Flüchtiges Leben

Lieber Ul(r)i(ch),

nachdem ich lange Zeit nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand, in meiner Bedrängnis, Dich "angemessen" anzusprechen, ob jovial mit dem naiv-kindlichen Diminuitiv 'Uli" oder besser rational-erwachsen mit Deinem Taufnamen "Ulrich; mit dem Herzen wohl ersteres, mit zweiterem respektvoll, aber auch distanzierter. Insofern gefällt mir der Vorschlag Deiner Unterschrift Ul(r)i(ch) sehr.

Die Vertrautheit, mit der wir uns als Jugendliche begegneten ist vergangen, jeder Versuch diese Vertraulichkeit wiederzufinden oder neu einzuführen wird wohl scheitern müssen. Zu sehr wiegt die zeiträumliche Distanz, in der wir uns wiedergefunden haben. In Jugendzeiten rüpelhaft-burschikos-körperlich müssen wir jetzt auf anderen Ebenen und neuen Kanälen kommunizieren.

Immer noch trage ich schwer am fehlenden Verantwortungsbewusstsein gegenüber uns Heranwachsenden in jener Zeit, die ich so nicht weiter zu verherrlichen vermag, andererseits aber aus meinem Herzen keinesfalls tilgen möchte. Andreas hat mit mir unsere nahen Geburtstage gefeiert. Er regt an, dass wir "Junxs" uns bald einmal neuerlich versammeln sollten, um altes aufzuwärmen und mögliches neu zu brauen. Es wäre auch mein Herzenswunsch.

In unsere Familie ist es auffällig, dass Frauen eher leiden und Männer tendenziell selbstgefällig agieren. Ist diese Auffälligkeit nicht bereits ein bekanntes Symptom aus unser Jugend? Und nicht nur unserer Jugend, sondern auch unseres Alters? Auch jetzt noch bejahen mein Vater, Andreas und ich unser Schicksal grundsätzlich als positiv, den Frauen will das nicht gelingen. Meine Mutter, Hemma, Ricarda vom Gemüt her, schwermütig und medikamentös eingestellt (um das Leid der Welt ertragen zu können). 

Es steht zu befürchten, das beides auffällig einander bedingt und aufrecht erhält. Auch wir Männer leiden. Aber wir leiden doch eher "thymotisch" frohgemut. Im Ursprung identisch, im Auswuchs fundamental verschieden. Der männliche Hochmut ist notwendigerweise vergesellschaftet mit weiblicher Verzweiflung. Hemma konnte (vor entsprechender Medikation) diesem "Gefälle" nur mit manischen Schüben begegnen. Diese auffälligen Schübe wiederum ermahnen uns zu weniger Hochmut. Da wir vermeinend frei "geschaffen" sind, uns aber hinter dem realen menschlichen Konstrukt "weißer, reicher Mann" nicht mehr verstecken dürfen, muss es notwendig andere Wege für uns geben. Wir (ver)suchen sie und lassen uns doch stets wieder aufs neue "versuchen", die "Selbsterhaltungskräfte" in Form von "Introjekten" wiegen allzu schwer.

Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Die Gnade des Alterns lässt auch mich den aufkommenden körperlichen Verfall bereits spüren. Aufsässiger Heldenmut weicht allmählich freimütiger Demut. Wie alles in der Natur (sie wird es uns schon noch zeigen, wie wir es damals fröhlich verlachten!) strebt auch unser persönliches Leben nach sättigendem Ausgleich. Aus Hochmut wird Demut. Aus Lachen Trauer. Aus Begierde Trost. Insofern wird unser Leben zum Gedicht, wenn wir es nur zuließen.

Sieh mir dies Geschwurbel trotz bedrängender Tagesaktualitaten von Seuchen und Kriegsplagen nach; nur so kann ich weiterhin mutig in die Tage schauen. Indem ich meine Realitäten nicht nach Fakten, vielmehr aber nach meinem Herzen ausrichten möchte. Und sei es um den Preis des Geschwurbels.

Lieber Ul(r)i(ch), es gäbe noch viel zu reden, vieles genauer zu erwägen; es braucht zuallererst notwendig aber Präsenz. Nähe lässt sich durch nicht anders herstellen. Hoffentlich können wir bald einmal wieder gemeinsam bei wiLLes Feuerplatz und zureichend Alkohol unser Leben räsonieren. Es gibt doch so viel gemeinsames. Lasst es uns mit Neugierde hören und verkünden.

Alles Liebe, auch an deine uns immer noch unbekannte Göttergattin. Und liebe Grüße auch von meiner Holden.

Georg

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