Aufgeräumt!

Die vielen Besuche in früher Kindheit bei seiner uralten Großmutter hatten Spuren hinterlassen. Sie schienen lange vergessen, seine eigenen Kinder hatten das Haus auch längst verlassen; da stand die Großmutter mit einem Mal fast leibhaftig wieder vor ihm. Es war so:

Seit dem frühen Tod seiner Frau vor einigen Jahren war es ihm zur Gewohnheit geworden, in der dunklen Jahreszeit die moderne Kirche in seiner Nachbarschaft aufzusuchen. Immer zu den Stunden, wenn oben im Orgelchor geübt wurde. Es war dort auch im tiefsten Winter nicht kalt, still flackernde Kerzen warfen einen warmen Schein an die Wände und umhüllt vom Duft des Weihrauchs
wurden die abstrakt gehaltenen Darstellungen vom Leiden Jesu vor ihm lebendig.

Über die Jahre prägte er sich jedes noch so kleine Detail vom Kreuzweg ein. Im Flackern des Lichts und in Klang der Orgel wurde das Geschehen lebendig. Und erzählten ihm das Geschehen jedes Mal wieder auf geheimnisvoll neue Weise.

Einmal blieb sein Blick auf dem Bild von der Züchtigung Jesu hängen. Die Szene rührte ihn zutiefst. Fast schien es ihm, dass der Blick Jesu auf ihn ganz persönlich gerichtet war. Diesen Blick nahm er mit in seine Träume.

Mitten in der Nacht spürte er es: er war nicht mehr allein. Seine Großmutter! Ein Trugbild? Der gleiche gütige Blick wie im Blick Jesus, der ihn im Licht der Kirche anblickte. Mit dem Öffnen der Augen war das Bild verschwunden.

Lange brauchte er, bis er wieder in den Schlaf gefunden hatte. Und schon vor dem Aufwachen wusste er, was zu tun war: er würde alles Überflüssige aus seiner Wohnung entfernen, alles aufräumen und fein putzen, bis er auch in seinen Räumen die Einfachheit, die urtümliche Kraft und Milde am Tisch der Großmutter, dieses lang vermisste, unglaubliche Gefühl, wieder einmal spüren würde. Ganz zum Schluss hing das hölzerne Kreuz, das ihm seine Großmutter bei ihrem Abschied anvertraut hatte, wieder über dem Tisch. 

Darunter saßen sie dann am Abend zu Dritt im Schein der Kerze, und er spürte tief das sanfte Glück seiner Kindheit, ganz so wie er es immer spürte, früher zu Besuch bei seiner geliebten Oma. Damals, als alles noch gut war. 

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