ÜBER MICH

Über mich. Über mich! Mit ein wenig Bauchschmerzen will ich versuchen, über mich zu räsonieren. Ich würde mich begreifbar machen wollen, wiewohl wissend, dass der Blick auf sich selbst problematisch sein wird. Schweigen, so sagt es bereits der Volksmund, wäre angemessen und daher der Goldweg. Reden, als silbrig glänzender Weg, weit weniger wert, zudem auch naiv. Es sei denn, man trifft den Punkt einer durchscheinenden Wahrhafftigkeit; mit einem gar nicht so geringen Reiz zum Risiko, dass man die gesuchte Wahrhaftigkeit andererseits verfehlen könnte. Mit Reflexionen über sich selbst setzt man sich zu Recht der Kritik aus; das ICH als Mittelpunkt der Welt?

Der Wille zum Hinterfragen des eigenen ICHs ist Ziel der Bemühungen. Wie wurde ich zu dem, der ich geworden bin? Wie verstehe ich die Welt, die mich ungibt? Was habe ich der "Welt" zu sagen? Woraus speist sich mein Bewusstsein? Wie sehe ich mich im Verhältnis zu der sich mir gebotenen und bietenden, der von mir konstruierten Wirklichkeit? Denn eines scheint mir inzwischen sicher; für mich gibt es lediglich die Wirklichkeit, mit der ich selbst in Kontakt treten konnte. Oder wollte?

Mein Leben findet seinen Anfang, wie sollte es anders sein, mit dem Eintritt in das Selbige. Nicht erst seit der Aufklärung mit Freilegung und nachfolgender rechtlichen Absicherung des Individuums ist jeder Mensch für sich etwas besonderes. Bereits die griechischen Klassik vor rund 2.500 Jahren erarbeite sich die dafür notwendigen Prinzipien, ohne sie deshalb jedem Menschen zuzugestehen (wenigen Menschen mit verbürgten Rechten stehen viele, auch versklavte, rechtlose Menschen gegenüber). Sofern man dem Theorem "Achsenzeit" von Karl Jaspers zustimmen wollte, gab es den Durchbruch zu der Idee der Individuation fast zeitgleich in den Zivilisationen Chinas, Indiens, Persiens, im Judentum und im Städtebund Griechenlands. Jaspers sieht sie als gemeinsames Produkt menschlicher Gesellschaftsentwicklung, die sich nach Jaspers unabhängig voneinander vollzogen haben soll. Schwer vorstellbar, dass sich die Ideen jeweils nicht befruchtet haben sollen. (lesenswert: Achsenzeit. Eine Archiologie der Moderne von Jan Assmann).

Auf den Grundlagen dieser Geschichtsperiode stehen wir bis heute. Vor allem auch das christlich-abendländische Mittelalter hatte sich damit auseinanderzusetzen, wobei die Durchsetzung dieser philosophisch-theologischen Ideen in Wirklichkeit bis heute andauert. Erst mit der Gewaltenteilung moderner demokratischer Gesellschaftssysteme vollzieht sich der letzte Schritt der Achsenzeit bis zum tatsächlichen Duchbruch dieser Ideen. Zuletzt wurde mit dem Scheitern des kommunistischen Sowjetimperiums gar das "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) ausgerufen. Viel zu früh. Einige Jahre später bilden sich bereits neue Systeme mit neuen Polaritäten, die einen Gegentwurf zu den klassischen Demokratien zu etablieren versuchen. Moderne Demokratien sind freiheitlich-marktwirtschaftlich verschrieben und nach permanetem Wachstum ausgerichtet. Den Untersuchungen des Ökonomen Joseph Schumpeter fogend gründen sie sich auf Praktiken der "schöpferischen Zerstörung". Sie sind daher nicht nur anfällig für Krisen, sondern Kriesen werden geradezu zu ihrem "Vollzug" benötigt, damit sie diese zur weiteren Dynamisierung der Wirtschaft gewinnbringend einsetzen können. Weit konsequenter jedenfalls als Diktaturen und weniger flexibel aufgestellte Gesellschaftssysteme.

Wozu dieser sehr kurz zusammengefasste Exkurs in die Geschichte, wo ich doch von mir erzählen wollte? Nun, ich kann mich nur als Kind meiner Zeit verstehen. Eine Zeit, die wiederrum nicht ohne Ereignisse der Vergangenheit verstanden werden kann. Ohne die Interpretation der Vergangenheit, die in ihrer Wirksamkeit sebstverständlich in unserer Zeit reicht, wäre jede Reflexion sinnlos. In den Worten Wiliam Faulkners: "Das Vergangene ist nicht tod, es ist nicht einmal vergangen."

Mir ist im Zuge der weltweiten Diskussion um "Black lives matter" erst nach und nach bewusst geworden, wie rassistisch geprägt unsere Sprache und damit auch unser Denken im Prinzip eigentlich sind. Sobald wir von sozialen Gruppen, von "Anderen", von fremden Kulturen sprechen, verwenden wir das Mittel der Distinguierung. Wir differenzieren uns (ganz bewusst) von denen, über die wir uns ein Urteil anmaßen. Bereits diese Unterscheidung trägt die Gefahr des "Rassismus". Wir beschränken das Individuum in seinem Aufgehen in der Masse. Massen lassen sich leicht abwerten, weil sie jeder Individualität beraubt sind. Nicht mehr ICH und DU, sondern ICH und SIE (siehe Martin Bubers ICH und DU).

Ich will darüber reden, warum und wie ich den mir zu eigenen gewordenen Rassismus abwerfen lernen möchte. Und ja: meine Kindheit und Jugend war der Abwertung im rassistischen Denken ausgesetzt. Jede Individualisierung wurde apriori als "bedenklich", gar als "gefährlich" gebrandtmarkt. Ich werde versuchen aus meinem Werdegang heraus aufzuzeigen, wie die zutiefst rassistische Ideologie des "survival of the fittiest", in der Sprache der Abwertung unser Denken, unser Sein, immer noch gefangen zu halten versucht. Die Welt der Egomanie, die sich in dieser Ideologie als "Fanal des Bösen" ausbreiten konnte, treibt bis heute ihr Unwesen. Hannah Arendt sprach von der "Banalität des Bösen".

Zurück zu meinem Leben. Und seiner Besonderheit. Besonders wäre es lediglich in dem Sinne, dass nie zuvor die Umstände der Wirklichkeit so waren, wie im Moment meiner Geburt. Allein nämlich diese Umstände machen mein Leben besonders und auch individuell einzigartig. Wäre daher die Überlegung abwegig, dass ich, geboren sagen wir vor 3.000 Jahren, bei meiner Geburt ein anderen gewesen wäre, als heute? Abwegig vielleicht nicht. Jedoch vollkommen irrelevant. Aus dem Lauf der Geschichte kommen wir nicht heraus. Die Erlebnisse meiner Eltern, meiner Großeltern, all meiner Vorfahren, sind mir eingeschrieben. Epigenetisch, sofern ich die zeitgemäßen Vererbungstheorien dazu richtig verfolge. Mehr noch als der reine Genpool, den ich bis auf wenige Promille mit allen Mitmenschen teile, ließe sich die Vermutung anstellen, dass seit diesen angenommen 3.000 Jahren, sich eine Unmenge an Geschichte(n) ereignete(n), die mich in Folge als Kind meiner Eltern einzigartig machen.
 
Und hier meine Geschichte. Ich will sie zunächst entwerfen, in einer Art "Sammlung in Schlaglichtern". Indem ich zunächst ein grobes Gerüst webe, das ich nach und nach mit Erinnerungen zu füllen versuche. Denn so hoffe ich, dass viele meiner Erlebnisse, denen ich meinem Leben verdanke, nicht ganz so rasch mit dem Schwinden meines Lebens verlorengehen. Vielleicht dienen mir die Aufzeichnungen meiner Erinnerung später einmal als Passepartout für einen autobiographischen Roman. In der ich zur Abrundung meines Lebens jene Fiktionen dazudichte, die ich - aus deren vermuteter Abwesenheit heraus - stets herbeisehnte, bis ich sie schließlich inkorporieren lernte, obwohl es an ihnen immer mangelte.

Denn was bleibt von uns in dieser Welt? Nichts als Erinnerung. Sofern sich der Glaube, das Konzept des christlichen Einheit von Leib und Seele, in ferner Zeiten bestätigen sollte, dann bliebe doch vermutlich in jener anderen Welt etwas übrig, das verschieden sein müsste vom längst Vergangenen. Nur, so weit sind wir noch nicht.

Dankbar will ich mich gerne zeigen. Gegenüber meinen Eltern, die sehr viel Geduld und Liebe für mich aufzubringen bereit waren, meinem Bruder und meiner Schwester, mit denen ich Lachen und Leid der gemeinsamen Kindheit teilen durfte, den Frauen in meinem Leben, den guten Freunden, meinen geliebten Kindern, die mich als Vater mit liebevollem Respekt beschenken konnten. Ich wünschte mir, ich wünschte Ihnen, dass es uns allen gelänge, einen ähnlich liebevollen Blick auf unser Leben zu werfen, um den ich mich immer bemühte.

Fernando Pessoa hat diese Sehnsucht, die auch ich in mir spüre, in seinem Buch der Unruhe so beschrieben: "Weder lastet auf mir der Zweifel dieser Stunde, noch hält er sich in mir. Ich verspüre Hunger anch der Ausdehnung der Zeit, möchte bedingungslos ich sein."

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