Die Mitte, die altbekannte, ist's! - auch bei frauJEDERmann ändert ihre Wirkung alles

Ich versuche die Gedanken, die mich zu einer gewissen "Neubetrachtung" im Spiel des TOD in der zentralen Szene mit frauJEDERmann veranlassen möchten, hier etwas ausführlicher darzulegen.

Es geht um die Erfassung und Beschreibung der emotionalen Beweggründe, die den TOD und frauJEDERmann in der bezeichneten Szene so führen lassen, wie sie hier
veranschaulicht sind. 

Indem sich die Protagonisten in einen sehr persönlich ausagierten Wettstreit begeben, wird auch ihr innerer Gemütszustand zu heftiger Aufruhr gezwungen.

Hier frauJEDERmann: selbstgewiss, eine Frau der Tat, die gegen jegliches Argument ein noch besseres parat hält. Streitbar und zielbewusst. Dort der TOD, auf der Bühne erst kürzlich, gewissermaßen als eine Art "verlängerter Arm" Gottes inthronisiert um auf Erden der frauJEDERmann den Tod zu verkünden. Ohne Widerspruch oder Aufschub soll der Tod über frauJEDERmann kommen; "es sei denn, dass Almosen und Mildtätigkeit befreund' ihr wären, und hilfsbereit." Bei Auftragserteilung als POSTBOTE noch "fremdelnd" wird er in seiner "Auguration" als TOD gleich dreifach angemahnt, seinen Auftrag unbedingt ganz im Sinne seines Auftraggebers auszuführen. Denn "Almosen und Mildtätigkeit" als Anhang zum Auftrag wird sich als schicksalshaft für frauJEDERmann erweisen. 

Zwischen beiden tobt es auf der Bühne hin und her, ein an Dramatik kaum zu überbietendes Ringen um Vormacht. Es kommt, wie es kommen muss; der Atem des TOD wird länger und länger, die Widerborstigkeit frauJEDERmanns bröckelt zusehends, Verzweiflung macht sich breit, als das weitere Geschehen eine Wendung ex nihilo nimmt. In letzter Kraftanstrengung fleht frauJEDERmann um ein Geleit, als Grundbedingung zur Akzeptanz des Unvermeidlichen. 

"Meinst du, dass solchest dir gewinnst?" Die bedeutungsvoll formulierte Frage des TOD bleibt zunächst offen stehen und kehrt alsbald unterstes zu oberst. FrauJEDERmann zieht, indem sie klagend zu Boden sinkt, das letzte Register in ausichtslosem Kampf. Vorher streitbar bis zur Selbstverleugnung, erbarmt sich ihrer plötzlich ihre weiche Seite, die sie bis dahin gut im Zaum halten konnte. Die Tränen schierer Verzweiflung wiederum erbarmen den TOD. Alle Macht und Erbarmungslosigkeit fährt aus ihm heraus wie der leibhaftige Teufel. Da er auf der Bühne als lebendige Allegorie des Todes agiert, ausgestattet mit dem ganzen Strauss an menschlicher Gefühlswelt, trifft ihn die flehentliche Bitte mitten ins Herz. Auch sein eigen Herz wird selbst gewogen. Wäre ER denn bereit für den letzten Gang? Noch steht er doch mitten im Leben und erst am Beginn seiner Funktion als mächtiger TOD. Und die erst jüngst gewonnene Macht gleich wieder verschenken? Jetzt, hier für frauJEDERmann? Dieser Wechsel seiner Perspektive wirkt doppelt fulminant.

Augenblicklich kommt ihm die Doppelbödigkeit seines Auftrags in den Sinn, wenn "... Mildtätigkeit befreund ihm wären...", was wäre dann? Fände sich nicht jetzt spätestens ein aufrechter Grund für frauJEDERmanns Aufschub? 

Mit ihrer plötzlichen Demutsgeste der Verzweiflung hebelt frauJEDERmann die eigentliche Absicht des TOD komplett aus. Plötzlich blickt auch der TOD wie frauJEDERmann hinter den Schleier des Geschehens. Flehentlich erbittet frauJEDERmann "nur Reden und Ratens ein Stündlein Zeit. Um Christi Gotts Barmherzigkeit!" Barmherzigkeit! Dem TOD wird warm ums Herz. Eine Stunde nur! Für eine weitere Chance im Leben der frauJEDERmann? Das scheint ihm doch mehr als angemessen. Das rechte Maß scheint nun gefunden. Er tritt frauJEDERmann "aus dem Gesicht" und von der Bühne ab. 

An diesem Punkt treffen im Geschehen auf der Bühne zwei grundsätzlich gegenläufige Entwicklungen aufeinander. Zunächst - man könnte ihn auch den "weltlichen Gütern" zukommenden Teil des Spiels benennen - wird auf der Bühne in geraffter Zeit der allmähliche Verfall der alten frauJEDERmann aufgeführt, hin bis zum Sterben in jenen Punkt absoluter Hoffnungslosigkeit, die frauJEDERmann bald endgültig zermalmen würde. In der einen Stund, die ein barmherziger Gott dem reumütigen Sünder in der Stunde des Todes noch schenken wird, keimt wieder Hoffnung auf und das neue, verbleibende Leben der frauJEDERmann gewinnt an Tragweite. Dieser Teil ließe sich in Analogie zum ersten allgemein als Teil mit eher "geistigen Gütern" benennen, konkret in der Hofmannsthal'schen Prägung mit christlich-religiösen Zügen. Sie wird an der Schwelle zum neuen Leben andere Begleiter finden als die, die sie zum Ende ihres irdischen Lebens verwerfen musste, weil sie selbst von ihnen verworfen wurde. So will es uns die christliche Lehre glauben machen und so wird dieser Glaube unter Gläubigen immer noch verkündet. So erzählt es uns im Grunde ganz sicher auch frauJEDERmann in diesem Mysterienspiel für die Bühne. 

Aber selbst wenn man heute an einem gütigen und barmherzige Gott in grottesker Dreifaltigkeit kaum noch Gefallen finden kann, so entbehrt diese Geschichte keinesfalls eines gewissen Esprits. Die existentialistische Fragestellung, auf welche Begleitung WIR auf dem Pfad unseres Lebens gesetzt haben, begleitet unser ganzes Leben und wird uns auch bis ins Sterben hinein begleiten. Zwar helfen Ablenkungen aller Art zur Umgehung dieser unbequemen Frage und in die modernen Möglichkeiten Schmerz jederzeit zu mindern - wer von uns würde diese nicht gerne in Anspruch nehmen? - werden wir hineingeboren und von ihnen seit frühester Jugend begleitet und geprägt. Die zentrale Fragestellung jedoch bleibt unverändert existentiell. Das macht den Stoff des Jedermanns bis zum heutigen Tag brisant, und wird daher wohl auch in hundert Jahren noch zum Standardrepertoir der Festspiele im Salzburgischen zählen. Was macht das so sicher? Etwas spitz ließe sich formulieren, weil hier auf der Bühne kunstvoll und tragisch-heiter das Nachglühen morgenländischer Mysterien mit der Morgenröte evidenzbasierter abendländischer Vernunft stets aufs Neue verhandelt werden. Und wieder und wieder muss dieses Verhältnis in den Ausgleich gebracht werden, wie ein Pendel, das hin- und herschwingt. Und wir wir es im Spiel vom Leben und Sterben frauJEDERmanns an uns selbst wieder neu erproben dürfen. 

Und in Rodaun? Am Enstehungsort, aus der Feder Hofmannsthals? Nun ja, meine Antwort steht fest; die Interpretation meines TOD wird auch im kommenden Jahr Auferstehung feiern. Wenn auch dann mit geringfügig modifiziertem Blickwinkel. 












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