Der Ochs und seine verlorene Welt

Der OCHS ist Zeuge einer vergehenden Kultur. Die uns andererseits höchstlebendig den Weg in eine neue Lebenswirklichkeit weist. Dies ist der Horizont, den ich weiter "aufreissen" möchte, um das geistige Erbe, das uns Hugo von Hofmannsthal mit seinem schriftstellerischen Werk, insbesondere mit dem Rosenkavalier und seiner Hauptfigur den Ochs von Lerchenau hinterlassen hat, in den Blick zu nehmen. Denn mit seinen Worten tauchen wir ein in eine Kultur der Erinnerung. Eine Art "Offenbarungswerk", das unseren Blick öffnen soll für das "Mögliche".

Zunächst dürfen wir darüber staunen, wie unterschiedlich wir mit unserem Team Figuren aus dem Stück erkennen und weiter entwickeln wollen. Hier stehen nichts weniger als "Lebenswirklichkeiten" zur Diskussion. Erinnern wir uns: bei der ersten Darstellung unserer frauJEDERmann gab es aus meiner Sicht eine denkwürdige Aussage, die von da an die Auseinandersetzung mit und um den Stoff befeuerte. Im Prolog heißt es dort, "Ist als ein GEISTLICH Spiel bewandt, Vorladung J  e d e r m a n n s ist es zubenannt." Wir im Team bekannten uns aber zur Aussage, dass es sich in unserer Ausgestaltung um KEIN geistlich Spiel, sondern vielmehr um ein modernes, zeitgemäßes handeln sollte. 

Ich, quasi als ein OCHS unserer Zeit, weil im Denken einer bald vergehenden Zeit noch verhaftet, habe mich in meiner skeptischen Denkweise von dieser (vorschnellen) Aussage nicht distanzieren wollen, habe aber in der Folge weiterhin mit Vehemenz für das Aufrechthalten der hohen "Geistlichkeit" in Wort und Sprache Hofmannsthal plädiert, eine Sprache voller Metaphern und allegorischer Figuren. Seine Sprache verzögert, wiederholt, umschreibt, verhüllt und verzaubert. Bis heute. Sie schafft Raum, und in ihm Höhe, Tiefe, Weite.

Was also tun? An einem Scheidepunkt befinden wir uns erneut, wie ich meine. Es wäre eine "Verballhornung" der Absichten Hofmannsthals, würde man den REGISSEUR, als OCHS unserer Zeit, so ausagieren lassen, wie wir es bislang beabsichtigen. Der OCHS aus Zeiten Marie Theres' war vor 300 Jahren vielleicht 45 Jahre alt. Er erstickt an den Manierismen seiner Zeit, seinem höfischen Getue, an seiner spanischen Hoffart! Der REGISSEUR, OCHS der Jetztzeit, MUSS sich bereits davon distanziert haben, wären doch drei Jahrhunderte ansonsten "bewegunglos" dahin gegangen. Was bleibt, findet sich im Umstand, dass auch er mit Manierismen zu kämpfen hat!

Aus diesem Widerspruch heraus entsteht Spannung im Stück. Sie entsteht nicht in der Wiederholung des Immergleichen, sondern wird dadurch spannend und interessant, dass es eine Neuausrichtung wagt! Der REGISSEUR wird sich deshalb etwa in den 70igern seines Lebens wiederfinden (ist doch seitdem auch das statistische Lebensalter etwa um diesen Wert gestiegen!). Sich eher mit Potenzproblemen und hämorrhidalen Beschwerden herumschlagen müssen als mit weiteren Bettgeschichten. Seine (gesunde) sexuelle Energie hat sich bereits erschöpft. Geblieben sind ihm Dominanzgehabe und Lamentiererei über das Gefühl zunehmender Hinfälligkeit. Man darf, nein man MUSS, dem OCHS von heute weit mehr Reflexionsfähigkeit zutrauen, sonst wälzen wir weiterhin Klischees von der Figur des "alten, reichen, weißen Mannes" hin- und her. Und das wäre gar nicht cool, sondern eher öde und rückwärtsgewandt, weil wir uns mit unserem Denken selbst dort noch befänden!

Hofmannsthals Vermächtnis ist sein Vermögen, weit zurück in die Vergangenheit blicken zu WOLLEN, um eine Vorstellung von einer ungewissen Zukunft zu bekommen, die unseren Alltag bereits jetzt zu sich heranziehen, uns zukunftsfähig machen möchte. Aber wollen wir nicht lieber einen "lebenswirklich-hoffnungsvollen" Blick in unsere Zukunft wagen, als uns fortlaufend in Manierismen suhlen zu wollen? Die Anlage des modernen OCHS verlangt Mut für eine offene Zukunft, nicht verzagte Permanenz und Wiederholung von bereits Vergangenem.

Noch einige Worte zu einer, meiner Sicht nach, wichtigen Analyse für die Struktur unseres Rosenkavaliers, die sich mit den Absichten Hofmannsthals decken sollte: Im ersten Aufzug wird die vergangene Zeit reflektiert, die sich allerdings bis zum heutigen Tag, oder sagen wir richtiger in die Hofmannsthal-Zeit des Fin de Siècle, erstreckt. Barockes Getöse, üppige Bildgewalt in spanischer Hoffart. Im zweiten Aufzug wird eine Zeitenwende behandelt, in dem der Geldadel dem alten Adel zur bald übermächtigen Konkurrenz erwachsen wird. Im dritten Aufzug werden die Themen der ersten beiden quasi "verwurstet", mit ironischem Staunen und nicht frei von Murren. Aus Vergangenem (I. Aufzug) wird reale Gegenwart (II. Aufzug), die sich in einem Potpourri launiger Verwicklungen zur Zukunft hin "ausstreckt". Jeder Aufzug für sich wird in einen identen Zeithorizont gestellt (Einführung, Verwirrspiel, Auflösung - man könnte auch sagen "Einlösung"). Die Notwendigkeit einer solchen Struktur hatten sowohl Hofmannsthal als auch Strauss mehrfach in ihrem Schriftverkehr betont. Sie zeigt sich im Spiel unserer historischen Ebene, aber auch in unserer Realebene auf dem Filmset. Diese wird quasi in einen ähnlichen "Verlauf" gezogen, sie persifliert unsere Zeit im Spiegel des Vergänglichen.

Hofmannsthal war zutiefst in jüdischem Denken verhaftet und fand von dort aus aber den Sprung zur eschatologisch-endzeitlichen Geisteshaltung des Christentums. Beide Ausprägungen finden sich in seinem schriftstellerischen Werk bis zu seinem "Lebenswerk", dem Theaterstück "Der Turm", in dem er durch den Rückgriff auf Calderóns "Das Leben ist ein Traum" einen heilsgeschichtlichen Ausblick in ein neues Zeitalter wagt. Diesen reichen Schatz gilt es auch noch zu heben für das Sommertheater!

Über all seinem Schaffen schwebt die jugendlich-jungfräuliche Liebe, die neue Hoffnung und ein aufscheinendes Licht in das "verfinsterte" Zeitalter aller Gegenwart zu werfen versucht und der zyklischen Abfolge der Menschheitsgeschichte eine "klangvolle" Ewigkeit gegenüberstellen möchte. Hier bei uns die Einsicht der MARSCHALLIN, die der Liebe "ewiger" Jugend aktiv den Weg zu ebnen sucht. Trotz, oder gar zugute?, aller Wehmut, die sie dabei heimsucht. Wir könnten immerhin versuchen, dem Ochs unserer Zeit ein wenig von dieser neuen Geisteshaltung "einzugeben", weil der notwendige Gegensatz dazu vom "echten" OCHS aufrecht bleibt. Während der alte OCHS sich tapfer-trotzig als eine Art "Letzter Ritter" gegen aufkeimende neue Sichtweisen und fortschreitenden Lebenslauf stellt, beginnt sich der neue OCHS, bereits müde und mit letzter Kraft, in den Strom der Zeit einzufügen, ohne diese Bewegung gänzlich intellektuell mitgehen zu können. Die Tragik seines Vergehens nimmt er schweren Herzens hin und wird sich von der neuen "Weiblichkeit", die sich ihm mutig entgegenstellt, schließlich doch in ehrfürchtiges Staunen versetzen lassen. Sein Abtreten von der Bühne könnte so weit weniger täppisch ausfallen als das des alten OCHS. Seit Marie Theres' hat sich unsere Rezeption verändert; ist sie deshalb aber frei von Dünkel?

Immerhin. Ein Lichtblick. Ein unerwarteter Ausblick! Hofmannsthal würde begeistert zustimmen! Die banale Skandalisierung im Verhalten des REGISSEURS bekäme so eine gänzlich andere Ausrichtung, die unsere Zuschauer in aufkeimende Hoffnung ziehen sollte, statt sich in die Kakophonie der #MeToo-Debatte blindlings einstimmen zu müssen!

Zudem gälte es dieser höchst wunderlichen Methapher "Taschentuch" weiteren Raum zu geben. Etwa indem TAVIA während Hofmannsthals "epilogischer" Fürsprache das verlorenene Taschentuch, scheinbar achtlos fallen gelassen aber zeichenhaft auf dem Boden liegend, in den Blick bekommt. Dann zögerlich aufnimmt und hin und her wendend neugierig betrachtet. Schließlich in ihm das allegorische Zeichen für all die bereits vergossenen und noch zu vergießenden Tränen in der ewigen Zeitströmung erkennt. Vom Taschentuch ins Publikum aufblickt, zu ihrem Monolog anhebt und mit uns in eine Zukunft schauen lässt, die gleichzeitig schon vor uns schwebt, ebenso aber noch in der Vergangenheit verhaftet bleibt.

Die Sprache Hofmannsthals ist eine Sprache, die verzaubern möchte. Zuschauer haben ein Recht darauf, weil allein Zauber uns Zugang zum Innersten verschafft. Im Innersten, dort wo unsere Gefühle aus ihrer "kulturellen Überformung" heraus ans Licht drängen. Eine Aufführung mit Mitteln des "politischen Realismus" scheint wenig hilfreich; "Pucks Zauberstab" dagegen öffnet unsere Augen für Möglichkeit einer anderen Welt, wie wir es im letzten Sommer auf der Bühne erleben durften!

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