Abgeschieden: oder, was der Sturm freilegt

Lieber XXXXXXX,

Wie geht es Dir? Es muss schrecklich sein für Dich. In dieser Situation abgeschieden zu sein. Wenn wir Dir irgendwie helfen könnten, dann täten wir das gerne. Und wenn Du, fatalistisch geschult, die Tage, an denen Dich per Gesetz niemand stören darf, (ausser der liebe Paolo, der dies mit aufmunternden Früchten natürlich zu Fleiß tat!), wenn Du also dies mit Langmut ertragen kannst; auch hier kannst Du auf unsere Hilfsbereitschaft zählen, die wir Dir allerdings vorenthalten müssten. 

Denn, auch wir sind Abgeschiedene. Der ct-Wert aus dem zertifizierten Labor bewegt sich währnd meiner Abgeschiedenheit unverändert seit der erstmals gemessenen Positivität auf stabilem Niveau diesseits der Benchmark von 30. Und dieser Wert macht mich weiterhin unfrei und grenzt mich aus.

Ich habe mittlerweile keinerlei Symptome mehr, ausser Niedergeschlagenheit (weil mich Quarantäne aus Prinzip zermürbt!) und Magenschmerzen (weil täglich einer Aspirinbrause ist dieser nie zuvor ausgesetzt worden, der Gute!). Mein Magen ist wie ich. Renitenter Natur, er will einfach nicht mit der Räson der gesellschaftlichen Mehrheit mitschwingen. Ein wahrer Unhold. 

Wie verhält es sich mit Deinen cts? Mit deinen Symptomen? Wie versorgt Du Dich mit täglichem Bedarf? Wer kümmert sich um Deine Seele? 

Es sieht danach aus, dass sich an dieser Situation bis zum Heiligen Abend nichts ändern wird. Niemals musste ich diesen mir heiligsten aller Abende allein feiern. Auch in diesem Jahr nicht. Melitta wird mich nicht allein lassen wollen. Aber Du? 

Wie wäre es zur Feier mit einem konspirativen Heiligabend 2021? Verseuchte dürfen sich hoffentlich um einen gemeinsamen Tisch sammeln und ihr Brot brechen, dürfen sie das? Oder ist dies bei Betrafung ebenfalls strikt untersagt, weil die öffentliche Hygiene der Guten und Aufrechten sonst in Gefahr? 

Aber selbst wenn wir uns treffen wollten, wie kommen wir zusammen? Der Fußmarsch wäre weit. Mit dem Fahrrad ist es kalt. So weit ich weiß, ist auch noch kein moderner Fahrdienst zertifiziert zum Transport für "einfach-nicht-genesen-Wollende". Bitte keine Assoziationen!!! 

Vielleicht eine gute Geschäftsidee in den noch vorausliegenden Jahren dieses tragischen Jahrzehnts? Ein Jahrzehnt, eingefangen von bleiernem Sonnenwind? 

Sieh mir bitte die Polemik nach. Ich weiß nur nicht weiter, als mich in dieser bizarren Groteske der 20/21/22er Jahren einem arroganten Zynismus auszuliefern. Ein Alptraum det Janze, wie der Berliner bald bilanzieren dürfte. 

Nun ist's genug. Genug ist genug. Die lange Weile in den zähen Tage täglich neu wachsender Hoffnung, die frühmorgens, wenn die Testergebnisse wie Schulzeugnisse verteilt sind, neuerlicher Agonie weicht. Wieder nicht für gut befunden. Dem Penäler erwächst die Ehrenrunde. Wie gut, wer sich am Misserfolg schon früh übte. Die Früchte seiner unermüdlichen Arbeit erntet er spät. 

Nicht die Hoffnung fahren lassen. Unweit Darmstadt, einige mitteldeutsche Bergen entfernt, hieß es einst aus den Turm eines dichtenden Irren: "Wo das Unheil droht, wächst / das Rettende auch". Was aber bleibt für uns Irre heute? 

Carpe diem. Lieber XXXXXXX, hoffen wir wie stets auf's Beste, vor allem dann, wenn das Schlimmste erst noch droht; weil wir es bis jetzt nicht schon fürchten lernen wollten, als törichte Helden, vom Leben Ausgeschiedene! 


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