertragen ist Sprachlosigkeit. Ab und zu ein kleines Lebenszeichen. Ein Smilie. Ein Herz? Lebe Dein Leben, so wie Du es Dir gestalten möchtest. Diesbezüglich bin ich da ganz draußen. Mutter bleibt man - bei gütigem Verlauf - lebenslang. Ein Sohn muss sich von seinen Eltern emanzipieren. Sonst wird er NIE - allein für sich selbst - ein guter Sohn. Vergiss das bitte nicht. Aber Du wirst zu Recht sagen: "Wie ist es mit Eurer Distanz mir gegenüber bestellt?" Eine gute Frage, auf die ich keine Antwort kenne. Noch nicht. Willst Du sie mir nicht liefern? 

Distanz im vagen Äußeren ist keine wirkliche Distanz. So weit scheint es mir klar. Sind doch die Verstrickungen weiter ungelöst. Sie bleiben. Eine nach innen - oder weit über das Sein hinaus - gerichtete Distanz täte uns allen gut. Es bedeutete aber harte Arbeit, vor der wir gerne zurückschrecken. Äußere Distanz klagt an. Innere Distanz schafft Frieden. 

Ein paar Zeilen von Dir wären ein Geschenk. Ich will es ganz sicher nicht einfordern. Dein Herz ein klein bisserl anstoßen will ich mir jedoch nie verwehren lassen. Ich liebe Dich wie eine Mutter nur lieben kann. Mehr kannst auch du wiederum wohl nicht einfordern! Solltest du dich einmal dazu entschließen, eine Familie zu gründen, dann wird es auch für Dich immer Hoffnung bleiben, dass es deinen Kindern gelingt, es besser zu machen und zu leben, als es Dir, als es uns selbst gelungen ist. Kindern sind ihren Eltern ausser ein klein wenig Respekt nichts schuldig. Es ehrt sie aber, wenn ihnen trotz aller Schwierigkeiten Respekt gelingen mag. Eltern dagegen werden ihren Kindern leider sehr viel schuldig bleiben MÜSSEN; liegt die Referenz doch im Empfinden der Kinder. Es gibt einfach zu viele Gelegenheiten, die im Alltag versäumt werden, dies zu vermeiden. Frage ruhig unter deinesgleichen herum. 

Mach es besser als deine Eltern, mein Sohn. Das soll Dein Anspruch sein. Obwohl Du doch am eigenen Leib erfahren hast müssen, dass dies misslungen scheint. Aber was sagt das eigentlich über Dich selbst? Ausser dass es eine vergebliche Position sei, die äussere Distanz unbedingt einfordert, obwohl sie innerlich unmöglich ist! Darüber muss man irre werden! Daraus folgt ein ungeheurer Anspruch: mach es einfach nur gut und lerne das Schlechte endlich mannhaft zu tragen. Allein so ist Erlösung aus unwirklicher Distanz möglich. Distanz ist nichts als Fiktion. 


An mein Kind 

Dir will ich meines Liebsten Augen geben
Und seiner Seele flammenreines Glühn. 
Ein Träumer wirst du sein und dennoch kühn, 
Verschloßne Tore aus den Angeln heben.

Wirst ausziehn, das gelobte Glück zu schmieden.
Dein Weg sei frei. Denn aller Weisheit Schluß 
Bleibt doch zuletzt, daß jedermann hinnieden
All seine Fehler selbst begehen muß. 

Ich kann vor keinem Abgrund dich bewahren, 
Hoch in die Wolken hängte Gott den Kranz. 
Nur eines nimm von dem, was ich erfahren: 
Wer du auch seist, nur eines - sei es ganz! 

Du bist, vergiß es nicht, von jenem Bäume, 
Der ewig zweigte und nie Wurzel schlug. 
Der Freiheit Fackel leuchtet uns im Träume - 
Bewahr den Tropfen Öl im alten Krug!"

Mascha Kaléko
gefunden in Freude "Der andere Advent"

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