Glauben ist keine Sache des Glaubens - Essay von Sebastian Ostritsch, NZZ 211211

Man brauche es sich nur vernünftig zu überlegen, dann entscheide man sich für Gott, sagt Blaise Pascal

Essay von Sebastian Ostritsch, NZZ 211211


Wenige Tage vor dem ersten Advent des Jahres 1654, in der Nacht vom 23. auf den 24. November, wurde Blaise Pascal vom göttlichen Feuer erfasst. Durch eine mystische Gottesschau, die ihn an die Grenzen des Sagbaren und darüber hinaus führte, entbrannte seine Seele in der Gewissheit, dass Gott ist. Der Gott, der sich dem genialen Mathematiker, Physiker und Wegbereiter der Informatik offenbart hatte, war aber nicht das Abstraktum einer unpersönlichen höheren Macht, sondern der lebendige Gott des Christentums. 

«Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewissheit, Gewissheit, Empfinden, Freude, Friede. Der Gott Jesu Christi»: Diese Worte schrieb Pascal auf ein Erinnerungsblatt, das sogenannte «Memorial», das er in seinen Rock eingenähtbis an sein Lebensende immer bei sich trug und das nach seinem Tod per Zufall von einem Diener entdeckt wurde. 

Pascals philosophischer Ruhm verdankt sich einem im Nachlass entdeckten Zettelkonvolut, das vor 350 Jahren zum ersten Mal publiziert wurde und unter dem Titel «Pensées» in die Geistesgeschichte eingegangen ist. Unter den : zahlreichen gedanklichen Schätzen der «Pensées» strahlt das als «Pascals Wette» bekannte Argument vielleicht am hellsten, handelt es sich doch um eine der aussergewöhnlichsten philosophischen Annäherungen an Gott. 

Die Skepsis will Begründung 

Pascal versucht sich nämlich gar nicht erst an einem metaphysischen Beweis für die Existenz Gottes. Davon gab es schliesslich schon genug. Das Problem liegt für Pascal in der beinahe vollkommenen Wirkungslosigkeit derartiger Gedankenführungen: «Die metaphysischen Gottesbeweise», notiert er, «liegen dem menschlichen Herzen so fern und sind so verwickelt, dass sie kaum zu Herzen gehen, und wenn das auch einigen nützlich sein sollte, so würde es ihnen nur in dem Augenblick nützen, da sie diese Beschäftigung vor Augen haben, doch eine Stunde danach fürchten sie sich, sich getäuscht zu haben.» 

Auf direktem Weg kann die Vernunft den Menschen nicht zum Glauben bewegen. Wer ohnehin glaubt, der mag in den traditionellen Gottesbeweisen vernunftgemässe Wege zu seinem Standpunkt sehen. Für den Ungläubigen kann die Vernunft die unendliche Schlucht zum Glauben aber höchstens für einen flüchtigen Augenblick überbrücken. Denn für jede Annahme will das von Skepsis erfüllte Herz eine Begründung; und jede Begründung bringt wiederum Annahmen ins Spiel, die der Skeptiker als begründungsbedürftig brandmarken wird. Die kalte Vernunft kann die Zweifel nie ausräumen und das Herz niemals so entflammen, wie dies der lebendige Gott für Pascal tat. 

Der direkte Pfad von der Vernunft zum Glauben ist also versperrt. Pascal aber ist sicher, einen gangbaren Umweg entdeckt zu haben. Dieser führt zunächst über die Einsicht der Vernunft in ihre eigenen Grenzen: Sie muss anerkennen, dass sie beim Phänomen des Glaubens an ihr Ende kommt. Angesichts ihrer selbsterkannten Limitation wäre es gerade ein Zeichen der Unvernunft, wenn sie sich auf Dinge ausweiten würde, «die über sie hinausgehen». Es ist daher irrational, zu denken, dass der Glaube irrational sei. 


Alles gewinnen, nichts verlieren


Damit ist natürlich noch nicht gesagt, dass der Glaube auch tatsächlich Träger einer tieferen, vernunftüberschreitenden Wahrheit sei. Doch diese Frage lässt sich allein mit Vernunftgründen nicht entscheiden. Und doch muss jeder Mensch eine Entscheidung treffen. Denn auch wenn der Glaubensinhalt für den Ungläubigen nur eine äussere Realität ist, die ihm allein durch fremdes Zeugnis verbürgt ist, so ist der Glaube doch eine Realität. Die Weigerung, eine Entscheidung zu treffen, ist daher faktisch eine Entscheidung gegen den Glauben. Die Wahl zwischen Glauben und Unglauben ist aber nicht irgendeine, sondern die wohl wichtigste Wahl eines jeden Lebens, Schliesslich winkt die ewige Seligkeit, und es droht die ewige Verdammnis. Wir müssen uns also entscheiden, können aber nicht wissen. So bleibt uns nach Pascal eben nur das Wetten. Hinsichtlich der allesentscheidenden Frage unseres Lebens gibt es keine vernunftbasierte Gewissheit. Jeder von uns muss wetten, ob er will oder nicht. So ist die existenzielle Grundsituation des Menschen. An dieser Stelle nun erhält die von Pascal im Austausch mit Pierre de Fermat begründete Wahrscheinlichkeitstheorie ihren Eingang in die Philosophie: Wo es keine Gewissheiten gibt, aber entschieden werden muss, dort muss der Mensch eben bei der Wahrscheinlichkeit Zuflucht suchen. 


Eine Chance für das Seelenheil 


Wahrscheinlichkeitstheoretisch betrachtet ist der Fall überraschend klar: Wenn wir uns für den Glauben entscheiden, können wir alles gewinnen, aber nichts verlieren. Wenn wir uns aber für den Unglauben entscheiden, können wir alles verlieren, aber nichts gewinnen. Hat der Ungläubige recht, so ist mit dem Tod Schluss, ohne dass etwas gewonnen wäre; hat er aber unrecht, so hat er die ewige Seligkeit verspielt und sich selbst zu ewiger Verdammnis verurteilt. 

Im Falle jedoch, dass der Gläubige recht hat, wird er mit einem «ewigen glücklichen Leben» belohnt. Irrt der Gläubige sich, so hat er nicht mehr verloren als der Ungläubige, nämlich sein endliches Leben. Für beide - den Gläubigen wie den Ungläubigen - ist in diesem Szenario mit dem Tod der letzte Vorhang gefallen. Wer übrigens meint, der Ungläubige sei im letztgenannten Fall besser dran, weil er sich wenigstens nicht gegen die Vernunft versündigt habe, der hat bereits vergessen, dass der Glaube gar nicht von uns verlangt, unvernünftig zu sein. Er verbittet sich im Gegenteil lediglich die unvernünftige Expansion der Vernunft in sie übersteigende Gefilde. 

Es ist daher zwar keine Frage der Vernunft, ob man gläubig sein sollte, dafür aber eine Frage der Klugheit. Der Begriff der Klugheit meint hier nicht das Vermögen, die passendsten Mittel für x-beliebige Zwecke zu finden, sondern die Fähigkeit, zu erkennen, was zum Gelingen des eigenen Lebens im Ganzen beiträgt. Sich am Glauben zu orientieren bedeutet mit Pascal, seinem ewigen Seelenheil überhaupt eine Chance zu geben. Wer sich dagegen am Unglauben orientiert, schliesst sich selbst ohne Not von der Möglichkeit des ewigen Glücks aus. Nun wird man vielleicht einwenden, dass es zwar einerseits möglich sei, aus Klugheitsgründen eine bestimmte Entscheidung zu fällen oder eine bestimmte Handlung auszuführen, es aber andererseits unmöglich sei, an etwas zu glauben, bloss weil es klug ist. Selbst wer zugesteht, dass es besser für ihn wäre, wenn er gläubig wäre, wird allein dadurch noch nicht wirklich glauben. Glauben ist einfach keine Sache der Entscheidung. 


Das Wagnis der Suche 


Recht besehen, kann uns daher auch die Klugheit nicht direkt zum Glauben führen, sondern nur dazu, das Wagnis der Suche nach dem Glauben auf uns zu nehmen. «Um der wahrscheinlichen Aussichten willen müsst Ihr Euch Mühe machen, die Wahrheit zu suchen», schreibt dazu Pascal. Wenn wir klug sind, dann werden wir mit höchster Sorgfalt prüfen, ob es nicht eine reale Möglichkeit unseres Lebens darstellt, irgendwie in die Wahrheit des Glaubens hinein zu gelangen. 

Wie aber soll diese Prüfung ablaufen? Mit rein theoretischen Mitteln scheinen wir ja nicht weiterzukommen. Es ist, als höre der Ungläubige es über den Abgrund hinweg rufen: «Komm rüber auf meine Seite des Grabens, betrachte die Dinge aus meiner Perspektive, dann wirst du schon sehen!», und als wolle er nun auch wirklich hinüber, ohne aber zu wissen, wie er dies bewerkstelligen soll. Ganz in diesem Sinn lässt Pascal den zum Glauben bereiten, aber dazu unfähigen Ungläubigen fragen: «Ich bin so beschaffen, dass ich nicht glauben kann. Was soll ich also nach Eurer Meinung tun?» 

Die Antwort Pascals ist verblüffend: Wer einsieht, dass es besser für ihn wäre, zu glauben, aber nicht glauben kann, der soll einfach all das tun, was gläubige Menschen tun: beten, Weihwasser gebrauchen, in die heilige Messe gehen und so weiter. Kurz: Man soll so tun, als ob man glaubte, bis man es wirklich tut, Der falsche Verdacht, es gehe hier um kognitiven Selbstbetrug - eine selbstinduzierte Gehirnwäsche -, verschwindet,vwenn man bedenkt, dass der Glaube eine Tugend ist. 

Tugendhaft werden wir aber nicht durch eine theoretische Einsicht, sondern durch praktische Übung. Wer beispielsweise noch nicht tapfer ist, wird es nicht dadurch, dass er Bücher über die Tapferkeit liest, sondern indem er die Handlungen des Tapferen nachahmt. Wie jede andere Tugend will auch der Glaube gelernt sein. Für die Halbgläubigen und die glaubenswilligen Ungläubigen heisst das: Der Weg zum Glauben führt über die religiöse Praxis. 

Der Glaube ist nun aber eine aussergewöhnliche Tugend, insofern bei ihr «Verstand und Wille des Menschen mit der göttlichen Gnade zusammenwirken», wie es im Katechismus der Katholischen Kirche heisst. Der Glaube ist immer auch ein Gnadengeschenk Gottes und nichts, was der Mensch erzwingen könnte. Allerdings muss auch der Mensch seinen Beitrag leisten: Er muss seine Verstocktheit aufgeben, sich für die Möglichkeit der Gnade in seinem Innersten öffnen. 

Man muss sich, so Pascal, insbesondere «durch Demütigungen für die [göttlichen] Eingebungen empfänglich machen; die allein die wahre und heilsame Wirkung herbeibringen können». Aber was, wenn sich nach all diesen Mühen der Glaube doch nicht einstellen will? Was, wenn ich mein stolzes Ego umsonst gedemütigt habe? Selbst dann, so lautet Pascals Antwort, ist Bedeutendes gewonnen: «Ihr werdet getreu, redlich. demütig, dankbar, wohltätig, ein aufrichtiger, wahrer Freund sein... Freilich werdet Ihr ohne vergiftete Freuden sein ohne Ruhm und Vergnügungen doch habt Ihr dafür nicht andere Freuden?» 

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Sebastian Ostritsch ist Philosoph und lehrt Philosophie am Institut der Universität Stuttgart



 

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