Die Jahre 53 - 63 (2010 - 2020)
Meine
Mutter wurde krank. Stets war sie diszipliniert. Auf ein stilvolles
Äußeres bedacht. Manieren waren meinen Eltern wichtig. Sauberkeit und
Ordnung war das Metier meiner Mutter. Gute Tischmanieren, also das
korrekte Handhaben von Besteck, Servietten und Ellbogen bei Tisch fast
ein Brevier, mehr als selbstverständlich. Pünktlichkeit keine Zier, eher
eine Obsession. Die Lüge verpönt. Aufrechtes, erkennbares "Schwindeln"
durfte bei uns fleissig geübt werden. Übertreibungen in der Auslegung
von Normalität sorgten für beifälliges Lachen.
Früh
lernte ich meine Mutter um den Finger zu wickeln. Also lernte ich etwas
für das Leben. Von meinen Eltern konnte man sehr viel lernen. Wir
hatten ebenso die Freiheit zu lernen, wie wir es gemäß Vorbild nicht
machen wollten. Ich wüsste nicht, wofür ich meinen Eltern mehr dankbar
sein sollte. Verlässlich waren sie stets ansprechbar, sofern wir den Mores der Familie einigermaßen genügen wollten.
Sie
starb viel zu früh im Alter von 84 Jahren. Der letzte Umzug hat sie
wohl aus der Bahn geworfen. Das Leben an der Seite ihres ewig
umtriebigen Ehemanns hat sie sichtlich ermüdet. Andererseits, war er es,
der das Leben kurzweilig machte. Mit seinem Humor, seinem Elan. Seiner
Härte gegen allzu bequeme Erkenntnis.
Das
Sterben meiner Mutter dauerte länger als ein ganzes Jahr. Die
heimtückische Autoimmunerkrankung nagte an ihrem Selbstbild. Die
medikamentöse Behandlung zur Linderung ihres Leidens lies sie aufgehen
wie einen Stietzlteig. Das war sichtlich eine Zumutung, der sie keine
Kraft mehr entgegensetzen wollte. Ein Jahr lang brachte mich ein
Flugzeug jeden Monat für die Länge einer Woche von Berlin nach Wien.
Dafür lies ich meine Kinder allein zurück.
Dennoch,
auch jetzt noch, obwohl das baldige Ende sichtbar wurde. Mit meiner
geliebten Mutter war mit nie ein wirklich offenes Gespräch vergönnt. Es
war immer etwas zwischen uns. Unausgesprochen. Quälend. Als meine
Schwester mich mit der Mitteilung ihre Todes in Berlin anrief, weinte
ich für eine lange Minute bittere Tränen, obwohl mir nicht zum Weinen
zumute war. Bereits zu lange dauerte ihr Sterben. Mein Gott, es waren
einfach zu viele Medikamente täglich über viele Jahre!
Es
geschah zu dieser Zeit, als mich mein bester Freund jener Tage in die
Enge trieb. Beim Absolvieren des fast täglichen Lauftrainings erzählte
er mir von seiner Einsamkeit. Ich wollte ihm kein Wort glauben.
Versuchte ihm die Einsamkeit auszureden. Er hörte einfach nicht auf
davon zu erzählen, bis ich endlich begriff. Berichtete er doch von
MEINER Einsamkeit. Es traf mich wie ein Schlag. Wie lange schon sehnte
ich mich nach der Liebe einer Frau.
Wenige Tage später las ich einen Artikel in der Zeitung. Die Einsamkeit in den Zeiten des Internets.
Eine Soziologin war es wohl, die den Zusammenhang zwischen der
Selbstbezogenheit unserer Gesellschaft und den Gefahren mit dieser in
die Sucht des Internets abzurutschen, verdeutlichte. Pornographie,
Unterhaltung ohne Anfang und Ende, die Welt auf einem kleinen Schirm,
der den Kosmos zur Erbse skalierte.
Mein
Leben stand auf dem Prüfstand. Motor und Fahrwerk kämen durch keine
noch so wohlmeinende technische Prüfung. Also musste sich fundamental
etwas ändern. ICH musste mich ändern. Nicht mehr einfach zuwarten, dass
mich das Leben bespaßen würde. Die Aufforderung lautete
unmissverständlich: was bist DU bereit dem Leben zu geben? Liebe zu
erfahren heißt zuallererst Liebe schenken.
Das
Motto. Turnover. Die Richtung meines Lebens verlief in die falsche
Richtung. Alles auf den Kopf stellen. Alles neu denken. Bald war ich
bereit.
Das
Leben auf dem Kopf ist Erbauung. Links ist rechts. Hinten vorn. Und
oben plötzlich unten. Mir sollte das doch leicht fallen. Hatte ich nicht
bereits fleissig den Exkurz geübt?
60 (2015 - 2016)
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