Impfpflicht in geisteswissenschaftlichem Anschauung - Valentin Weidmann, Gastkommentar in der NZZ

GASTKOMMENTAR in der NZZ


Warum die Pandemie-Debatte nicht allein den «Experten» überlassen werden sollte


Vertreter geisteswissenschaftlicher Disziplinen haben in der Pandemie-Debatte einen schweren Stand. Man hört lieber auf Naturwissenschafter. Dass nur Virologen befugt sein sollten, Vorgaben zur Pandemie-Bekämpfung zu machen, ist aber ein Trugschluss.

Valentin Widmann

09.12.2021, 05.30 Uhr


Die Pandemie-Massnahmen sind stark auf Zahlen fixiert – Tests, Impfraten, Infektionen, Hospitalisierungen, Todesfälle.

Die Corona-Pandemie hat wieder Fahrt aufgenommen. Das Virus zirkuliert, die Zahlen steigen, und eine neue Virusvariante treibt ihr Unwesen. Und wieder dominiert ein szientistischer Monoperspektivismus den öffentlichen Diskurs. Zur Pandemie äussern dürfen (bzw. sollten) sich nur Virologen oder andere Angehörige einer einzelwissenschaftlichen Zunft. Dabei verdienen zunehmend andere Aspekte unsere Aufmerksamkeit. Wer das so frivol ausspricht, wird jedoch schnell desavouiert: Nichtvirologen sollten nicht zu Themen Stellung beziehen, von denen sie ohnehin nichts verstünden.

Dabei wird gerne übersehen, dass diese Argumentation auf Zusatzprämissen beruht, welche Massnahmenskeptiker gerade nicht teilen. Ich erwähne diesen abgrundtiefen Dissens auch deswegen, um auf einen dialektischen blinden Fleck in der öffentlichen Corona-Debatte hinzuweisen. Für gewöhnlich halten es Corona-Apokalyptiker für ausgemacht, dass sich staatliches sowie individuelles Agieren ausschliesslich dem Zwecke des Lebens- und Gesundheitsschutzes zu verschreiben hätten.

Verabsolutierung der Pandemie-Bekämpfung

«Handle so, dass du das Risiko einer Infektion mit dem Virus und einer möglichen Weitergabe minimierst», liesse sich etwa der von den «Experten» propagierte «virologische Imperativ» formulieren. Gestritten wird nun darum, ob dieser Imperativ Kantscher Prägung kategorischen Charakter besitzen sollte bzw. absolute Gültigkeit hat. Liberaler Gesinnte bestreiten diesen Primat des virologischen Imperatives vor allen anderen Begleitschäden, welche die «totale» Pandemiebekämpfung mit sich bringt.

In diesem Dissens liegt die Pointe der ganzen Kontroverse, und genau darin sollte vorzugsweise nach dem Grund für das Scheitern eines vernünftigen Dialogs gesucht werden.

Die «Das Ende der Pandemie um jeden Preis»-Logik ist unbedingt auf Inzidenzen, Hospitalisierungsraten und Totenzahlen fixiert. Sie allein seien die Maximen, denen politische Entscheidungsfindung und Massnahmensetzung Rechnung zu tragen hätten.

Diese Verabsolutierung der Pandemie-Bekämpfung ist zudem mit einer argumentativen Inkohärenz behaftet, die leider selten durchschaut wird. Das ist nicht zuletzt deshalb misslich, weil Corona-Absolutisten ausdrücklich mit dem Anspruch auftreten, mit dem Geiste aufklärerischer Vernunft und lauterer Sittlichkeit zu argumentieren. Es ist zuweilen erstaunlich, dass sich dieses Narrativ – die Massnahmen-Hardliner als Adepten der Aufklärung und Vernunft, mit den Waffen der exakten Wissenschaften ausgerüstet, im Kampf gegen die mythisch-esoterische Unvernunft der Massnahmen-Renitenten – so hartnäckig hält.

Diese Fehleinschätzung resultiert zumeist aus einer unzureichenden Kenntnis sowohl der wissenschaftstheoretischen Grundlagen empirischer Einzelwissenschaften als auch der philosophischen Ethik. Beide Disziplinen – Ethik und Wissenschaftstheorie – gehören nicht zum Kerngeschäft des naturwissenschaftlichen Handwerks.

Diese Unkenntnis ist jedoch nicht nur in der medialen Landschaft und Diskussion weit verbreitet, sondern trifft gelegentlich auch arbeitende Wissenschafter, die im Labor zwischen Petrischale und Reagenzglas den Bezug zur vorwissenschaftlichen Lebenswelt verloren haben.

Dies wird besonders dann spürbar, wenn Wissenschafter und Experten versuchen, anhand empirisch gewonnener Erkenntnisse und theoretischer Modelle moralisch qualifizierte Handlungsanweisungen für die Gesellschaft abzugeben. Naturwissenschaften geben quantitative Antworten auf methodisch richtig gestellte Fragen, haben aber nicht zwingend qualitative Kompetenz zur normativen Interpretation ihrer Befunde. Sie operieren in ihrer Disziplin wertfrei und können Werte somit nicht aus ihren Ergebnissen heraus begründen. Auch das Reflektieren auf ihre metaphysischen Grundlagen und epistemischen Grenzen gehört nicht zu ihrem Modus operandi.

Das ist für sich genommen nicht problematisch. Heikel wird es, wenn ein auf biologische Parameter reduziertes Menschenbild als Ausgangspunkt einer im Kern moralphilosophischen Debatte gesetzt wird. Im Weiteren müssen Vertreter empirischer Wissenschaften den Umstand gewärtigen, dass ihre Einlassungen zu Belangen etwa der Ethik oder Metaethik am erreichten Diskussionsstand gemessen werden.

Bereits das Thema Impfpflicht ist keine medizinische Angelegenheit im engeren Sinne mehr, sondern sollte vor allem unter ethisch-normativen Gesichtspunkten diskutiert werden. Auch Verhältnismässigkeitsüberlegungen gehören in diese Sparte und sind kein Metier naturwissenschaftlicher Modellbauer.

Umgang mit Risiken

Dabei wäre es wohlgemerkt nicht widersprüchlich, von der Sinnhaftigkeit der Impfung überzeugt zu sein, aber eine kollektive Impfpflicht abzulehnen. Um an der Debatte zu partizipieren, muss man strenggenommen keinerlei Kenntnis des aktuellen Forschungsstands in Virologie, Immunologie usw. besitzen. Ebenso wenig muss man das Virus oder die Wirkung der Vakzine leugnen, um die Pandemie nach risikoethischen Massstäben zu bewerten.

Die Auffassung, dass das Mass der Verantwortung für kollektive Risikominimierung nicht absolut sein kann, mag bei Pandemikern auf Unverständnis stossen. Dabei spiegelt sie lediglich eine Selbstverständlichkeit unserer lebensweltlichen Praxis im Umgang mit Risiken wider. Verantwortung kann niemals eine absolute Relation sein. Auch nicht im regulativen Sinne. Wer Gegenteiliges behauptet, überstrapaziert das normativ erwartbare Mass dieser Relation.

Und es muss die Frage erlaubt sein: Welche «Krisenstandards» werden zukünftig für ausreichend befunden werden, um Grundrechte und Freiheiten zu sistieren?
Wer Lebensschutz verabsolutiert und auf den virologischen Imperativ eingeschworen ist, aber ignoriert, dass beispielsweise die Unterbrechung der Lieferketten in Entwicklungsländern und der Einbruch von Absatzmärkten durch die globalen Lockdown-Massnahmen bis zu 140 Millionen Menschen zusätzlich dem Risiko des Hungertodes aussetzen, nimmt es mit dem Lebensschutz dann doch nicht so genau. Diese selektive Inanspruchnahme des Lebensschutz-Prinzips scheint integraler Bestandteil der Corona-Ideologie zu sein, bleibt aber in der Debatte regelmässig unbeachtet.

Auch das Postulieren einer unbedingten Solidaritätspflicht klingt angesichts der Tatsache, dass die westliche Wohlstandsgesellschaft bereits fleissig «boostert», ärmere Länder bei der Impfstoffverteilung jedoch beinahe leer ausgehen, recht unredlich.

Wer hier Kant bemühen möchte mit dem Hinweis, dass man ja Leben so gegeneinander nicht verrechnen dürfe, begeht philosophischen Missbrauch. Kant kann in Abwägungssituationen nicht befragt werden. Für den Pflichtethiker, der nur die Handlung per se bewertet, die Konsequenzen aber in seiner normativen Betrachtung ausspart, sind alle realen Abwägungssituationen Buridan-Situationen mit dem schlechtesten Ergebnis.

Moralische Konsistenz

Dass man mit den Massnahmen zur Pandemie-Bekämpfung im Grunde lediglich eine «Umverteilung des Todes mit Negativ-Saldo» erreicht, wurde an anderer Stelle bereits bemerkt. Für militante Massnahmenbefürworter gilt eine solche Beanstandung jedoch als Sakrileg. Vielleicht auch deshalb, weil sie die moralische Inkonsistenz ihrer Position zu entlarven droht. – Von den psychischen, sozialen, kulturellen und pädagogischen «Nebenschäden» war hier wohlgemerkt noch gar nicht die Rede.

Ob im Übrigen auch die Furcht vor einer Totalitarisierung der Gesellschaft, wie von Massnahmenkritikern häufig angemahnt, gerechtfertigt ist, möge jeder für sich selbst entscheiden. Dazu nur so viel: Die reelle Gefahr eines Gesundheits-Totalitarismus wäre genau dann keine Übertreibung, wenn die Interessen des Einzelnen im Namen eines kollektiven Prinzips suspendiert werden.

Wenn man das gesellschaftlich absolut Gute definiert, dem man alles unterordnet, dann hat man die Sphäre des Totalitären betreten, ungeachtet dessen, ob es sich bei dem absoluten Gut um Gesundheit, Infektionsschutz oder etwas anderes handelt. Denn es gilt immer auch anderen Aspekten Rechnung zu tragen. Es sollten somit nicht ausschliesslich naturwissenschaftliche Disziplinen die Deutungshoheit in dieser Pandemie besitzen. Und es muss die Frage erlaubt sein: Welche «Krisenstandards» werden zukünftig für ausreichend befunden werden, um Grundrechte und Freiheiten zu sistieren?

Allerdings scheint die breite Mehrheit eher einem technokratischen Absolutismus zugeneigt, anstatt Unsicherheiten in Kauf zu nehmen und differenziertes Denken zuzulassen. Wer eine durchweg sterile Welt anstrebt, den wird’s freuen. Freunde einer offenen Gesellschaft eher nicht.

Valentin Widmann ist Philosoph und publiziert Beiträge zu gesellschaftspolitischen und moralphilosophischen Themen.

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