Kreuzgewölbe, zurück ins Leben gerufen

Melitta und ich betraten das Haus. Es war ein unbewohntes altes Haus, direkt an der befahrenen Straße hin zum Talschluss gelegen, das seine besten Jahre sichtbar schon hinter sich gebracht hatte.

Von Bekannten hatten wir gehört, dass das Haus, wenigstens Teile davon, uralt sein müsse. Es wurde davon gemunkelt: spätes Mittelalter. Vielleicht gar aus jener Zeit, als sich der Zorn der hiesigen Gemeinde an den überzogenen Ansprüchen der Obrigkeit entzündet hatte und den ortsansässigen Pfarrer, als deren "Gesicht", im Nachhall seiner strengen Predigt in der Sakristei erschlagen hatte. Die Tat wurde in aller Härte gesühnt, dafür ein eigener Richtplatz eingerichtet und die vermeintlichen Rädelsführer im noch heute so genannten Galgenwald unten am Bach gehängt. Er liegt in unmittelbarer Nähe, keine 300 Meter vom Haus entfernt. Dort, oben am Wegesrand, steht heute, vielleicht als stille Zeugin vom damaligen Geschehen, eine Kapelle. Diese trägt den Namen des Hofes nebenan, den wir besichtigen sollten.

Wir betraten also das Haus. Mit dem ersten Schritt bereits standen wir unter einem mächtigen, doppelten Kreuzgewölbe und unmittelbar auch unter dem Eindruck einer anderen Zeit. Mein Puls machte sich sogleich mit Erhöhung seiner Schlagzahl bemerkbar. Linker Hand betraten wir eine alte Küche mit massivem Kochherd, wie man ihn früher in der hiesigen Gegend zum Kochen und Heizen von Häusern benutzte. Allerlei Kessel und wild durch den Raum gespannte Wasserrohre berichteten von sich als spätere Ergänzungen. Auffällig die Höhe der Räume!

Rechter Hand ging es zwei Stufen hinunter in einen dunklen Raum, der in einen weiteren kleinen Raum mit ebenso kleinem Fenster führte. Das ehemalige "Auszugsstüberl", wie wir vom Eigentümer des Hauses erfuhren, der uns die Besichtigung ermöglichte. 

Weiter hinten im Flur zeigte sich eine weitere Tür. "Die muss früher als Ausgang zur Gartenseite gedient haben", schoss es mir durch den Kopf. Denn von dort ging es hinaus zur Sonne auf der Südseite des Hauses. Noch vor dieser Tür lag linker Hand ein weiterer Zugang, hinunter zu zwei Gewölbekellern. Dunkel und nach erdinger Wärme duftend. Denn es war Winter; das Haus ungemütlich und kalt. 

Rechts ging es hinein in die Stube. Geräumig und erstaunlich hell. Vier Sprossenfenster mit eiserner Gitterzier davor, zwei davon nach Süden, zwei nach Westen mit großartigem Blick hinunter in die weiten Gestade am Bach, hinüber zu den bewaldeten Bergen und hinauf zum Schnee am Trenchtling im Gebirgsstock des westlichen Hochschwabmassivs. 

Das Gewicht der weiteren Geschosse kam auf ausladendem Mauerwerk und mächtigem "Holztram", der den gesamten Raum mittig überspannt, zur Ruhe. Dieser war weiß bemalt, was ihm ein wenig von seiner Mächtigkeit nahm. "Die Farbschichten müssten ganz sicher weichen!", sollte ich einmal dazu ermächtigt werden. Oder gleich wer auch immer. 

Im Ausseneck der Stube richteten sich die Blicke über einen schweren Tisch mit Holzbank und Stühlen in selbigem Material hinweg ins Licht der vergitterten Fenster. Ohne lange zu verweilen waren sie auf der Suche nach weiteren Zeichen bäuerlicher Kultur und verfingen sich an der gähnenden Leere über einem verbliebenen Podest, auf dem vormals ein Kachelofen gestanden haben müsste. "Den haben die ehemaligen Bewohner abgerissen! Überall im Haus fanden sich noch Reste alter Kacheln, als wir die Liegenschaft erwarben", berichtete uns nicht wenig verstimmt der ansonsten überaus freundliche junge Mann, mit dem wir seinen Besitz begingen. 

Später, nachdem wir auch noch den großen, der Straße zugewandten Zubau jüngeren Datums (um 1900?), mit großbürgerlich zugerichteter Fassade und eben solches Zuschnittes seiner Räumlichkeiten -  jedoch frei jedweder Grandezza - durchschritten hatten, durften wir auch noch die oberen Geschosse oberhalb der Kreuzgewölbe besichtigen. Auf den ersten Blick könnte es sich ebenfalls um spätere Ergänzungen zum ursprünglichen Zustand handeln; sie schienen uns jedenfalls weit weniger zusprechen zu wollen als das altehrwürdige Gemäuer darunter. 

Der Eigentümer berichtete freimütig, dass er schon Überlegungen angestellt hatte, den gesamten Gebäudekomplex dem Erdboden gleichzumachen; ihn sodann mithilfe moderner Bautätigkeit endgültig seiner Zeit zu entreißen?

War es ein guter Gott, der ihn davon bewahrte? Man darf solches vermuten. Wäre es doch frevelhaft gewesen, ganz sicher. Ohne Not, Andenken an Jahrhunderte gelebter bäuerlicher Lebenskultur einfach...tabula rasa? Noch jetzt, einige Tage später, erleichtert es mein Gemüt zu wissen, dass es diesen Ort noch gibt. Kündet er doch aus einer Zeit, die von Hast und heutiger Überspanntheit gar nichts wissen konnte 

Seltsam. Als Abschluss wurde uns noch ein Blick auf den ganzen Stolz des Jungen Mannes geschenkt: quasi zur Abrundung einer denkwürdigen Besichtigung: das große Stallgebäude, mit dem Wohnhaus den Hof bildend, für dessen Bestand er die Liegenschaft erworben hatte. Ein Stall für Jungkühe und für Kühe als Ruheplatz nach der Geburt ihrer Kälber. Wir spürten es unmittelbar; das Vertrauen der Tiere in den Menschen. Sie kamen gemächlichen Schrittes ans Gatter und beschnuppern uns neugierig. Schöne Tiere, auffallend ruhige Tiere. "Wenn es unseren Tieren gut geht, dann geht es auch uns gut. Sie sollen dafür alsbald noch einen eingehegten Freiplatz in frischer Luft erhalten", war die ebenso simple wie einleuchtende Erklärung für ein spürbares Phänomen; in der Ruhe der Tiere fand sich die Ruhe des Halters; und umgekehrt, die Ruhe des Halters spiegelt die Ruhe des Viehs wider. Auch hier weit mehr nur als bloße Koinzidenz. Der Kreatur zugewandtes Denken, unter Beachtung ganz natürlicher Bedingungen und vermittels wohldosierter technischer Innovation, verhilft dem Zusammenleben zwischen Mensch und Tier - ganz ohne Zeitverlust - um vieles stressfreier machen. Das sollte stets unser Streben bleiben. Die Freude über dieses wohltuende Vorgehen war ihm ins Gesicht geschrieben! 

Ich wusste es alsbald; ach was, ich wusste es sogleich; ich musste eine Vision dafür entwickeln, wie man den unschätzbaren Wert des alten Gemäuers in unsere Zeit überführen würde. Mit gleichem Ziel, das nebenan den Tieren eine vertraute Heimat für ihre Zeit gab, so würden massvolle, aber wirkmächtige Eingriffe das alte Haus wieder zu neuem Leben erwecken! Zum Wohl der Bewohner, der Gemeinde und des gesamten Tals. Die Berge würden sich verneigen, die Bäume, Sträucher und Wiesen Beifall spenden. Das Haus diesen und diese sich im Hause selbst. 

Der Verkehr im Rücken, sein ewig rastloses Rauschen würde wieder verhallen, das grelle Licht der Laternen dem fahlen Licht des Mondes weichen. Eine hohe, dunkelgraue Begrenzungsmauer mit kristallinen Ausschnitten als Aufforderung zur Neugier in den Blicken von Wanderern und Spaziergängern ins Innere eines fast klösterlichen Gevierts, zum Blick auf das Denkmal der Kapelle im Aussenbereich, zur weiten Ausschau ins nahe Land, auf ferne Gipfel; hinunter zum Bach, auf ein kleines, einfaches Teehäuschen, dort wo das Wasser des Baches und seiner Quellen sumpfigen Grund speist; all das und noch viel mehr steht irgendwie schon jetzt klar vor meinen Augen. 

Ein sehr modern gestalteter Vorbau, ganz in rötlichem Holz und klarem Fensterglas, klar wie das murmelnd Fließende unweit im Bach, lehnt sich an eine feste Mauer zum Talgrund und hinauf zu den Almen der hohen Bergflanken im Hochgebirge; dorthin, wo sich im Sommer das Fleckvieh am Geschmack der blumenreichen Almwiesen sättigt; uns zum Gefallen und zum Genusse. 

Hier unten nimmt es dem allzu hohen Giebel des Hauses wieder etwas seiner schieren Anmaßung und verleiht ihm neues Maß und alte Würde, das es sich an vergangenen Jahrhunderten redlich verdient hat. Jetzt erst sollte es sich in frischer Blüte entfalten, die sich täglich vom Glühen der Alpen im abendlichem Rot der Sonne wieder
erschöpfen und Hoffnung zur Ewigkeit verkünden will. 

Das Geviert der Umfassungsmauern führt durch das Gebäude hindurch, beidseitig an den Flanken talwärts, an deren Enden es wieder zusammenlaufen soll, ohne daß ihm eingeschriebene Ziel zu vervollständigen. Vielleicht zeigt es sich dem Betrachter bereits in seiner Auflösung. Ganz im Vertrauen an de Prozess seiner Auflösung. Den woraus bestünde Lebendigkeit sonst? Ist doch bereits einem Jeden in der Vollendung sein Verfall mit eingeschrieben. Und ewiger Bestand ist nichts als Verheißung, dem irdischen Leben an sich nichts als Opposition. 

Hier aber kann das Nachsinnen darüber "lebendig" bleiben. Im Verfall erscheint Leben zwingender noch als auf seinem Weg zur Blüte. Das Geviert bleibt in seiner Grundform geschlossen, in seiner Wirkung leicht und offen. Als Geviert bildet es ein ebenmäßiges Quadrat, in seiner Wirkung aber soll es sich ins Land strecken. Das Land, das sich wiederum dem Haus zuwendet, wie der Mensch seinem Nächsten und dem ihm anvertrauen Geschöpf der Natur. 

Wie sich im Verlauf der Gespräche bei der Besichtigung des Anwesens herausstellte ist es sein Eigentümer, der unzählige Steinmale, beim Umgraben der Erde entnommen, als "Marken" ins Land herum bereits gesetzt hat. Weithin sichtbar, das Land gewissermaßen "einfriedend". Nichts wäre passender hier an diesem Ort, als dass sich die Mauer des Gevierts zur Landschaft hin öffnet und sich zum Gestade hin allein aus erratischen Steinmalen präsentiert, wohlgesetzt in den Erdboden. "Aus in den Weg gelegten Steinen lässt sich Schönes bauen", wie ich es einmal irgendwo gelesen haben muss. 

Es handelt sich nur scheinbar um ein Paradox: aber sobald wir über etwas reflektieren ("zurückbiegen" - zur Vergangenheit hinbeugen), dann hilft uns oft der Zufall. So wie mir beim Suchen nach passenden Worten zur Abfassung dieses Textes (hier: das Werdende nach seiner Möglichkeit ins Auge zu fassen und sei es nur in seiner Beschreibung, in Worten) kommt etwas in die Welt, was bald wieder verklingen wird und doch im "Abklang" fortklingt. Soeben fand ich in einem ANDERE ZEITEN "Fastenbrief" die Worte, die derlei Zusammenhänge, nach denen ich suchte, gut zum Ausdruck bringen:

"Ein wenig stirbt man Tag für Tag und fasst es nicht
wie etwas weitergeht und ist vorbei
und wie ein Tag verrinnt in seine Nacht
und aufersteht ein fremdes Einerlei
und schwer erträglich ist wie Stunden fallen
im Puls der Stille kommen und vergehen und wie Geburt und Tod ist Gegenwart
und ganz alltäglich Schritte die verhallen indessen innen noch Knospen stehn und Neues harrt."

NORBERT ELIAS 


Denn was bleibt schließlich einmal vom Leben? Erinnerungen in Stein gesetzt. Zum Gedenk an das Eingreifen des Schöpfers hier an diesem Ort und in eine Zeit, die Zerstörung seiner Schöpfung niemals zulassen würde. 

Ganz wie wir uns im Ländlichen in diesem Land noch im christlichen Kontext bewegen, so bildet das Kreuz des Lebens hier wieder ein Zeichen, in das hinein das Haus in seiner Wiedergeburt gestellt wird. Das Motiv des Kreuzes wird sich mehrfach am neu gestalteten Ort wiederholen. Es wird feste Bezüge herstellen frei von Gekünsteltem oder Anmaßendem gegenüber der Natur. In der Ewigkeit wird sich alles Religiöse wieder verlieren. Nur dem aufmerksamen Wanderer wird bewusst, dass er sich auf heiligem Boden befindet, der seinen Blick in den klösterlich bepflanzten Garten verengt, indem er verweilen will. Um dann erneut dahinter die Weite seines Seins zu suchen. Das Muhen des Viehs auf grüner Wiese wird in seinen Jubel einstimmen. So soll es geschehen. Es wird gut gelungen sein. Am Morgen. Am Abend. 










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